Neue Bücher über Edward Snowden und die NSA

Verschlüsselung statt Grundgesetz

Glenn Greenwald, Vertrauter von Edward Snowden und an den Enthüllungen über die NSA beteiligt, hat in Deutschland sein neues Buch vorgestellt. Auch andere Autoren haben sich dem Thema gewidmet.

Am Anfang von Ridley Scotts Science-Fiction-Film »Blade Runner« gibt es eine Szene, in der eine Art Amtspsychologe einem Gegenübersitzenden Fragen über dessen Kindheit und die Rolle der Mutter darin stellt. Der Fragende weiß, dass künstliche Menschen, sogenannte Replikanten, kein Unbewusstes haben und auf ödipale Anspielungen nicht reagieren. Wenn dem Befragten also nicht bald ein »Lass Mutti aus dem Spiel, du Schwein«, entfährt, ist er als entlaufener Replikant identifiziert und reif für die Entsorgung. Stattdessen holt er jedoch einen Revolver aus der Tasche und schießt den Psychologen über den Haufen. Das war ein grandios inszenierter Befreiungsakt in Zeiten des »Anti-Ödipus«, und viele Kinogänger der achtziger Jahre wussten dies zu goutieren.

Dass auch Dialoge gewaltsame Aktivitäten sein können, denen sich Unterlegene notfalls mit drastischen Mitteln entziehen sollten, ist seitdem beinahe in Vergessenheit geraten. Manche Macht­konstellationen lassen dem nachdrücklich Befragten als Scheinausweg nur die Möglichkeit, dem Befrager zuzustimmen. Dies verdeutlicht ein Interview in der Welt vom 26. Mai. Die Interviewer stell­ten folgende Spekulation an: Hätte es die NSA in den frühen Jahren der NSDAP gegeben, hätte die US-Regierung erfahren, dass Hitler die SA heimlich mit Hilfe einige Industrieller militärisch bewaffnen ließ und die NSDAP ohne klammheimlich arrangierte Spenden aus dem Ausland vor dem ­finanziellen Ruin gestanden wäre. Und wäre die Reichs­regierung oder die preußische Regierung davon in Kenntnis gesetzt worden, hätte sie die NSDAP verbieten können. Deshalb fragen die Interviewer, nachdem sie den Befragten bei jeder ihrer Überlegungen zu einer Zustimmung gebracht haben: »Gibt es also auch einen positiven Aspekt der Massenüberwachung?« Glenn Greenwald ant­wortet: »Niemand bestreitet, dass es eine legitime Rolle für Überwachung gibt. Menschen, die eine Bedrohung für das Land sind, sollten überwacht werden. Menschen, die Terrorangriffe planen oder sonstwie gefährlich sind. (...) Massenüberwachung macht es nicht leichter, sondern schwerer, Angriffe wie den Anschlag auf den Marathonlauf in Boston zu verhindern.«
Damit geben sich die Interviewer nicht zufrieden: »Im Falle der NSDAP hätte man aber nichts herausgefunden, wenn man nur Hitler überwacht hätte. Er sorgte dafür, dass Gespräche über Waffen oder über Geld strikt konspirativ stattfanden. Damit das auffällt, braucht man einen Haufen von Daten.« Greenwald antwortet: »Wieso? Man hätte das doch auch herausgefunden, wenn man die Nazipartei gezielt überwacht hätte.«
Da hatten sie ihn also vorgeführt, den US-amerikanischen Journalisten und »Überwachungskritiker« Glenn Greenwald, der als Vertrauensperson Edward Snowdens im Guardian erstmals über die NSA-Überwachung berichtet hatte und sich in Deut­schland auf Promotiontour für sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch »Die globale Überwachung« befand. Es war, als hätten sie einem Prediger wider den Klimawandel das Bekenntnis entlockt, ein wenig Klimawandel tue schon recht gut, namentlich klimatisch benachteiligten Regionen Mitteleuropas. Die Eröffnung des Disputs läuft planmäßig auf einvernehmliche Zustimmung zur Massenüberwachung hinaus, da die gezielte Überwachung einer Partei, der im Laufe ihrer weiteren Entwicklung so gut wie ­jeder Deutsche zustimmte, zwangsläufig in eine Massenüberwachung hätte münden müssen. Und so glaubt man bei der Lektüre des Interviews das Grübeln der Theologen des Rechtsstaats zu vernehmen: »Kann nicht vielleicht auch eine Erfindung des Teufels gegen diesen eingesetzt ­werden? Immerhin ist doch auch staatliche Einschränkung der Freiheit die Bedingung unser ­aller Freiheit.«

Doch als sie Greenwald damit kamen, die NSA habe durch einen Hinweis an die deutschen Kollegen Anschläge der islamistischen »Sauerland-Gruppe« vereitelt, hatten die Interviewer der Welt den Bogen überspannt. Der so in die Ecke Gedrängte spielte nun den einzig noch verbliebenen Trumpf aus: die Stasi-Karte. Auch die Stasi habe mit ihrer Massenüberwachung »einige richtig schwere Jungs gefasst«, sagte Greenwald. Daraufhin wechselten die Befrager das Thema, nicht ohne dem Befragten zuvor die Gelegenheit für ein ökonomisches Bekenntnis zu geben: »Der Punkt ist: Mit gezielter Überwachung erreichen
Sie dasselbe. Der Preis der Massenüberwachung steht in absolut keinem Verhältnis zu seinen ­etwaigen Zusatzkosten.« Ja, auch Überwachung sollte sich rechnen, darin war man sich einig.
Es rechnet sich wohl auch der Verkauf von Greenwalds Buch. Bei den Auftritten des Guardian-Redakteurs waren die Säle stets gut gefüllt, der Beifall war herzlich und anhaltend, die Stimmung der Medien oszillierte zwischen empathisch und frenetisch. Alle schienen irgendwie »ihren Greenwald« erkannt zu haben. Die über­bordenden Möglichkeiten solchen Erkennens verdeutlicht ein Bericht der Tageszeitung Junge Welt, in dem es heißt: »Die Ursache der Totalüberwachung sieht Greenwald in der Furcht der herrschenden US-Eliten vor der wachsenden sozialen und ökonomischen Ungleichheit.«
In Greenwalds Buch ist jedoch von sozialen Klassen und ihren Konflikten nicht die Rede, Termini kritischer Gesellschaftsanalyse erscheinen nur beiläufig. Greenwald kommt es vielmehr auf die Darstellung einer Art administrativer Hybris an, motiviert durch den Ehrgeiz staatlicher Apparate, Aktivität und Einfluss durch geschickte Ausnutzung technologischer Innovationen stetig auszudehnen. Insofern verbleiben auch die im Wortsinne nur angedachten gesellschaftlichen Maßnahmen gegen die Überwachung im idealistischen Nebel, aus dem gelegentlich demokratische Idealfiguren wie Thomas Jefferson er­scheinen, der den staatlich zu materialisierenden »Geist der Verfassung« beschwor. Snowden habe, so Greenwald, vorgeschlagen, den Begriff »Verfassung« durch den zeitgemäßen der »Verschlüsselung« zu ersetzen. Wohlwollende Leser mögen Greenwald darin folgen, hier nicht nur das auf individuelle Selbstverteidigung heruntergekommene, einstmals für universell gültig gehaltene, bürgerliche Prinzip der Verfassung wiederzuerkennen, sondern vielmehr eine Neuformulierung ­des schon immer törichten Anspruchs auf persönliches Glück in einer Gesellschaft, die konsti­tutionell auf dem Unglück ihrer Mitglieder beruht.
Greenwald widmet sich in seinem Buch aber auch dem »Menschen Edward Snowden«, ebenso wie das Werk des Guardian-Journalisten Luke Harding, »Edward Snowden. Geschichte einer Weltaffäre«. Man erfährt einiges über Snowden, zumindest ab seinem 18. Lebensjahr, seine Freunde und Lebensgefährtinnen, was will der Leser mehr. Snowden als US-Patriot, skeptisch gegen Einwanderer und andere »Schmarotzer«. Snowden als gläubiger Anhänger des american way und als Spen­der für Kampagnen eines ultrakonservativen Präsidentschaftskandidaten, der mit obskuren Theorien über das Sexualverhalten von Nichtweißen glänzt. Und dann der Snowden, der beginnt, sich Gedanken zu machen, statt Hamburger zu vertilgen, der über die Resultate seiner Arbeit als junger Geheimdienstmitarbeiter nachzudenken beginnt und seine Reflexionen als Angehöriger einer privaten, der NSA zuarbeitenden Firma fortsetzt, der vor allem durch die mörderischen Drohneneinsätze der Obama-Regierung verunsichert ist und nach Auswegen sucht. Gerade deutschen Lesern könnte diese Schilderung exemplarisch zeigen, dass bei aller sozialer Zurichtung und vollzogener Verblendung der legendäre Einzelne zumindest Nein sagen und sich so als soziales Wesen definieren kann.
Hardings Buch trieft nicht nur vor Pseudopersönlichem mit Sätzen wie: »Für die drei Journalisten verschwammen die Tage in Hongkong immer mehr ineinander: eine Serie von zermürbenden Arbeitsperioden voller Aufregung, Adrenalin und Paranoia.« Es gibt auch Pseudodokumentarisches wie etwa im »Weltspiegel«: »Mit der geschnittenen Version in der Tasche sprang er in das nächste Taxi, um zurück zu seinem Hotel in das Stadtteil Central zu fahren. Der Taxifahrer fragte ihn im Singsang-Englisch: ›Wollen Sie Mädchen sehen? Sind billig! Sehr schön! Sie mögen asiatische Mädchen?‹« Das Buch liefert darüber hinaus eine im gewohnten Medienstil gehaltene, das heißt durchaus unterhaltsame Darstellung der »Weltaffäre« von der Geburt des Helden bis vor ein paar Wochen – und es passt wirklich in jede Jackentasche, von einem camouflierten E-Book-Hype kann hier also keine Rede sein.

Anders das voluminöse und schwergewichtige »Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung« der Spiegel-Journalisten Marcel Rosenbach und Holger Stark. Auch dieses Werk will seine Leser zunächst mit Persönlichem fesseln: »Edward Snowden hat zwar keinen Highschool-Abschluss, aber er hat einen Traum.« Nicht zufällig verweist der Titel auf das Buch der »Baader-Meinhof-Komplex« des vormaligen Spiegel-Chefredakteurs Stefan Aust. Die Verwendung des Terminus »Komplex« deutet im zeitgenössischen Mediensprech die Absicht an, einen Gegenstand möglichst »vieldimensional« darzustellen, dem Leser soll also die Hoffnung gemacht werden, in der »komplexen« Darstellung möglicherweise mehr zu erfahren als aus den »linearen« alltäglichen Berichten. Weit gefehlt. Stattdessen erhält man eine gut lesbare Kompilation aller Artikel von Spiegel und Spiegel Online zum Thema NSA, wenngleich gerechterweise festgestellt werden muss, dass auch die Zuarbeit der deutschen »Partnerdienste« relativ ausführlich behandelt wird.
Der »NSA-Komplex« schließt mit einem Zitat des nonkonformistischen US-Philosophen Henry David Thoreau von 1849: »Wenn das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz.« Gut gebrüllt, nostalgischer Löwe, der du dich zu gern von »Mutti Merkel« kraulen ließest. Vergangene Woche entschied das Bundesverwaltungsgericht, die flächendeckende, anlassungebundene Überwachung des internationalen E-Mail- und Telefonverkehrs durch den BND sei durchaus rechts- und verfassungskonform.