Das neue Album von Maria Minerva

Was hört die da nur?

Maria Minerva kommt aus Estland, ist Feministin und Fan von Paula Abdul: Gerade ist mit »Histrionic« ihr neues Album erschienen.

Man muss die Kultur beim Wort nehmen, so wie sie uns in ihr Wort nimmt, in ihre Sprache. Ihr versteht, warum ich meine, dass eine politische Reflexion nicht ohne eine Reflexion der Sprache stattfinden kann, nicht ohne eine Beschäftigung mit der Sprache.« Diese Zeilen stammen aus »Die unendliche Zirkulation des Begehrens«, einem 1977 veröffentlichten Buch der poststrukturalistisch-feministischen Autorin Hélène Cixous. An sie erinnerte »Cabaret Cixous«, das vor drei Jahren erschienene Debüt-Album der 1988 im estnischen Tallinn als Maria Juur geborenen Künstlerin, die sich Maria Minerva nennt und nach den Stationen Lissabon und London derzeit ihren Umzug von Brooklyn nach Los Angeles vorbereitet. Das Cabaret im Albumtitel steht für Cabaret Voltaire, die Electro-Industrial-Band aus der ehemaligen Stahlstadt Sheffield, die sich Ende der siebziger Jahre ihrerseits nach dem Zürcher Cabaret Voltaire benannte, dem Geburtsort des Dadaismus. Für das Debüt einer 23jährigen legte der Titel also reichlich Fährten.
Heute bestätigt Maria Minerva im Skype-Interview, dass kaum eine Woche vergeht, in der sie nicht Cabaret Voltaire hört. Oder Chris & Cosey – ein Duo, bestehend aus Chris Carter und Cosey Fanni Tutti, zwei Mitgliedern der britischen Industrial-Pioniere Throbbing Gristle. Und dass sie sich als Feministin in der Tradition von Hélène Cixous sieht, aber auch ganz lebenspraktisch: »Ich habe gerade Probleme mit meinem Fahrlehrer, einer dieser amerikanischen Machos. Oder die Soundtypen bei einer Show, die fragen immer nur die Männer. Ich praktiziere eine Art optimistischen Feminismus, gehe also erstmal davon aus, dass die Leute auf meiner Seite stehen, um dann häufig feststellen zu müssen, dass sie das nicht tun.«
Maria Minerva beruft sich auf Quellen, die ein knappes Jahrzehnt vor ihrer Geburt auf dem Höhepunkt ihrer Wirkung und öffentlichen Aufmerksamkeit waren – in einem Westen, der von ihrem Herkunftsland durch den Eisernen Vorhang getrennt war. Auf der Zeitachse ist das ungefähr so, als hätten die Beatles 1966 sich auf, sagen wir, Bessie Smith, Benny Goodman und Sigmund Freud bezogen. »Die Musik von Cabaret Voltaire und Chris & Cosey war ihrer Zeit einfach weit voraus«, antwortet Minerva auf die Frage, ob es nicht merkwürdig sei, 2014 Musik zu hören, die lange vor der eigenen Geburt entstanden ist. Da hat sie Recht, merkwürdig kann das nur jemandem vorkommen, dessen Leben nicht von Atemporalität, Nomadentum und Mehrsprachigkeit geprägt ist.
»Statistisch ist Estland das am weitesten entwickelte Land des ehemaligen Ostblocks. Als ich aufgewachsen bin, war es ein freies Land und die üble Zeit in den Neunzigern mit der Mafia habe ich nicht bewusst erlebt. Für mich ist Estland auch nicht so sehr Osten, unsere Sprache hat mehr Gemeinsamkeiten mit Finnisch als mit den slawischen Sprachen. Wir haben uns immer mehr an den USA oder Deutschland orientiert.« Auch Deutsch hat sie gelernt, will es aber nicht mehr sprechen. Mit »Hingede öö« gibt es auf »Histrionic«, dem neuen Album, einen Track in estnischer Sprache. Es ist der Titel eines Romans von Karl Ristikivi, der in etwa »Nacht der Seelen« bedeutet. Auch wenn man das weiß, verfliegen die Worte, nie fügen sie sich zu einem dechiffrierbaren Sinn zusammen, vielmehr entsteht ein flirrender vokaler Sog aus übereinandergeschichteten, einander ins Wort fallenden Minervas. Nach eineinhalb Minuten kommen Stimmen dazu, die man im afroamerikanisch-männlichen HipHop verorten möchte, es entstehen Fliehkräfte wie einst bei den rasenden Zentrifugen auf dem Rummelplatz, der Kopf schwirrt, angenehm. Von Song zu Song setzt Minerva ihre Stimme anders ein, mal klar und weit vorn im Mix, mal verhuscht, versteckt hinter einem Vorhang, dann wieder ist sie die multiple Maria.
Welches Konzept verfolgt sie mit ihrer Stimme? »Wenn ich einen Track mache, habe ich eine Vision, wie sie klingen sollte. Diesmal wollte ich meine Singstimme in den Vordergrund stellen, von den hazy vocals habe ich schon genug gemacht.« Benebelt, diesig, dunstig, unscharf – diese Übersetzungen bietet das Wörterbuch für »hazy« an. Alles Adjektive, die auf die Beschaffenheit und Gestaltung von Stimmen im allergrößten Teil der interessanteren Popmusik der vergangenen Jahre zutreffen. Die Hazyfizierung der Stimmen war das Resultat einer verbreiteten Skepsis gegenüber identitären Subjektkonstruktionen, die vor allem die Rockmusik über Jahrzehnte dominierten, exemplarisch verkörpert von der immer lächerlicher wirkenden Figur des sogenannten Frontmanns, der aus dem Grunde seines Herzens und aus den Tiefen seiner Hose herausschreit, was mit ihm los ist: »I’m a man, and I can’t help but love you so«, oder, die sentimentale Variante: »I’m a man of constant sorrow«. Man muss nicht Poststrukturalismus studiert haben, um den hier lauernden Essentialismus zu unterlaufen, so weit waren Velvet Underground schon vor 48 Jahren. Wenn allerdings Maria Minerva der Meinung ist, sie habe schon genug hazy vocals gemacht, dann gilt diese Beobachtung möglicherweise nicht nur für sie, sondern auch für verwandte Künstler im weiten Feld zwischen den Genres Hauntologie und Hypnagogie.
Groß ist die Versuchung, Maria Minervas Schritt hin zur Singstimme in Verbindung zu bringen mit biographischen Veränderungen, die sie derzeit erlebt: von der dauernd reisenden Tourmusikerin ohne festen Freund und Wohnsitz zur sesshaften New Yorkerin. »Ich bin zu einer Person geworden in den vergangenen zwei Jahren in New York, zu einem sozialen Wesen. Ich hatte vier chaotische Jahre und jetzt will ich mich niederlassen. Ich habe einen boyfriend, was früher nicht ging, weil ich immer unterwegs war. Ich weiß, was ich will, und suche nicht ständig die Aufmerksamkeit anderer, wie es histrionic Frauen tun.«
Der Albumtitel »Histrionic« steht für theatralisch oder pathetisch, für Minerva »markiert er eine Generation von – nicht nur – Frauen, die so behütet waren, die keine Katastrophen erlebt haben. Sie suchen Aufmerksamkeit und Bestätigung von anderen, viele können nicht allein sein. Ich habe erst später festgestellt, dass Dean Blunt sein Album ›The Narcissist‹ genannt hat. Narzissmus bezieht sich mehr auf Männer, komisch, dass wir beide fast gleichzeitig Platten herausbringen, die von zu viel Ich-Bezogenheit handeln.«
Wie Blunts »Narcissist« hat Minervas »Histrionic« eine so reizvolle wie rätselhafte Flüchtigkeit, Vagheit, Ungreifbarkeit. Woher kommt diese Musik? Da sind wir wieder bei Minervas globalisierter Existenz: Atemporalität, Nomadentum, Mehrsprachigkeit. Das auffälligste Sample des Albums stammt aus »Just Be Good to Me«, dem ganz und gar unfeministischen Hit der S. O. S Band von 1983. Warum verwendet sie in »Spirit of the Underground« einen Song auf so markante Weise, der fünf Jahre vor ihrer Geburt erschienen ist? »Oh, du bist der Erste, der das erkannt hat, ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass das jemand anspricht. S. O. S. Band, die haben’s einfach drauf, ich habe dieses Lied mein ganzes Leben lang gehört. Ich kenne es aus der Plattensammlung meines Vaters. Er hatte noch zu Sowjetzeiten eine riesige Plattensammlung, das Vinyl hatte er sich auf verschlungenen Wegen besorgt, schon in den Siebzigern in einem kleinen Ort in Estland. Er war Comedian beim Radio, inzwischen hat er zwei Fernsehshows. Er bekam jede Woche zehn CDs zugeschickt und wir haben sie zusammen gehört. Im vergangenen Jahr habe ich ›Just Be Good to Me‹ bei einem Freund im Autoradio gehört, ein Sender mit altem Funk und Soul und ich sagte, das muss ich unbedingt samplen.«
Ob sie auch neue Musik höre? »Gerade Schoolboy Q, ich suche mir immer ein Album. Das höre ich die ganze Zeit, vor Schoolboy Q hörte ich Paula Abduls Greatest Hits.«
Maria Minerva, 1988 in Tallinn geboren, hört 2014 in Brooklyn den Rapper Schoolboy Q, 1986 in Wiesbaden geboren, als Sohn eines GI. Und hört 2014 Paula Abdul. Wenn man Abdul Ende der Achtziger erlebt hat, dann wüsste man zu gern, was Maria Minerva da heute hört. Ob sie der temporären Ersatz-Madonna mit ihrem trashigen Stretch-Mini-Look Qualitäten abgewinnt, die wir – Ungnade der frühen Geburt – gar nicht hören können? Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Zeitalter der offenen Archive: Um Minervas Musik zu verstehen, muss man diesen postanalogen, postlinearen state of mind kapieren. Hélène Cixous wusste das. »Man muss die Kultur beim Wort nehmen.«

Maria Minerva: Histrionic (Not Not Fun/Boomkat)