Die Proteste nach dem Grubenunglück in der Türkei

Wer anderen eine Grube gräbt

Die Proteste gegen die AKP-Regierung in der Türkei gehen nach dem Grubenunglück von Soma weiter. Die wachsende Wut führt zu Ausschreitungen mit bislang zwei Toten.

Zunächst waren es nur eine Handvoll Demonstrierende. Etwa 15 Jugendliche der unbekannten politischen Gruppe »Revolutionäre Gymnasiasten« protestierten am Morgen des 22. Mai im Istanbuler Stadtteil Okmeydanı. Sie machten die Regierungspolitik der islamisch-konservativen »Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt« (AKP) für den Tod des am 11. März in einem Istanbuler Krankenhaus verstorbenen 15jährigen Berkin Elvan (Jungle World 12/2014) verantwortlich. Aber auch die Opfer des Grubenunglücks von Mitte Mai in Soma hat nach Ansicht der Demonstrierenden die AKP zu verantworten. Die Jugendlichen setzten ein gepanzertes Polizeifahrzeug in Brand, nachdem die Polizei Tränengas eingesetzt hatte. Die Sicherheitskräfte begannen mit scharfer Munition zu schießen, die Situation eskalierte. Es habe sich um Warnschüsse gehandelt, hieß es später. Doch ein Querschläger traf einen unbeteiligten Straßenfeger der Stadtverwaltung Beyo­ğlu, Uğur Kurt, am Kopf. Massen von Menschen strömten daraufhin den ganzen Tag lang nach Okmeydanı und demonstrierten mit unverholener Wut. In der Nacht kam es wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen. Demonstrierende warfen Sprengsätze, sechs Beamte und zwei Passanten wurden dabei verletzt, einer davon starb später. Auch Kurt erlag in der Nacht seinen Verletzungen.

Ein Jahr nach den Protesten um den Gezi-Park ist die Stimmung angespannt, viele Menschen sind desillusioniert, andere glauben, nun zurückschlagen zu müssen. Der Politikwissenschaftler Murat Özbank von der Istanbuler Bilgi-Universität ist Autor des Buches »Politische Theorie und die Seele der Gezi-Proteste«. In einem Interview mit der Wochenzeitung Şalom stellte er vergangene Woche fest, dass die Gezi-Proteste Folge eines spon­tanen Zusammenschlusses unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Gruppen gegen die widersprüchliche Politik der AKP gewesen seien. Was momentan passiert, sei die erneute Ausdifferenzierung der unterschiedlichen politischen Meinungen innerhalb des zivilen Widerstandes gegen die AKP: In den Stadtteilforen diskutieren die gemäßigten Akteure über politische Strategien angesichts der anstehenden Präsidentschaftswahlen im August. Die »antikapitalistischen Muslime«, eine oppositionelle Gruppe innerhalb der islamischen Bewegung, sind in den sozialen Medien sehr aktiv und verbreiten Koransuren, die die Korruption und die Ausbeutung der Arbeiter als unislamisch kritisieren. Einige jüngere, sich momentan radikalisierende Aktivisten stammen aus der Solidaritätsbewegung für die vielen inhaftierten Studierenden und Mitglieder linksradikaler und kurdischer Gruppen.

In Vierteln wie Okmeydanı treffen mehrere Entwicklungen aufeinander. Nahe der Innenstadt gelegen, ist auch Okmeydanı mittlerweile von Gentrifizierung betroffen. Die in den neunziger Jahren dort gebauten illegalen, billigen Häuser werden abgerissen und durch oberflächlich modern aussehende, billige Apartmenthäuser ersetzt. Profiteure der Baupolitik sind der AKP nahestehende Unternehmer, da die AKP-Stadteilverwaltung die Baugenehmigungen erteilt. Viele der dort lebenden Kurden und Aleviten sympathisieren mit prokurdischen und linksradikalen Gruppen und gehören keinesfalls zu den Begünstigten der islamisch-konservativen Politik. Zwischen ihnen und den vermehrt zuziehenden AKP-Anhängern besteht ein sozial wie ideologisch begründeter Konflikt.
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan stammt aus dem Nachbarstadtteil Kasımpaşa und hat dort durch patronagehafte infrastrukturelle Maßnahmen, wie den Bau eines großen Fußballstadions, seine Anhängerschaft über Jahre hinweg gefestigt. Auch wenn die AKP bisher ihre Jugendorganisationen zu Disziplin und parteiinternen Aktivitäten aufruft, gibt es auch dort genügend Gewaltbereitschaft. Bei den jüngsten Ausschreitungen in Okmeydanı kam es zu Scharmützeln zwischen Oppositionellen und AKP-Anhängern. Letztere operieren oft gar als Teil der Trupps ziviler Hilfspolizisten, die bei jeder Demonstration zuschlagen.
Die sozialen Medien dienen Oppositionellen wie Regierungsanhängern als Multiplikatoren. Die AKP unterhält eine ganze Abteilung für Propaganda, viele Politiker sind im Gegenzug zu den immer wieder durchgesetzten Twitter-Blockaden eifrige Twitter-Nutzer. Am 22. Mai wurde der Konflikt in Okmeydanı durch Provokationen islamisch-konservativer Funktionäre auf Twitter zusätzlich angeheizt. Der Leiter des für humanitäre Einsätze verantwortlichen »Roten Halbmondes« in Istanbul, İlhami Yıldırım, twitterte sogar, das Land dürfe nicht Molotow-Cocktails werfenden Hooligans überlassen werden. »Wir haben dieses Land nicht mit Gewalt, sondern mit zerissenen Schuhen und aufopferungsbereiten Frauen erobert«, fabulierte Yıldırım weiter, um schließ­lisch wüste Drohungen zu verbreiten: »Ihr lebt entweder still und leise wie die Esel in diesem Land oder ihr werdet hinausgeworfen und verschwindet von hier!« Es ist diese Menschenverachtung, die die Menschen in der Türkei auf die Barrikaden treibt.
Yıldırım ist der jüngere Bruder des im Rahmen der Korruptionsvorwürfe gegen AKP-Minister im Dezember zurückgetretenen ehemaligen Verkehrs­ministers Binali Yıldırım. Angesichts der Korruptionsaffären wirkt das stets bemühte Bild der gottesfürchtigen Kämpfer für die gerechte Sache der Unterpriviligierten mittlerweile wie eine Farce. »Wir konnten Uğur Kurt nicht retten«, schrieb Istanbuls Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu vergangene Woche am Donnerstagabend auf Twitter. Der stellvertretende türkische Regierungschef Bülent Arinç unterstrich, es werde genau untersucht werden, ob es sich bei der tödlichen Kugel um ein Geschoss aus einer Polizeiwaffe handle. »Und dann?« wurde auf Twitter gespottet. »Dann wird deren Unschuld aufgrund einer Notwehrsituation festgestellt.«

Das Grubenunglück von Soma hat die Regierung noch einmal bloßgestellt. Am meisten hat sie selbst dazu beigetragen. Viele Überlebende der Katastrophe, bei der 301 Bergleute starben, sagten vergangene Woche in den türkischen Medien, dass sie früher AKP-Anhänger gewesen seien. Doch nachdem Erdoğan am Tag der Beerdigung der ersten 200 tot geborgenen Bergleute den Angehörigen Standhaftigkeit empfohlen hatte, da Grubenunglücke ein weltweites Schicksal seien, sei das Maß voll gewesen.
Nach und nach werden immer mehr Ungeheuerlichkeiten bekannt. Nachdem die Opposition bereits im April vehement Kontrollen im Bergwerk gefordert hatte, kamen Kontrolleure des Energieministeriums kurz vor dem Unglück zu dem Schluss, dass die Mine internationalen Sicherheitsstandards entspreche. Schon das fehlen eines Schutzraums, der die Arbeiter hätte retten können, straft diese Feststellung Lügen. Steigende Methangaswerte seien absichtlich ignoriert worden, um die Arbeit nicht einstellen zu müssen, hatten Arbeiter berichtet. Am 23. April wurde bekannt, dass sogar entsprechende Messergebnisse vorlagen, die das Ministerium einfach ignoriert hatte. Die Ereignisse verschärfen die Spannungen vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen, bei denen Erdoğan seine Macht noch ausbauen will. Ein heißer Sommer scheint unvermeidlich.