Kunst und Kultur in der Türkei ein Jahr nach den Gezi-Protesten

Abseits öffentlicher Orte

Am ersten Jahrestag der Gezi-Proteste protestierten in Istanbul und Ankara Hunderte Menschen gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Politik. Doch die türkische Opposition ist keineswegs geeint. Obgleich kulturelle Institutionen sich mit den jüngsten Geschehnissen in der Türkei beschäftigen, meiden viele Künstler die Öffentlichkeit.

Die Galerie liegt auf der Tarlabaşı ganz in der Nähe des Taksim-Platzes. Die ersten Spuren der Gentrifizierung sind hier bereits zu sehen. Zwei renovierte Altbauten locken Touristen als »Taksim Residenncies«. Eine Bettlerin, sie spricht schlechtes Arabisch und gibt sich als Syrerin aus, hockt mit zwei kleinen Kindern auf der Straße und bittet um Almosen. Niemand beachtet sie. An der Front der Piramid-Galerie prankt eine Fahne des Istanbuler Fussballclubs Fenerbahçe. Fenerbahçe steht für ein elitäres Viertel auf der asiatischen Seite Istanbuls, wo sich die Vorsitzenden des Sportclubs wegen Wettskandalen vor Gericht verantworten müssen. Nicht, dass sie die einzigen wären, die betrügen. Neu ist nur, dass ihre modernistische Fassade sie nicht mehr vor Strafverfolgung schützt. Auch die sich immer wieder schamlos auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk berufenden Putschisten haben sich wenig um das Wohl des Volkes geschert. Schon immer plünderte die Staatselite in der Türkei das Land aus, baute sich Paläste und trank Wein, während sie öffentlich Wasser und Entbehrung predigte.
Im Eingang der Galerie steht ein üppiges Blumengesteck mit Glückwünschen von Kemal Kılıçdaroğlu, dem Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP). »Ein Jahr nach Gezi« ist das Thema der Ausstellung, ein blöder Titel einer überflüssigen Veranstaltung. Das Besondere an den Gezi-Protesten war gerade ihre Unvereinbarkeit mit Ideologien, Floskeln und einfachen Wahrheiten. Fotos von den Protesten, sozialistisch-realistisch anmutende Malerei und andere Plattheiten repräsentieren nichts anderes als ihre eigene Überlebtheit. Leider verkörpern sie auch den desolaten Zustand der institutionalisierten türkischen Opposition.
Die Tarlabaşı ist ein Stadtteil, in dem vor hundert Jahren vor allem die nicht muslimischen Minderheiten, Griechen, Armenier und Juden gelebt haben. Die Einwohner hatten vielfach prosperierende Geschäfte auf dem Istiklal Boulevard, der vom Taksim-Platz aus das Ausgeh-Viertel Beyoğlu teilt. Die Altbauten auf der Tarlabaşı schmücken Erker und hübsche Balkone. Doch ein Viertel der Häuser wurde bereits von einer Firma abgerissen, in deren Aufsichtsrat der Schwiegersohn von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan sitzt. Der Stadtteil ist eines der vielen Immobilien-Spekulationsobjekte in Istanbul, an denen einige wenige Milliarden verdienen, während andere ihre innenstadtnahe Bleibe verlieren und in Wohnsilos des öffentlichen Wohnungsbaus an den Stadtrand verbannt werden. Gülru Hotinli ist Umweltaktivistin und hat sich eher zufällig in die Ausstellung verirrt. »So ein Kindergarten«, schnaubt sie wütend, »was wir hier sehen, hat nichts mit unserer Realität zu tun.«
Leider ist die Gezi-Ausstellung in der Piramid-Galerie ein Teil der Realität. Zum Glück nur ein Ausschnitt. Während die Kemalisten immer noch vor allem sich selbst als einzige Lösung für die Probleme des Landes sehen und einfache Feindbilder pflegen, sprießen überall andere Ansätze hervor. Ein Jahr nach den bahnbrechenden Protesten um den kleinen Istanbuler Gezi-Park brodelt es innerhalb der türkischen Gesellschaft. Gerade deshalb ist die außerparlamentarische Opposition derzeit in der Türkei so wenig sichtbar. Vielfalt der Meinungen und Diversität sind Qualitäten, die eine moderne Gesellschaft braucht, die aber innerhalb eines autoritären Staates erst einmal keine schnellen Lösungen für politische Konflikte bringen.
Doch gerade Kunst und Kultur sind, inklusive der banalen Ausstellung in der Piramid-Galerie, ein Spiegel der Entwicklungen. Das Istanbuler Museum für zeitgenössische Kunst, Istanbul Modern, zeigt eine Retrospektive des Fotografen-Kollektivs »Nar« (Granatapfel). »Auf dem Weg« nennen die Fotografen die beeindruckenden Zeugnisse ihrer Arbeit der vergangenen zehn Jahre. Sie waren in abgebrannten kurdischen Dörfern, im Todes-Bergwerk Soma und haben die Zerstörung der Metropole Istanbul in allen Phasen dokumentiert. Sie sind bis in die abgelegensten Winkel der Vororte mit dem Bus gefahren, in die sonst keiner will. »Ich bleibe hier« heißt ein Foto. Ein Mann sitzt auf einem Sessel auf einer Müllhalde vor einer Trabantenstadt. Ein Migrant von der Schwarzmeerküste, der müde ist von all den Neuanfängen. In Istanbul hat ein Sessel auszureichen, um einen kleinen Winkel der Metropole sein eigen nennen zu dürfen.
Mehmet Kaçmaz steht am Abend der Eröffnung etwas verloren vor dem Museum und schaut auf den Bosporus. Unter seiner linken Augenbraue ist eine kleine Narbe zu sehen, Relikt einer Verletzung durch ein Plastikgeschoss. Der Fotograf hat fast ein Auge verloren, als ein Polizist ihm im vergangenen Juni am Rande einer Demonstration gezielt in das Gesicht schoss. »Heute gehen wir gewappnet auf Demonstrationen«, sagt Kaçmaz lächelnd. Auf Istanbuler Demonstrationen gehören mittlerweile auch für Fotografen und Journalisten Stahlhelm, Gasmaske und feste Kleidung zur Ausrüstung. Neben Plastikgeschossen und Gaskartuschen sind vor allem die mit Reizgas versetzten Salven der Wasserwerfer gefürchtete Mittel der Repression gegen die ungebrochene Protestwut der Bürger. Noch vor einem Jahr kannten nur wenige in der Türkei Kaçmaz und seine Kollegen. Heute sind sie die Helden einer Bewegung, die mit einem großen Satz die Relikte des maroden politischen Systems übersprungen haben und in den sozialen Medien globale Spieler sind. »Die Gezi-Proteste haben unsere Besucherzahlen verzehnfacht«, reflektiert Mehmet Kaçmaz ernst. »Wir waren ein unbekannter Kreis von Dokumentarfotografen, jahrelang wollte niemand unsere Welt sehen.« Plötzlich hängen diese beeindruckenden Arbeiten in einem Museum und sind Teile eines vielversprechenden Mosaiks.
Parallel proben »Kardeş Türküler« (Lieder der Brüderlichkeit) Balladen auf Türkisch, Kurdisch und Armenisch für ihre Deutschland-Tournee, sie wollen nach der Wahlpropaganda Erdoğans in Köln ein anders Bild der Türkei vermitteln. Im Museum Salt zeigt eine Ausstellung weltweite Formen zivilen Ungehorsams, im Kulturhaus »Cezayir« (Algerien) haben verschiedene Vertreter der Kunst und Kulturszene gerade beschlossen, die Repressionen der Regierung gemeinsam zu bekämpfen. »Eigentlich wollte ich für die UN innerhalb eines Umweltprojektes nach Afrika gehen« erzählt Gülru Hotinli. Die 52jährige hat Wirtschaft an der renommierten Hochschule des Mittleren Ostens in Ankara studiert und gehört zur gehobenen Mittelschicht Istanbuls, die im vergangenen Jahr mit auf die Barrikaden gegangen ist. Sie hat sich gegen Afrika entschieden. »Mein Platz ist momentan hier«, sagt sie entschlossen.
Sie gehört zu einer Umweltaktivistengruppe die jenseits der PR-orientierten Greenpeace-Aktionen Graswurzelarbeit betreibt. Vergangenen Sommer fuhr sie nach den Gezi-Protesten in anatolische Dörfer, um über die Wiederverwendungsmöglichkeiten von Plastikmüll zu referieren. »Vor allem die Frauen sind ein unerkanntes Potential«, meint sie, »viele von ihnen haben in der Vergangenheit ihr schönes altes Zinn- und Kupferküchengerät gegen billiges Plastik ausgetauscht. Anstatt ihnen zu vermitteln, wie dumm das war, geht es mir darum, praktische Lösungen zu offerieren, die verhindern, dass die Bäche von Plastiktüten verschmutzt werden«. Die schwarzen, besonders giftigen Plastiktüten eignen sich zum Beispiel vortrefflich als Solardusche. Im Sommer werden sie mit Wasser gefüllt in die Sonne gehängt. Nach nur zwei Stunden lässt sich der Wasserballon als Reservoir für ein warmes Bad oder eine Dusche nutzen.
Erdem Gündüz, der Performance-Künstler, der vergangenes Jahr als »stehender Mann« auf dem Taksim-Platz Tausende Menschen weltweit zu Solidaraktionen inspirierte, ist in Eile. Er ist auf dem Weg zum Flughafen, um nach Göteborg zu reisen. »Ich mach dort zwei Performances und gebe einen Workshop.« Der ­schmale Mann Anfang 30 kommt gut mit seiner plötz­lichen Berühmtheit klar. Das vergangene Jahr über war er fast mehr im Ausland als in Istanbul. In Göteborg wird er zeigen, wie man mit wenigen Bewegungen viele Emotionen ausdrücken kann. Als stehender Mann hatte er während der Gezi-Proteste gegen das Demonstrationsverbot auf dem Taksim-Platz demonstriert. Er stand einfach nur vor dem zum Abriss verurteilten Atatürk-Kulturzentrum, trug einen Rucksack auf dem Rücken und schaute das Gebäude an. Stunden verstrichen bis die ersten Fotos in den sozialen Medien geteilt wurden. Und plötzlich standen hundert Leute auf dem Platz, in den nächsten Tagen setzte sich der passive Protest fort.
Nicht nur in Istanbul, im ganzen Land standen Demonstranten und repräsentierten ihren gewaltlosen Widerstand. Auch international solidarisierten sich Gleichgesinnte mit der Aktion. Auf dem Mariannenplatz in Berlin, vor der Pariser Bastille und auf dem Time Square in New York standen Menschen und blickten auf die Proteste in der Türkei. Die weltweit geteilten Fotos gaben der türkischen Bewegung Kraft. Erdem ist in der Türkei seitdem eine Berühmtheit. Ein Ruhm, der dem bescheidenen Künstler nicht zu Kopf gestiegen ist. »Die Leute bewundern ja nicht Erdem Gündüz, sondern den stehenden Mann«, sagt er und lächelt. Auch Erdem Gündüz ist Teil eines kleinen Künstlerkollektivs, das im Hafenviertel Karaköy einen Kunstraum für Tanz und Performance-Art betreibt. Jeden Montag können Interessierte dort mit Erdem trainieren. Tanz und Bewegung sind Teil seines Repertoires, das für ihn nur Sinn ergibt, wenn er es teilen kann. »Performance-Kunst ist ja eine Bühnenkunst. Wir haben uns in Karaköy unsere eigene kleine Bühne geschaffen. Der Taksim-Platz war bislang die größte von mir bespielte Fläche.«
Eine Aktion, die Erdem Gündüz so schnell nicht wiederholen will. Der Künstler ist angesichts der autoritären Politik der türkischen Regierung, die Journalisten, Schriftsteller, Anwälte und andere Unbequeme mit Anklagen überhäuft, desillusioniert. »Einen zweiten Gezi-Sommer wird es nicht geben«, stellt er fest. »Jetzt fangen verschiedene Gruppen bereits wieder an, mit Gegengewalt zu reagieren.« Gündüz meint damit die Ausschreitungen in Okmey­dani. Nachdem die Polizei dort mit scharfer Munition auf eine Demonstration schoss und einen unbeteiligten Aleviten tötete, wurde der Stadtteil von gewaltbereiten Demonstranten heimgesucht. In der darauffolgenden Nacht starb ein Passant durch einen von Demonstranten gezündeten Sprengsatz. »Das sind genau die Leute, die Butter auf das Brot der Regierung streichen«, kommentiert Erdem Gündüz. Wie viele andere Künstler konzentriert er sich derzeit auf seine kreative Arbeit und meidet öffentliche Orte. Was nicht bedeutet, dass er nicht mehr politisch aktiv ist. Gündüz hat eine große Fangemeinde in den sozialen Medien und teilt dort seinen wohl dosierten Pessimismus angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen im August mit.
Feryal Öney, Sängerin der Folk-Gruppe Kardeş Türküler, sitzt im Café des Istanbuler Fotografen Ara Güler in Beyoğlu. Das Lied »Tencere Tava Havasi« (Klang der Töpfe und Pfannen) nutzte die Gruppe während der Gezi-Proteste als mobiliserende Hymne. Dabei spielte die Band nur mit Küchenutensilien wie Töpfen, Pfannen, Gläsern und ähnlichem. Die Gruppe bewirkte so, dass in den Abendstunden Istanbuls Menschen an ihren Fenstern ihren Protest ebenfalls mit Küchenutensilien ausdrückten und auch Demonstranten zu Küchenutensilien griffen, um sich Gehör zu verschaffen.
»Wenn Erdoğan Staatspräsident wird, dann bricht ein neoosmanisches Zeitalter an«, seufzt die Musikerin lakonisch. Doch in ihrer Stimme schwingt keine Resignation. Schon seit über 20 Jahren macht Öney oppositionelle Musik. In den neunziger Jahren war es verboten, in einer anderen Sprache als Türkisch zu singen. Öney sang kurdisch und armenisch, obwohl ihr die Sprachen nicht geläufig waren. »Das war meine politische Haltung, wir sind mehr als einmal direkt vom Konzert in Untersuchungshaft überführt worden.« Das hat die Gruppe nicht davon abgehalten, ungebrochen rebellisch zu sein. »Wir haben uns in Geduld geübt« stellt Feryal Öney fest. »Nach Jahrzehnten der Repression entsteht keine Demokratie wie der Phönix aus der Asche.« Die türkische Opposition ist eben keinesfalls geeint, aber auf schwachen Beinen steht sie auch nicht. Sie ähnelt einem Tausendfüßler, der sich stoisch seinen Weg durch den Stadtdschungel bahnt. Weder Bulldozer noch Wasserwerfer können ihm etwas anhaben.