Die Gründe des Erfolgs des Front National in Frankreich

Wir sind die stärkste der Parteien

Diesen Anspruch vertritt der rechtsextreme Front National in Frankreich, seit er bei der Europawahl ein Viertel der Stimmen einheimste. Tatsächlich war die stärkste Partei die der Nichtwähler. Doch dem FN gelang es, viele Stimmen von Jungwählern und Arbeitern zu ergattern.

Ausnahmsweise ist man geneigt, aus progressiver Sicht dem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble einmal Recht zu geben. Am Dienstag voriger Woche erklärte er in Berlin: »Nicht nur unsere französischen Kollegen, sondern auch wir müssen uns Gedanken machen, welche Fehler wir gemacht haben, wenn ein Viertel der Wähler für eine nicht einfach rechtsgerichtete, sondern für eine faschistische Partei gestimmt hat.« Das ist zwar insofern Heuchelei, als Schäuble wohl keine Kritik an der deutschen Dominanz in der EU beabsichtigte. Aber seine Charakterisierung des Front National (FN), der soeben knapp 25 Prozent der abgegebenen Stimmen bei den Wahlen zum Europaparlament in Frankreich erhalten hatte, hebt sich wohltuend von den Worthülsen ab, die die Partei als »populistisch« bezeichnen.
Die Nachricht scheint indes nicht bei allen Parteifreunden Schäubles angekommen zu sein. Dies zeigte sich jüngst in den deutschen Partnerstädten jener französischen Kommunen, die seit den Kommunalwahlen von Ende März rechtsextrem regiert werden.

Triberg in Baden-Württemberg beispielsweise ist seit 51 Jahren mit Fréjus an der Côte d’Azur assoziiert. Dort regiert nun der 26jährige rechts­extreme Bürgermeister David Rachline, der in der Vergangenheit auch Kontakte zu dem antisemitischen Ideologen Dieudonné M’bala M’bala unterhielt. Der Triberger CDU-Bürgermeister Gallus Strobel sieht bislang keinen Grund, die Städtepartnerschaft in Frage zu stellen. Die Schwäbische Zeitung berichtete Mitte April über ihn: »Außerdem hält der Bürgermeister den FN auch nicht für rechtsextrem, und konservativ zu wählen, sei legitim. Nach der Wahl hat der Bürgermeister seinem Amtskollegen schriftlich gratuliert, bald möchte er nach Frankreich fahren und sich ein eigenes Bild machen. Er werde die Partnerschaft mit allen Mitteln verteidigen.«
In Belgien und Luxemburg hingegen kündigten drei Kommunen – Farciennes, Avron und Diekirch – ihre Partnerschaft mit nunmehr rechts­extrem regierten Kommunen in Frankreich fristlos auf. Die SPD-regierte Stadt Herne im Ruhrgebiet will ihre Verbindung zu Hénin-Beaumont, dessen neuer Bürgermeister der Generalsekretär des FN, Steeve Briois, ist, »überprüfen«.
Auch in weiten Teilen Frankreichs wird Normalität signalisiert, während die extreme Rechte ihren größten Erfolg seit dem Zweiten Weltkrieg feiern konnte. Die etablierten Parteien machen genauso weiter wie bisher: Der sozialdemokratische Staatspräsident François Hollande und sein Ministerpräsident Manuel Valls erklärten am Tag nach der Europaparlamentswahl, sie könnten ihren »Reformkurs« nur bestätigen. Also jene wirt­schaftsliberale Politik, die nicht einmal mehr in Ansätzen als sozialdemokratisch bezeichnet werden kann und deretwegen die linke Wählerschaft desorientiert ist oder bei Abstimmungen zu Hause bleibt.
Sicherlich muss man vermeiden, der Propaganda des Front National in eigener Sache auf den Leim zu gehen. Er bezeichnet sich nun lautstark immer wieder als »stärkste Partei in Frankreich«. Bereits vor dem Wahltag am vorvergangenen Sonntag hatte er entsprechende Plakate drucken lassen – mit der Aufschrift »Erste Partei Frankreichs« –, die auffällig im Hintergrund prangten, als die Vorsitzende Marine Le Pen in der Wahlnacht vor die Kameras trat. Von einer solchen Situation ist der FN jedoch, trotz seines ersten Platzes bei den Europawahlen, noch weit entfernt. Elf Rathäuser stellen nur einen Bruchteil der französischen Kommunalregierungen dar. Zu Jahresanfang beanspruchte die rechtsextreme Partei offiziell, 74 000 Mitglieder zu haben. Die Erfahrung lehrt, dass der FN in der Vergangenheit regelmäßig nur etwas mehr als halb so ­viele Mitglieder hatte, wie er in der Öffentlichkeit angab.

In der Wählerschaft des FN sind Angehörige der Unterklasse überdurchschnittlich vertreten. Marine Le Pen hat nicht einmal Unrecht, wenn sie in ihrem Spiegel-Interview in dieser Woche unterstreicht, der Unterschied zwischen ihrer Partei und der Alternative für Deutschland (AfD) liege im stärker elitären Charakter der AfD. Auch der FN war noch in den achtziger Jahren vor allem eine Partei radikalisierter Mittelklassenangehöriger und Kleinbürger, die sich von der bürgerlichen Rechten lösten – unter anderem weil sie als Kleinunternehmer, Ladenbesitzer oder Selbständige durch die wachsende Kapitalkonzentration wirtschaftlich um ihre Existenz fürchten mussten. Anders als die britische Ukip oder die deutsche AfD hat der Front National jedoch in den Jahren um 1990 einen tiefgreifenden Wandel in Diskurs und Programmatik vollzogen, eine Art »national-soziale Wende«.
Ausgehend von der Prognose, mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der UdSSR vollziehe sich »der Tod des Marxismus« und überhaupt jeglicher linken Alternative, baute der FN darauf, nun als »Fundamentalopposition gegen das System« erfolgreich zu sein. Dadurch glaubte er, seine bisherige Wählerschaft verdoppeln zu können. Nachdem er bis dahin eher radikalisierte konservative Mittelklassenangehörige angezogen hatte, setzte er nun darauf, nochmals zehn bis 15 Prozent der Wählerschaft von der Linken abziehen zu können. Bislang ist diese Rechnung nur unvollständig aufgegangen. Die beiden unterschiedlichen Wählergruppen, die er anspricht, gleichzeitig zu gewinnen und dauerhaft zu behalten, erwies sich bislang als schwierig, da beide nicht auf denselben Diskurs reagieren.
Derzeit sind es eher die Unterklassenwähler, die beim FN überrepräsentiert sind, während die reaktionären Mittelschichtler oft eher zu den konservativen Parteien zurückkehrten.
Besonders beeindruckend fiel bei den jüngsten Europawahlen das Abschneiden des FN in bestimmten sozialen Gruppen aus. Allerdings ist insofern Vorsicht geboten, als die Statistiken durch die hohe Wahlenthaltung verzerrt sind – im Landesdurchschnitt betrug sie 57 Prozent.
Glaubt man den Statistiken, so wurde in der jüngeren Generation – mit 30 Prozent der Stimmen der unter 30jährigen – und in der Arbeiterschaft – mit 43 Prozent – besonders stark rechtsextrem gewählt. Dabei muss berücksichtigt werden, dass bei diesen gesellschaftlichen Gruppen auch eine weit höhere Enthaltung als im Durchschnitt zu beobachten war und dass ein Teil der Arbeiterschaft zudem nicht die französische Staatsbürgerschaft hat. Dennoch können diese Argumente nicht beruhigen. Bei der deutschen NPD etwa war während ihrer ersten Erfolgswelle von 1966 bis 1969 das Verhältnis umgekehrt: Jugend und Arbeiterschaft erwiesen sich als relativ stabile Bastionen gegen den Einfluss der damals starken NPD.
Aber wie in anderen europäischen Ländern, etwa Österreich oder Dänemark, hat die extreme Rechte seither auch in Frankreich die Wählerschaft der Arbeiter für sich erschließen können. Das Ende der parteikommunistischen Alternative, jedenfalls sofern sie als Trägerin eines anderen Systems auftrat, und die Bekehrung der ­Sozialdemokratie zu marktliberalen Dogmen­ erleichterten dies erheblich. Die Jugend hingegen erscheint relativ stark polarisiert. Die ersten Protestdemonstrationen, die am Donnerstag voriger Woche – auch in Frankreich war Feiertag – gegen den FN stattfanden, wurden überwiegend von Jugendlichen, Oberschülern und Studierenden getragen. Rund 10 000 Menschen protestierten in verschiedenen Städten, davon gut 4 000 in Paris, was jedoch noch ein vergleichsweise zaghafter Anfang ist. Am kommenden Samstag sollen zum einjährigen Todestag des getöteten französischen Antifaschisten Clément Méric neue Proteste stattfinden.

Besonders brisant scheint eine Umfrage zum Wahlverhalten gewerkschaftlich orientierter Lohnabhängiger zu sein, die Mitte voriger Woche publik wurde. Ihre Resultate sind sicherlich mit Vorsicht zu betrachten: Einerseits wird bei den Befragten nicht ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft überprüft, sondern lediglich die subjektive und selbsterklärte »Nähe zu einer Gewerkschaft« abgefragt. Zum anderen ist auch hier wahrscheinlich, dass am vorvergangenen Sonntag die »Partei« der Stimmenthaltung die mit Abstand stärkste war.
Dennoch sind die Umfrageergebnisse insofern aussagekräftig, als bei jeder Wahl seit mindestens 1995 dieselbe Befragung nach demselben Muster durchgeführt wird, so dass zumindest Vergleiche zwischen diesen Ergebnissen angestellt werden können. Die diesjährigen Resultate sind frappierend. Bislang wiesen zwar die Gewerkschaftssympathisanten bei den eher rechten Beschäftigtenorganisationen wie dem christlichen Gewerkschaftsbund CFTC oder der seit jeher antikommunistisch geprägten FO einen hohen Anteil von rechtsextrem Stimmenden auf. Um die 20 Prozent waren hier seit Jahren die Regel. Doch eher links eingestufte Gewerkschaften, wie die Bildungsgewerkschaft FSU oder der Zusammenschluss alternativer Basisgewerkschaften SUD/­Solidaires, waren davon bislang nur in geringem Ausmaß berührt.
Am Sonntag stimmten jedoch 27 Prozent derer, die – wie vage auch immer – eine Sympathie für SUD/Solidaires angaben und die nicht zu Hause blieben, für den Front National. Bei den selbsterklärten Sympathisanten der »postkommunistischen« CGT sind es 22, bei FO 33 und bei den »nicht gewerkschaftlich orientierten« Lohnabhängigen 34 Prozent.
Eine Art Querfront existiert somit zumindest in vielen Köpfen, wenn auch bislang kaum oder gar nicht in den Organisationen: In Frankreich prägt die Links-Rechts-Spaltung bislang – weitaus stärker als in Deutschland – das soziale und politische Leben bis in den Alltag hinein. Doch wenn die eigene soziale Basis, an die man sich etwa bei Betriebsratswahlen wendet, in relevanten Teilen extrem rechts wählt, können davon die Organisationen auf Dauer nicht unberührt bleiben. Und sei es nur, dass sie sich immer weniger trauen, Themen wie den Kampf gegen Rassismus aufzugreifen, den bislang die Mehrzahl der französischen Gewerkschaften mittrug.