Müde Märtyrer

Es sind nur wenige Polizisten am Wahlsonntag auf den heißen, ruhigen Straßen Odessas unterwegs, der »Perle des Schwarzen Meeres«. Wenig deutet darauf hin, dass hier am 2. Mai 40 Menschen im brennenden Gewerkschaftshaus starben. Auf dem Dach des Gebäudes weht heute eine rote Fahne. Um das Haus herum findet eine Prozession statt. Ältere Frauen tragen Kruzifixe und singen Ostergesänge. Angeleitet werden sie von einem Mann mit langem Bart, der eine Ikone des »heiligen majestätischen Märtyrers« Nikolaus des Zweiten trägt, der von russischen Monarchisten angebetet wird. Vor dem Gebäude trauern 300 bis 400 prorussische Demonstranten um ihre ermordeten Kameraden. Ein Redner sagt: »Die Ermittlungen werden die Wahrheit aufklären, unser Gedächtnis wird aber für immer von einem Bild geprägt sein: Faschisten mit ukrainischen Fahnen verbrannten zum Klang der ukrainischen Hymne Russen.« Die Frage, was am 2. Mai wirklich geschehen ist, beschäftigt auch den prowestlichen Teil der Stadtbewohner. Die Menschen fühlen sich moralisch zerschlagen, haben wenig Kraft, sich weiter für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine siegt Pjotr Poroschenko. Interessanter sind die gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahlen. In Odessa standen sich der ehemalige Bürgermeister Eduard Gurwits und der mit der Mafia verbundene Gennady Trukhanow gegenüber. Beide Seiten beanspruchen den Sieg für sich und werfen sich gegenseitig Wahlbetrug vor. Im Wahllokal, in dem ich als Mitglied eines internationalen Wahlbeobachtungsteams tätig bin, wählen viele alte Menschen, vor allem Frauen. Zwei Senioren kommen mit sowjetischen Pässen – »Bürger« eines Staates, den es schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gibt, wollen über die Zukunft der Ukraine entscheiden. Die einzige Rechtsverletzung, die wir feststellen, ist der Diebstahl eines Kugelschreibers aus einer Kabine.