Antisemitismus in Deutschland und der EU

Die Herren der Zinsen

Rainer Trampert untersucht den Antisemitismus in Deutschland und in anderen Staaten der Europäischen Union.

Krisen waren immer ein fruchtbarer Acker für Verschwörungen, Propagandalügen, religiöse und esoterische Faseleien. Vor der Aufklärung sollten Juden Ernten verhext haben, nach der Aufklärung steigerte die Naturwissenschaft die Produktivität und maß den Charakter des Menschen an der Ohrlänge, in der modernen Krise teilen linke und rechte Antisemiten dümmlich oder aus Kalkül den Kapitalismus in Anlehnung an die falsche Kapitalismuskritik in einen schaffenden und einen raffenden, nehmen den schaffenden in ihre völkische Obhut und wähnen den raffenden in angloamerikanisch-jüdischen Händen. Die unwissenschaftliche Trennung bildet den Nährboden für die doppelte Propaganda: Sie bietet der kapitalistischen Mehrwertproduktion einen Schutzraum, indem sie die Schicht in der Fabrik oder auf dem Bau als das Produktive heiligspricht, und schiebt alles Ungemach auf die Finanzen und damit auf ein Bündel von antisemitisch konnotierten Krisenbegriffen: Speku­lation, vagabundierende Finanzen, globale (internationale) Finanzen, Banken, Börsen, Wallstreet, New York, Zinsen. Wer will, findet in dem Topf ein Stichwort, das zu seiner Verkümmerung passt. So ist die Krise wie alles, was mit Geld zu tun hat und die Suche nach Schuldigen sprießen lässt, ein Fundus für antisemitische Verschwörungen, die sich mit dem Feindbild »Angloamerika« verbrüdern, aber nicht müssen. Im Unterschied zum »Juden« grenzt die Krisenpropaganda gegen die USA sich von einem wirklichen Weltkonkurrenten ab.
Die Trennung des Kapitalismus in den schaffenden und raffenden Sektor war bereits für die NS-Ideologie elementar, um die Massen an den »arischen« Wirtschaftsführer zu binden und Juden als zinstreibende, sich ohne Arbeit bereichernde Schmarotzer zu stigmatisieren. Halt so wie »in der Tier- und Pflanzenwelt das schaffende und das parasitäre Prinzip vertreten ist«, sagte der NS-Ideologe Alfred Rosenberg. Die Verschwörung ist eben nur ein waberndes Gerücht ohne Bodenhaftung, denn in Wahrheit schlichen parasitäre »Herrenmenschen« in der Reichspogromnacht mit den von jüdischen Familien schmarotzten Standuhren, Radios und dem Spielzeug der jüdischen Kinder durch die Nacht. Adolf Hitler hielt viel von Gottfried Feder und dessen Werk »Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft«, weil Feder »mit rücksichtsloser Brutalität den ebenso spekulativen wie volkswirtschaftsschädlichen Charakter des Börsen- und Leihkapitals« sowie den »Zustand der Völker, die unter der Geld- oder Zinsknechtschaft der alljüdischen Hochfinanz stehen«, festgestellt habe (»Mein Kampf«).
Dass Krisen sich »auf den ersten Blick« und damit oberflächlich »als Kreditkrise und Geldkrise« darstellen (Marx), wird von linken, rechten und bürgerlichen Verschwörungsideologen zum Vorwand genommen, den Kapitalismus aufzuspalten und nutzbar zu machen für die Propaganda gegen die Wall Street, den angloamerikanischen Kommerz oder New York, wo Eingeweihte Juden an der Macht vermuten, und auch, um von der wahren Diktatur abzulenken, die noch immer in den Betrieben herrscht. Oskar Lafontaine behauptet: »Erst wenn die Diktatur der Finanzmärkte gebrochen wird, kann (…) die Demokratie wieder hergestellt werden«, und spricht verschwörerisch von der »gekauften Republik«. Mit Ausnahme seiner Partei würden alle Parteien »aus der Finanzindustrie gesponsert«. In Wahrheit standen VW, Siemens und andere Wertschöpfer bei allen Spendenskandalen in der ersten Reihe und werden die Leute in der Frühschicht, auf dem Bau, in der Bank oder im Werbebüro auch dann keine Demokratie haben, wenn die Finanzmärkte vom Staat reguliert sind. Das Gerede von der Diktatur der Finanzmärkte hat nur einen Sinn: den Mythos vom bösen raffenden und guten schaffenden Kapital am Leben zu halten.
Die Aufspaltung ist wissenschaftlich falsch, weil Industrie, Dienstleistungen und Finanz­welt sich gegenseitig durchdringen und beaufsichtigen. Und auch moralisch absurd, denn man müsste Spekulanten für moralischer halten als Unternehmer, die ihr asoziales Dasein offenbaren, indem sie andere Menschen für sich arbeiten lassen. Das ist wahres Schmarotzertum. Winkt kein adäquater Profit in der Produktion, ist der Unternehmer genauso schnell mit der Spekulation im Bund wie der Banker, um das Geld zu vermehren. Die großen Konzerne sind inzwischen ihre eigenen Banken, um sich mit Anleihen zu refinanzieren, und selbstverständlich kauft und verkauft der Unternehmer Firmen wie die Private Equities (»Heuschrecken«). Wohin soll der AppleKonzern sonst mit seinem Barvermögen von 160 Milliarden Dollar? Der ganze Komplex aus Industrie, Handel, Banken und Staat ist zusammengewachsen. Der Staat hilft der nationalen Wirtschaft im Inland, indem er für den Betriebsfrieden sorgt, im Ausland, indem er ihr die Wege für seine Expansion ebnet. Andersrum versorgt das Kapital den Staat und vergütet das politische Personal mit Rentenverträgen. Beide gehören zur herrschenden Klasse, aber der Vorstandschef kassiert Millionen, der Kanzler, der ihm den Weg bis China öffnet, viel weniger. Die Staffelung wahrt den demokratischen Schein. Die Massen ahnen, dass sie nicht der Souverän sind, und wollen sich am gewählten Personal rächen dürfen. Es soll schlecht bezahlt werden und moralischer sein als sie. Die Wirtschaft weiß das und gleicht den Verlust aus. Während der Amtszeit mit einer Loge beim Opernball, danach mit einem Berater- oder Managervertrag.

Die Verbindung zwischen Straße und Salon

Nicht jedes Gerücht über Juden bedarf der Krise. Dafür ist der Antisemitismus eine zu stete und üppig sprudelnde Quelle des Unheils. Aber die Aggressionen, die von der Angst vor Infla­tion, Währungsreform, Geld- und Existenzverlust herrühren, schwellen in der Krise an, suchen Ventile und mischen sich in Europa mit dem im arabisch-islamischen Raum tief verwurzelten Wunsch, Juden zu vertreiben. Nachdem sie aus den meisten arabischen Ländern verschwunden sind, geht es nun gegen die in »Israel«. Eine Antwort auf die Frage, ob der Antisemitismus in Europa in der Krise angewachsen ist, geben am besten Jüdinnen und Juden selbst. Der Antisemitismusbericht 2013 der European Union Agency for Fundamental Rights (Agentur der Europäischen Union für Grundrechte), kurz: FRA, hat 6 000 Jüdinnen und Juden in den acht europäischen Ländern Belgien, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Ita­lien, Schweden, Großbritannien und Lettland, in denen die meisten Juden wohnen, befragt. 76 Prozent antworteten, dass der Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren stark angestiegen ist, 33 Prozent leben ständig mit der Angst, einer antisemitischen Attacke zum Opfer zu fallen, die Hälfte erwartet, innerhalb eines Jahres Opfer einer Hassattacke zu werden, 29 Prozent überlegen zu emigrieren. 80 Prozent der ungarischen Juden gaben an, dass sie von rechten Gruppen bedroht werden, während in Frankreich 73 Prozent und in Belgien 60 Prozent angaben, hauptsächlich von mus­limischen Gruppen bedroht zu werden. Diese Zahlen sind in verschiedener Hinsicht beeindruckend. Sie erzählen von einem Leben in täglicher Unsicherheit und Schutzlosigkeit, führen die Bedeutung eines in jeder Hinsicht zu sichernden jüdischen Staates vor Augen und entlarven einmal mehr die Aussagen von Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk (und tausend anderen Antiamerikanern), dass die Kultur in Europa und nicht in Amerika zu Hause sei, als Legitimation von rundum miesen Gesellschaften aus Größenwahn.
Der Antisemitismus markiert die größte Massenbewegung in Europa. »Weit über 150 Milli­onen Antisemiten leben in der EU, hat der israelische Antisemitismusforscher Manfred Gerstenfeld auf der Basis der von der Friedrich-Ebert-Stiftung initiierten Bielefelder Studie von 2011 und den Bevölkerungsziffern der entsprechenden Länder errechnet; so viele EU-Bürger nämlich sind der Meinung, Israel führe einen ›Ausrottungsfeldzug‹ gegen die Palästinenser« (Stefan Frank in Konkret 1/2014). Nach einer Forsa-Umfrage aus dem Herbst 2013 stimmen 70 Prozent der Deutschen der Aussage zu, Israel verfolge seine Interessen ohne Rücksicht auf andere Völker. Die Frage ist Teil des Problems. Die Befragten würden die deutsche Regierung, die aus Rücksicht auf Griechen und Chinesen handelte, selbstverständlich abwählen. Schon gar nicht berücksichtigt sie, dass die Wahrung der Interessen der PLO, Hamas und Hisbol­­lah für Israel ein Selbstmordprogramm wäre. 57 Prozent der Deutschen glauben, Israel führe einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. Das sind erheblich mehr als im übrigen Europa und erklärt sich aus der deutschen Geschichte. Der Antisemitismus nach 1945 muss mit dem Wissen um Auschwitz fertig werden. Je völkischer der Deutsche fühlt, desto unerträglicher ist für ihn der Gedanke, dass seine Sippe auf hoher Zivilisationsstufe doch nur ein Bluthund war. Deshalb soll an den Juden unbedingt etwas dran sein.
»Wenn der Bürger schon zugibt, dass der Antisemit im Unrecht ist, so will er wenigstens, dass auch das Opfer schuldig sei.« (Adorno) Wohl auch deshalb stimmen 40,5 Prozent der Deutschen der Aussage zu, dass Israel »die Palästinenser im Prinzip so behandelt, wie die Nationalsozialisten die Juden«. Wer den Umstand, dass 20 Prozent der israelischen Bevölkerung Palästinenser sind, die in Israel arbeiten, studieren, zur Armee gehen, Richter sind, heiraten, Auto fahren, wohnen, baden, feiern, zur Schule gehen, Rente beziehen und sich ebenso vor Selbstmordattentätern fürchten wie Juden, gleichsetzt mit der systematischen Vernichtung aller Juden auf der Welt, ist von einer unheimlichen Mixtur aus Blödheit, Verbitterung, Vorurteil und Hass gezeichnet. Das also trifft auf fast jeden zweiten Deutschen zu. »Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben«, schrieb Adorno. Deshalb wirken Deutsche auch dann überzeugend, wenn sie puren Wahnsinn von sich geben. Wenn der Deutsche die Allmacht will, sagt er nicht: »Ich will allmächtig sein!«, sondern verbreitet das Gerücht, die Juden seien allmächtig, weshalb man sich sofort gegen sie zur Wehr setzen müsse. Die große Zahl der Zustimmenden führt zur falschen Gewissheit. Die Projektion ist das Verfolgen eigener Wünsche in anderen, ein Mechanismus, bei dem der Mensch das, was er für sich nicht gelten lässt, in sich verleugnet oder sich verbietet, um der Norm zu genügen, sich über die Verfolgung anderer abreagiert, denen er andichtet, sich das zu erlauben, was er sich verbietet. Vermuten die Leute seiner Umgebung dasselbe wie er, wird die Wahnvorstellung zur Gewissheit.
Antisemiten trauen sich wieder etwas. Nicht nur im Salon, in dem Martin Walser, Günter Grass und Jakob Augstein über antijüdischen Gedichten brüten, auch auf der Straße. Sie marschieren in Budapest, Berlin, Warschau und Paris. Das heutige Klima in Frankreich erinnert den Vorsitzenden des Dachverbands der jüdischen Organisation (Crif), Roger Cukierman, an »das Deutschland der dreißiger Jahre«. Genau an diese Epoche appelliert der Star-Komiker Frankreichs Dieudonné M’bala M’bala, ein antisemitischer Hetzer. Frankreich sei von Juden beherrscht, sagt er, und nennt sie auf der Bühne »Drecksjuden«. Er bedauert, dass es keine Gaskammern mehr gibt, obwohl er ihre Existenz und den ganzen Holocaust leugnet. Er wollte unbedingt Gast in der Morgensendung des jüdischen Journalisten Patrick Cohen sein. Als der ihn nicht einlud, sagte Dieudonné: »Wenn ich an Cohen denke, kommen mir unweigerlich die Gaskammern in den Sinn.« Die Leute amüsieren sich über ihn und seine Judenwitze. Sie können gar nicht genug davon bekommen. Der Höhepunkt seiner Show ist das Lied »Shoananas«, in dem er sich über Auschwitz lustig macht. Tausende singen mit. Die Veranstaltungen sind ausverkauft – auch in der Schweiz. Der von ihm erfundene »Quenelle«-Gruß, bei dem zum Zeichen des Judenhasses und des Vernichtungswunsches die linke Hand auf den zum gesenkten Hitlergruß durchgestreckten rechten Arm gelegt wird, ist inzwischen so populär, dass viele Jugendliche sich in den Straßen und auf Schulhöfen so grüßen und der prominente französische Fußballstar Anelka ihn nach seinem Tor für den englischen Club West Bromwich Albion den Zuschauern im Stadion zeigte. Ein Sponsor kündigte daraufhin seinen Vertrag. Die Banlieue-Jugend ist besonders begeistert, aber auch die Mittelschicht pilgert zu seinen Veranstaltungen. Jean-Marie Le Pen, der offen antisemitische Flügel der Le-Pen-Familie, ist Taufpate der Tochter von Dieudonné M’bala M’bala. Die französische Zivilgesellschaft lässt sich nirgendwo blicken. Vielleicht ist sie erschöpft vom Kampf gegen die Homoehe, vielleicht beginnt auch eine neue Dreyfus-Affäre.
Dieudonnés Gesinnungsmix ist ein Angebot für Antisemiten in den Migrantenszenen und für die, die ihre Solidarität auf Palästinenser einengen, ohne zu fragen, was die wollen. Meistens wünschen sie Linke zum Teufel. Die Szenen, die Dieudonné M’bala M’bala nachlaufen, sind gegen den Rassismus, der sich gegen Schwarze und Araber richtet, haben Sympathie für die Radikalität der Islamisten, lehnen den weißen Neokolonialismus ab, hassen Juden und vermuten, dass sie hinter allem stecken. Genau das Richtige für die beiden Frauen aus der Linkspartei, die mit der Gaza-Flottille 2010 zur Hamas vordringen wollten, damit der Weg für Waffenlieferungen frei ist, und die sich unter dem Deck verstecken mussten, weil die islamischen Krieger fanden, dass Frauen an Deck nichts zu suchen hätten. Für Linke, zumal für deutsche, hätten die Abschiedsrufe im Hafen von Istanbul: »Tod den Juden!« eigentlich genügen müssen, das Schiff zu verlassen. Die französischen Dieudonné-Anhänger leisten sich überdies die nationalistische Geste, die Marseillaise zu singen. Dieser wilde Politmix passt nicht zu den Salonrechten, die keine Schwarzen, Rumänen oder Muslime sehen wollen. Auf einer Demonstration in Berlin riefen arabische Frauen und Männer: »Juden, Juden, die Armee von Mohammed kommt!« und: »Deutschland! Deutschland! Sieh dich um, Israel bringt Kinder um« und: »Kindermörder! Kindermörder!« Eine Demonstrantin erläuterte der TV-Anstalt das Motiv ihres Hasses: »Im Untergrund sind die, und wir sind alles Marionetten, mit denen die spielen. Das geht alles von höheren Mächten aus. Ich will jetzt niemandem etwas unterstellen, aber es geht mehr um Land gewinnen und um Geld.« Geld, Landgewinn, Allmacht! Sie wollte niemandem etwas unterstellen. Roger Waters von Pink Floyd ließ bei seinen Mammut-Events ein schwarzes Schwein als Ballon über die Köpfe der Fans kreisen. Auf dem Schwein waren die Symbole des Bösen, darunter der Davidstern. Nicht einmal die Israel-Flagge, sondern das Symbol, das Juden während der Naziherrschaft auf dem Jackett tragen mussten. Am Ende des Konzertes wurde das Schwein abgeschossen. Die Menge jubelte. Ein deutscher Pink-Floyd- Fan wurde gefragt, was das Schwein ausdrücken sollte. Er antwortete: »Faschismus im weitesten Sinne, alles, was uns Übles will.« Und der Davidstern? »Schwierige Geschichte, aber der gehört, glaube ich, mit zur Gewalt.«

Die antisemitische linke Mehrheit

Das deutsche Zentralorgan für antisemitische Attacs und Linke ist die Junge Welt (JW), die sich für links hält und deshalb nicht zu verwechseln ist mit der extrem rechten Jungen Freiheit, obwohl beide mit Juden nicht zimperlich umgehen. Die JW deckt in ihrer Ausgabe vom 9. September 2013 eine Verschwörung auf. Je weniger an dem Gerücht dran ist, desto detailgetreuer ist der Bericht. Die Amerikaner, schrieb sie, wollten Syrien angreifen und der Bundesnachrichtendienst (BND) und die Bild-Zeitung würden gemeinsam »Stimmung für den Angriff« machen. Bild habe nämlich unter Berufung auf den BND berichtet, dass ein Spionageschiff der Bundesmarine im östlichen Mittelmeer Funksprüche syrischer Kommandeure abgehört habe, die »von Präsident Baschar al-Assad die Zustimmung zu einem Giftgaseinsatz gefordert haben« sollen. Die JW vermutete sogleich eine jüdische Verschwörung: »Der BND arbeitet eng mit dem israelischen Mossad zusammen, der sogenannte Trojaner einsetzt, um andere Geheimdienste irrezuleiten.« Dazu verstecke der Mossad auf einer kleinen Insel vor der Küste Syriens unter einem »künstlichen Felsen« ein Gerät, das Meldungen auffange, die »von der Desinformationsabteilung des Mossad verschlüsselt ausgesendet« würden und nur von dem »Kommunikationsgerät« unter dem Felsen aufgefangen werden könnten. Das Gerät strahle den Text dann »auf einer anderen, ­offiziellen Frequenz im Feindesland aus«, die »wiederum von anderen Geheimdiensten aufgefangen« werde, zum Beispiel vom BND, der den Text dann an Bild gibt. Man muss die Psyche des Antisemiten nicht analysiert haben, um zu begreifen: Hier grassiert der Wahn. Dass den USA ein Angriffskrieg unterstellt wird, den sie auf keinen Fall wollten, nimmt man so hin. Aber warum rufen zwei befreundete Geheimdienste sich nicht einfach an, sondern führen sich unter dem Einsatz von Geräten im Meer gegenseitig in die Irre? Vielleicht aus Freude am Beruf.
Durchaus nicht selten taucht in der JW ganz unvermittelt der Jude auf. Werner Pirker schrieb über die Demonstrationen in der Türkei, die Regierung habe die Proteste nicht nur der Park­rodung zu verdanken, auch »Ankaras Politik der Einmischung in syrische Angelegenheiten wird von der türkischen Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt«, und »Erdoğans neo-osmanische Ambitionen« fänden »unter seinen Landsleuten keinen Anklang. Dass diese abenteuerliche Politik im (…) Einverständnis mit Israel erfolgt, macht sie für die patriotischen Kräfte des Landes vollends unakzeptabel.« Plötzlich ist der Jude da! Nichts wies auf ihn hin und der Zusammenhang ist aus der Luft gegriffen. Die Türkei und Israel liegen im Streit. Mit dem Konflikt in der Türkei, der durch den Zusammenprall von Moderne, religiöser Regression und Korruption entsteht, hat Israel nichts zu tun. Israel ist schon gar nicht für die Islamisierung der Türkei und für die neoosmanische Politik zu haben, weil Palästina dann wieder ein osmanisches Protektorat wäre. Die Verschwörungsgeschichte gipfelt in der Behauptung: »Das syrische Gemetzel hat mit Israels ›Kriegseintritt‹ eine neue Stufe der Eskalation erreicht.« Hier verliert das Gerücht jede Bodenhaftung. In Syrien metzeln Assads Soldaten, die Hisbollah und diverse Jihadisten, die JW aber wähnt Israel da im Krieg!
Je mehr man sich der Israel-Kritik der Linken nähert, desto offensichtlicher wird, dass sie sich gegen alle Juden und die Existenz Israels richtet. Nie würde die linke Propaganda Garibaldis Bewegung für die italienische Nation anzweifeln, während der »Zionismus« bei ihr nicht als historische Bewegung für eine jüdische Nation vorkommt, sondern, um der jüdischen Nation die Legitimität abzustreiten, nur als Wurmfortsatz des Imperialismus und als Hauptfeind der Menschheit. Die antisemitische Linke fordert für Palästinenser den ganzen Staat, dasselbe Anliegen wird Juden ohne Rücksicht auf ihre Verfolgungs- und Pogromgeschichte, die in die nationalsozialistische Totalvernichtung mündete, bestritten – von Anfang an. Die KPD beschimpfte Zionisten 1925 als »Kettenhunde des englischen Imperialismus«. Heute sollen sie Handlanger des US-Imperialismus sein. Absichtsvoll soll der Jude es mit dem treiben, der den Weltmachtstatus hat, damit die Allmacht des Juden wabert. Während der antijüdischen Pogrome in Palästina schrieb die Rote Fahne 1929 frohlockend: »Der Araberaufstand wächst.« Der alte Wunsch vieler Linker, endlich einmal in der Mehrheit zu sein – beim Antisemitismus geht er in Erfüllung.
Dafür werden minimale linke Anliegen wie Demokratie und Humanismus preisgegeben. Die UN ist nicht ihre Organisation, aber wenn die UN, in der hundert Diktatoren sitzen, Beschlüsse gegen Israel fasst, beruft man sich auf sie, um den einzigen demokratischen Staat im Nahen und Mittleren Osten der Diktatur zu verdächtigen. Man verbündet sich mit solchen arabischen Fronten, die Israel beseitigen wollen, die jüdische Kinder, Frauen und Männer auf Marktplätzen und in Schulbussen in die Luft sprengen, jeden aus dem Gefängnis entlassenen Judenmörder enthusiastisch feiern und von demokratischen und humanistischen Ideen Welten entfernt sind. Die antisemitische Linke fordert selbst nicht die Beseitigung Israels, sie lässt es ihre Verbündeten aussprechen und unterminiert gleichzeitig Israels Existenz, indem sie Gerüchte verbreitet und seine angeblichen oder wirklichen Verfehlungen über alles in der Welt stellt. Selbst wenn es sich um selbstverständliche Sicherheitsmaßnahmen gegen Attentäter handelt. Die Verblendung geht so weit, dass die Attentate in der linken Berichterstattung nicht vorkommen oder als Widerstand glorifiziert werden.
In der Wochenendausgabe vom 4./5. Oktober 2008, die Krise war auf ihrem Höhepunkt, widmete die Süddeutsche Zeitung (SZ) dem ehemaligen Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan, dem Sohn jüdischer Einwanderer, eine dreiviertel Seite. Ein großes Farbfoto zeigte seinen Kopf von der Seite. Unter dem Foto stand: »Der Herr der Blasen«, rechts neben dem Foto die Frage: »Ist er der Teufel persönlich? Alan Greenspan (großes Foto), 82 Jahre alt, Notenbank-Legende, trägt für viele Experten eine Mitschuld an der Finanzkrise. Jahrelang pumpte er Geld in den Markt und förderte die Immobilienblase.« Aus der Mitschuld wird eine Hauptschuld und am Ende die Alleinschuld: »Die Schatten, die sich knapp drei Jahre nach Greenspans Abgang auf sein Werk legen, werden immer größer.« Für eine wachsende Zahl bedeutender Personen sei er »sogar einer der Hauptschuldigen des Debakels«: »Es besteht kein Zweifel, dass Alan Greenspan die globale Finanzkrise auf dem Gewissen hat«, sagt »ein amerikanischer Nobelpreisträger«. Ein einzelner Mensch soll die Weltwirtschaft in den Abgrund gestürzt haben? Ein Professor von der European Business School wurde aufgetrieben: »Greenspan hat die Krise erfunden.« Das auch noch! Man kann sich den Unterrichtsstoff der Business School lebhaft vorstellen. Wenn ein einziger Jude die Krise erfand, dann wird der Kapitalismus im Ganzen und an und für sich wohl krisenfrei sein. Dabei sei Greenspan gar nicht viel eingefallen, nur: »Zinsen senken«. Während die EZB in Europa mit Zustimmung der EU seit Jahren die Zinsen senkt, bis es kaum noch weiter nach unten geht, hat Greenspan – dasselbe getan. Doch die unterstellten Absichten unterscheiden sich. Während die EZB die Wirtschaft mit den nied­rigen Zinsen ankurbeln wollte, hat Greenspan die Zinsen laut SZ gesenkt, »um die Börsen weltweit wieder auf Wachstumskurs zu bringen«.

Religiöse Erlöserrhetorik

Beide tun dasselbe, aber der Jude verfolgt damit die Absicht, die Börsenspekulanten mit Geld zu versorgen. Er habe Anleger »aus Festgeldern und Anleihen in Aktien« getrieben, weil »die Renditen bei Staatspapieren nicht mehr stimmten«. Getrieben hat er sie. Auch »die unseriösen Kreditvergaben und massenhaften Pleiten soll Alan Greenspan mit seiner Fed befördert haben«. Er ist der Allmächtige! Man hatte es geahnt. Die Kreditvergabe an Private und Unternehmen ist nun wirklich Sache der Geschäftsbanken und Firmenpleiten fallen nicht in seine Zuständigkeit. Nun interessiert uns noch: »Wie reagiert der viel Gescholtene? (…) Tenor seiner Aussagen: ›Ich bin unschuldig!‹ So versucht Greenspan, sein Lebenswerk zu retten: (…) Wie der ewige Optimist in die Zukunft blickt? Die jetzige Krise sei schlimmer als 1929, sagte er kürzlich. Vielleicht saß Greenspan vor dieser Analyse auch in seiner Badewanne. Und sah, wie eine Seifenblase platzte.« Der mächtige Jude, der Herr über Zinsen, der Macher aller Krisen, der »Ewige«, der sich den »Exzessen« verschrieb, sich aber nicht zu seiner Schuld bekannte.
Es war Günter Grass, der die große jüdische Bluttat erfand. Israel wolle das iranische Volk »auslöschen« und bedrohe den Weltfrieden, dichtete er. Er wollte die Juden unbedingt zu den Völkermördern zählen, um den deutschen Völkermord zu relativieren und um sich mit seiner SS-Vergangenheit zu versöhnen. Schon sein Weltfriede ist eine Lüge, die Millionen Kriegstote in Afrika für belanglos erklärt. Mit derselben Impertinenz türmen Antisemiten fiktive Opferberge auf, die Juden in künftigen Weltkriegen anrichten würden. Jakob Augstein, Mitinhaber des Spiegel, häufiger Gast im Fernsehen und auf Klausuren der Linkspartei, schwärmte, Günter Grass habe zu Recht geschrieben, dass ­Israel »den ohnehin brüchigen Weltfrieden« gefährde und einen Plan schmiede, der »das ira­nische Volk auslöschen« könne. »Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt.« Er dankte Grass, dass er es auf sich genommen habe, »diesen Satz für uns alle auszusprechen«. Religiöse Erlöserrhetorik! Grass hat ihm und den Deutschen den auf ihnen lastenden Fluch genommen. Sie können nun – unter Berufung auf ihren Nobelpreisträger – Juden des beabsichtigten Völkermords und der Gefährdung des Weltfriedens bezichtigen, können also die schlimmsten Taten der Deutschen auf Juden projizieren. Und so führe Netanyahu »die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs«, schrieb Augstein in Anspielung auf den »Anschwellenden Bocksgesang« von Botho Strauß, mit dem der ausdrücken will, dass Stammeskulturen sich durch die Tötung Fremder naturhaft regenerieren.
Da den Juden weder Völkermord noch Weltkrieg anzulasten ist, konzipieren Augstein und Grass eine fiktive Welt, in der Juden es umso mörderischer treiben. Die realen Kriege stellen in der Scheinwelt des Antisemiten kein Risiko dar – es gibt sie nicht. Auch nicht die Opfer. Der Antisemit verhält sich zwangsläufig gegenüber Millionen Toten in Afrika rassistisch, weil ihm ein einziger, von Israel getöteter Hamas-Krieger wertvoller ist als eine Million Tote mit schwarzer Haut. Die Legende über das, was Juden anrichten können, impliziert die Notwendigkeit, sie in Ketten zu legen. Die gleiche Methode hat Hitler gewählt, als er im Reichstag die Juden für den nächsten Weltkrieg verantwortlich machte und ankündigte, dass sie ihre Tat bereuen würden. Während Grass Legenden in die Welt setzte, deutete Augstein die jüdische Weltherrschaft an: »Wenn es um Israel geht, gilt keine Regel mehr (…). Politik, Recht, Ökonomie – wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen.« Deutsche Politik, Justiz, Wirtschaft – das alles soll von Jerusalem aus gesteuert werden? Ob dieser Ohnmacht stellt er ­verzweifelte Resignation zur Schau: »Israel bekommt das, was es will.« Erst hätten »die Deutschen Hunderte von Millionen überwiesen (…). Später haben sie U-Boote hinterhergeschickt.« Für Jerusalem setze man alle »Regeln der guten Haushaltspolitik und der marktwirtschaftlichen Ordnung (…) außer Kraft«.
Der antisemitische Verschwörunstheoretiker geht bei allem, was geschieht, von der Schuld des Juden aus. Selbst wenn die Hamas 20 Raketen in der Woche auf Israel abschießt, schreibt er sie einer Verzweiflungstat oder einem notwendigen Widerstand zu. Der verkehrte Opfer­ritus impliziert, dass mit jeder Hamas-Rakete automatisch die jüdische Generalschuld wächst. Für Jakob Augstein zum Beispiel ist die Bewaffnung Israels nicht Schutz vor den Vernichtungsdrohungen, sondern eine Bedrohung für die Verkünder. So werde der Iran durch Israel »genötigt«, »eine eigene Bombe zu haben«, und jede Waffe für Israel erhöhe den Druck auf »arabische Nachbarstaaten, selbst zum Mittel der nuklearen Aufrüstung zu greifen«. Den erklärten Feinden Israels die atomare Aufrüstung ans Herz zu legen und Israel die Entwaffnung zu gönnen ist eine Dialektik, die gedanklich die Vernichtung der Juden in Kauf nimmt. Augstein scheut nicht einmal Begriffe, die Israel in die Nähe des Dritten Reichs rücken. Er propagiert Gaza als »Endzeit des Menschlichen«, als »ein Gefängnis. Ein Lager (!)«, wo Menschen »zusammengepfercht hausen«. Die Gaza-Bewohner haben eine Lebenserwartung von 74 Jahren, so hoch wie in Ungarn und höher als in der Türkei und über hundert Staaten, und sie können, wenn ihnen danach ist, Raketen auf Juden schießen. Man stößt bei Augstein auf alle modernen Kriterien des Antisemitismus: das Vorurteilssyndrom bis zu wahnhaften Projektionen, die modernen Synonyme für Judenheit: Israel oder Jerusalem, den Griff nach der Weltherrschaft, die Störung eines vermeintlichen Weltfriedens, die jüdische Verantwortung für den nächsten Weltkrieg, die Täter-Opfer-Umkehr bis zum unterstellten Völkermord, auf jüdische Blutbäder und Kindsmorde. Man sollte dem Simon-Wiesenthal-Center (SWC) dafür danken, dass sie die Weltöffentlichkeit auf den smarten antisemitischen Dauerhetzer aus Deutschlands Top-Medien aufmerksam gemacht haben.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Europa zwischen Weltmacht und Zerfall. Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2014, 240 Seiten, 14,80 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.