Die Graphic Novel »Unsichtbare Hände«

Kein anderes Leben ist möglich

Der finnische Autor Ville Tietäväinen erzählt in seiner Graphic Novel »Unsichtbare Hände« vom Schicksal eines marokkanischen Flüchtlings, der sich auf den Weg in eine bessere Zukunft begeben will. Sein Schicksal teilen viele.

Fünf Jahre lang sollte den finnischen Autor und Illustrator Ville Tietäväinen beschäftigen, was 2005 als Recherchereise begann. Zusammen mit dem Sozialanthropologen Marko Juntunen machte sich Tietäväinen damals auf den Weg nach Südspanien und Marokko, um dort mit Flüchtlingen, Schwarzarbeitern, Grenzbeamten und Menschenhändlern zu sprechen. Über das Leid der Flüchtlinge verfassten sie Artikel für finnische Zeitungen, bis Tietäväinen seine Erfahrungen schließlich zur Grundlage einer Erzählung machte.
Die Idee, sich mit dem Schicksal marokkanischer Migranten zu beschäftigen, war Tietäväinen einige Jahre zuvor in Paris gekommen. In der Nähe der Opéra National, einer Gegend, in der sich schicke Boutiquen aneinanderreihen, wurde er Zeuge einer Szene, die ihn nicht mehr losließ. »Da stand ein nordafrikanisch aussehender Mann mit zerschlissener Anzugjacke vor einem Schaufenster und warf Klebefiguren, billiges Plastikspielzeug mit Saugnäpfen, an das Glas«, erzählt der 43jährige. »Er wurde schnell von dem Inhaber des Geschäfts verjagt. Mit einem Gesicht, das keine Regung verriet, schlurfte er zum nächsten Schaufenster und machte einfach weiter.«
Immer wieder musste er an das Erlebnis denken. Was mochte den Mann in diese Lebensumstände gebracht haben? »Unsichtbare Hände«, Tietäväinens fiktionale, aber auf Fakten beruhende Graphic Novel lässt sich als Versuch verstehen, die Geschichte dieses Mannes zu erzählen. Bei Tietäväinen heißt er Rashid und handelt mit Klebefiguren – allerdings nicht in Paris, sondern in Barcelona. Eine lange Odyssee hat ihn hierher geführt.
Rashid lebt mit seiner Familie als Schneidergehilfe in Tanger und versucht, seine Eltern, Ehefrau und seine Tochter zu ernähren. Als er schließlich seinen Job verliert, will er sein Glück in Europa suchen. Gemeinsam mit zwei Freunden besteigt er ein Schlauchboot, um im Schutz der Nacht die Straße von Gibraltar zu überqueren. Patrouillen der europäischen Grenzsicherungsbehörden drängen die Nussschale ab, einer ertrinkt, ein anderer zieht sich eine tödliche Kopfverletzung zu – einzig Rashid überlebt die Überfahrt. Die Schlepper verlangen 2 500 Euro von ihm, was für Rashid einem Verdienst von zwei Jahren entspricht. Wie Tausende andere illegale Einwanderer ist auch Rashid gezwungen, auf den Treibhausplantagen in Almería unter grauenhaften Bedingungen zu schuften. Erst nach mehr als einem Jahr gelingt es ihm, die Gewächshausfelder hinter sich zu lassen, und er versucht, als Straßenverkäufer, Drogenhändler und schließlich als Straßenkünstler zu überleben.
Zurückhaltend, aber in düsteren, ausdrucksstarken Bildern folgt die Erzählung der Odyssee des Familienvaters. Tietäväinen zeichnet den persönlichen Lebensweg des jungen Mannes auf bedrückende Weise nach und erzählt so auch eine Geschichte des politischen Scheiterns. Denn Rashid ist kein Einzelfall, das europäische Grenzregime ist menschenverachtend und hat in den vergangenen Jahren Leid und Tod verursacht. Tietäväinens Geschichte vermag die verschüttete Fähigkeit zur Empathie für einen Moment wieder zum Leben zu erwecken – und sei es nur angesichts einer literarischen Figur. »Ein Aspekt, den ich in ›Unsichtbare Hände‹ aufzeige, ist, welche verheerende Wirkung die EU-Wirtschaftspolitik auf die afrikanischen Länder hat und wie sie die Menschen zum Auswandern zwingt. Es ist ein unglückseliger Kreislauf, für den die EU mitverantwortlich ist«, sagt Tietäväinen.
Sämtliche Figuren, die einem auf den mehr als 200 großformatigen Seiten von »Unsichtbare Hände« begegnen, sind mit viel Liebe zum Detail ausgestaltet worden. Einer von vielen, die Rashid auf seinem Weg kennenlernt, ist der junge Ely aus Mauretanien. Das Treffen ist kurz und reicht doch aus, um sich im anderen wiederzuerkennen und Freundschaft zu schließen. Zum Abschied werden Geschenke ausgetauscht: Raschid erhält einen Walkman mit einer Kassette, die Ely am Flughafen einer Kanarischen Insel gefunden hat; Rashid revanchiert sich mit einem selbstgenähten Fußball. Es sei das Wertvollste, das er je besessen habe, sagt Ely. Erst als er aus ihrem gemeinsamen Versteck unter dem Boden eines Lastwagens aussteigt, sehen wir, dass Ely ein Bein fehlt und er auf Krücken angewiesen ist.
Die Symbolhaftigkeit der Szene ist offensichtlich. Wer jedoch genauer hinsieht, erkennt, dass auch andere Motive der Geschichte eine tiefere Bedeutung haben. Etwa die Kassette im Walkman, deren Lieder erst Ely und später Rashid lauthals mitsingt, obwohl sie die Texte nicht verstehen: Sie ist eine Art Best of des finnischen Schlagersängers Jamppa Tuominen, dessen Geschichte selbst einen Roman wert wäre. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war der aus dem nordfinnischen Oulu kommende Tuominen mit den oft schnulzigen Liedern, die er sang, sehr erfolgreich. In seinem Herkunftsland verkaufte er eineinhalb Mal so viele Alben wie Michael Jackson und mehr als doppelt so viele wie Robbie Williams. Doch sein Absturz folgte bald, der Alkohol trug das Seine dazu bei. In den Neunzigern fand Tuominen sich auf den Kanaren wieder, wo er in Ferienclubs für finnische Touristen sang. Irgendwann kam er sogar in Untersuchungshaft, weil er sich einem Kind auf unsittliche Weise genähert haben soll, was er aber bestritt. Im November 1998, als er gerade auf seinen Prozess wartete, wurde er in seinem Hotelzimmer tot aufgefunden. »Innere Blutungen« stand auf dem Totenschein – wahrscheinlich nur, weil Hoffnungslosigkeit keine anerkannte Todesursache ist.
So parteiisch Tietäväinen in seiner Darstellung der handelnden Personen auch ist, er hütet sich vor einseitigen Schuldzuweisungen und einfachen Erklärungen. Für fast jede Figur gibt es einen Widerpart. Dem rassistischen Polizisten steht der hilfsbereite Fernfahrer gegenüber, der Rashid als blinden Passagier mitreisen lässt. Den bärtigen Salafisten, die unter den Wanderarbeitern Nachwuchs zu rekrutieren suchen, stellt Tietäväinen die Gestalt eines gealterten Professors entgegen, der den islamischen Glauben inbrünstig, aber selbstkritisch praktiziert.
»Unsichtbare Hände« wurde in Finnland von der Kritik gefeiert und erhielt 2011 den Finnish Cultural Foundation Award, den bedeutendsten Kulturpreis des Landes. Er habe eine »glaubwürdige, berührende, dramatische Erzählung aus der Sicht eines undokumentierten Migranten« schaffen wollen, sagt Tietäväinen. Es ist ihm gelungen.

Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände. Aus dem Finnischen von Alexandra Stang. Avant-Verlag, Berlin 2014, 216 Seiten, 34,95 Euro