Marine Le Pen sucht Verbündete im EU-Parlament

Identitäre Arithmetik

Ernsthafte Gefahr oder nur heiße Luft? Die nationalistische Fraktion um Marine Le Pen und Geert Wilders droht an fehlenden Mitgliedern zu scheitern.

Glückliche Patrioten gab es vergangene Woche im Europaparlament zu sehen. Wenige Tage nach den Wahlerfolgen der antieuropäischen Rechten traten sie in Brüssel vor die Medien: Harald Vilimsky, der FPÖ-Generalsekretär, sein italienischer Amtskollege Matteo Salvini (Lega Nord), der Niederländer Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid), der Belgier Gerolf Annemans Dewinter (Vlaams Belang) und die Anführerin der Gruppe, Wahlsiegerin Marine Le Pen. »Schauen Sie auf die lachenden Menschen vor sich«, sagte die FN-Vorsitzende zu den Journalisten. »Wir haben eine solide Basis von 38 Mitgliedern und sind optimistisch, uns zu vergrößern.«
Vergrößern wird sie sich müssen, die »European Alliance for Freedom« (EAF). Wenn aus ihr eine ordentliche Fraktion im Europaparlament werden soll, braucht die Verbindung der Antieuropäer noch zwei weitere Mitglieder, denn eine Fraktion muss mindestens ein Viertel der 28 Mitgliedsstaaten vertreten. Die Frist dafür ist der 24. Juni. Dass ihr Vorhaben gelingt, steht für die selbst­ernannten Restauratoren der Nationalstaaten außer Frage. Geert Wilders, der im vergangenen Herbst gemeinsam mit Le Pen die EAF erstmals der Öffentlichkeit vorstellte, sparte wie üblich nicht mit dem Wort »historisch«. Gespräche würden geführt, hieß es, nur mit wem – darauf wollten weder Le Pen noch Wilders oder die an­deren antworten.

Und so befindet sich die EAF in einer ambivalenten Situation: Die rabiate Rhetorik der vergangenen Monate hat durchaus eine Entsprechung im Wahlergebnis gefunden. Doch das angekündigte »politische Erdbeben« steht dank zweier Tatsachen noch aus: Zum einen verpasste mit der Slowakischen Nationalpartei (SNS) ein möglicher Fraktionspartner den Einzug ins Parlament. Dann beschlossen auch noch die Schwedendemokraten, mit denen Wilders vor einem Jahr bereits über eine Kooperation gesprochen hatte, sich mit Nigel Farage von der Ukip zusammenzutun. Der britische Wahlsieger ist in den Rechenspielen der Rechten besonders wichtig. Vor einigen Wochen erst machte ihm Marine Le Pen in aller Öffentlichkeit den Hof. Farage entzog sich mit dem Hinweis auf »Vorurteile und Antisemitismus« im FN und erteilte nach den Wahlen dem Bündnis um den FN eine erneute Absage.
Zudem konnte Farage auch die Dänische Volkspartei (DF) – lange Zeit eine verlässliche Gefährtin von Wilders in seinem Kampf gegen den Islam – für eine eigene Fraktion gewinnen. Auch die AfD wurde schon mit Farages zukünftiger Fraktion in Verbindung gebracht, sowie Beppe Grillos Fünf-Sterne Bewegung (M5S). Eine Frak­tion der »Mitte« nannte sie Farage zuletzt. Marine Le Pen zeigte sich davon in Brüssel gänzlich unbeeindruckt: »Sorry, Nigel, wir machen weiter mit unserer eigenen Gruppe«, sagte sie. In Wahrheit aber ist dies für die EAF alles andere als leicht, denn viele Möglichkeiten bleiben der Gruppe nicht mehr. In französischen Medien spekuliert man derzeit über den polnischen Kongress der Neuen Rechten (KNP) und die litauische Partei Tvarka ir teisingumas (Ordnung und Gerechtigkeit). Als ausgeschlossen gilt, dass Le Pen und Wilders ihre rote, beziehungsweise braune Linie überschreiten. Hinter der, wiederholen sie seit Monaten, liegen Parteien wie Jobbik, die British National Party, die NPD oder Chrysi Avgi mit ihren unverkennbaren faschistischen, rassistischen, antisemitischen Tendenzen.
So zerfällt die europäische Rechtein drei Lager, wobei sich die vermeintlich gemäßigte Fraktion von denen absetzen will, die sie für zu radikal hält. Ukip und DF haben Vorbehalte wegen der anti­semitischen Vergangenheit des FN, zudem halten auch Wilders’ Tiraden, die sich nicht nur gegen den politischen Islam als reaktionäres Konzept richten, sondern auch gegen Muslime, Farage auf Abstand. Eine Partei wie die niederländische PVV indes kennt durchaus rassistische Denkmuster und Agitation, ist jedoch inhaltlich weit entfernt von NPD oder Jobbik.

Dennoch gibt es in diesem Modell Grauzonen. Wenn etwa die Spitzen von FPÖ und Vlaams Belang sich von Stiefelnazis abgrenzen, hat das auf die Basis nicht unbedingt flächendeckende Wirkung. Marine Le Pen distanzierte sich von ­ihrem Vater, trat aber bei der Abschlussveranstaltung des Wahlkampfs mit ihm gemeinsam auf. Filip Dewinter, eine Ikone der Vlaams Belang, zeigte sich unlängst beim Plakatieren in einer Uniformjacke der kroatischen paramilitärischen Einheit HOS mit aufgenähtem Keltenkreuz auf dem Ärmel. Die Ähnlichkeit zur White-Power-Symbolik sei unbeabsichtigt, die Jacke das »pure Jugend-Sentiment«, rechtfertigte er sich.
Nigel Farage dürfte sich angesichts solcher Bilder bestätigt sehen. Ob die Trennung möglicherweise aufgehoben wird, wenn sich zwei große rechte Bündnisse jeweils knapp unterhalb der Fraktionsstärke gegenseitig neutralisieren, ist zunächst eine hypothetische Frage. Beim identitären Kurs nämlich ist die EAF zugleich wählerisch und flexibel. Mehrfach betonte Wilders vor der Wahl, es gehe nicht darum, Parteien zu verschmelzen, sondern um eine Kooperation. Deren Umfang ist bewusst übersichtlich gehalten: »Weniger Europa, mehr nationale Souveranität, weniger Migration«.
Die Fraktionsfrage blendet aus, dass eine andere Spekulation des Niederländers nun teilweise ­Realität geworden ist. »Wenn die Ukip mehr als 30 Prozent bekäme und der FN 25 Prozent«, hatte Wilders kurz vor der Wahl geschwärmt, »was das für einen Einfluss auf die nationalen Parlamente hätte! Was würde Cameron tun, wenn jeder Dritte Ukip gewählt hätte? Er würde seine Politik ändern.« Die Mainstream-Parteien vor sich hertreiben – zumindest dafür könnten sich die beiden Fraktionen die Hände reichen.