Die Politisierung des Fußballs und die organisierte Fan-Szene

Politik auf dem Rasen

Politisierter Fußball hat in Brasilien Tradition. Die Fans des SC Corinthians Paulista, des legendären Vereins, dem auch Sócrates angehörte, beteiligen sich an den sozialen Protesten.

»Corinthians ist wie eine Fahne, die eine Legion von Anhängern zusammenschließt«, sagte Sócrates im Jahre 2009 in einem Interview. Zwei Jahre später starb die Ikone des Traditionsvereines aus São Paulo. Mit seinem Tod verlor der brasilianische Fußball seinen größten Rebellen und die wich­tigste Persönlichkeit eines revolutionären Kapitels der Fußballgeschichte.
Im Jahre 1982 befand sich Brasilien im Umschwung. Die blutige Militärdiktatur verlor immer mehr an Boden und ein politischer Aufbruch zeichnete sich ab, der auch den Fußball erfasste. Nachdem Corinthians-Präsident Vicente Matheus – ein bekennender Unterstützer der Militärdiktatur – abgesetzt worden war, begann mit der Ernennung des linken Soziologen Adílson Alves zum Sportdirektor ein einmaliges Experiment im brasilianischen Fußball: die democracia corinthiana. »Wir haben jede Entscheidung kollektiv getroffen und uns an der gesamten Vereinsführung beteiligt«, so beschrieb sie Sócrates. »Der einfachste Angestellte hatte das gleiche Gewicht wie der Repräsentant des Vereins, seine Stimme hatte den gleichen Wert. Es war alles sehr demokratisch.« Der Verein wurde zu einem wichtigen Sprachrohr der Opposition. Die Spieler trugen auf ihren Trikots politische Botschaften gegen die Diktatur auf den Rasen. »Verlieren oder gewinnen, aber immer mit Demokratie«, lautete ihr Leitspruch. Neben dem jungen Stürmer Walter Casagrande und dem Linksverteidiger und Kommunisten Wladimir war es Sócrates, der dieses einmalige Kapitel der brasilianischen Fußballgeschichte prägte. Der Kinderarzt verkörperte die Antithese zum klassischen Fußballspieler. Als bekennender Linker unterstütze er die »Direitas já«-Bewegung für demokratische Wahlen.
Die democracia corinthiana war nicht nur in Sachen Demokratie ganz vorn, sondern auch sportlich. Der selbstverwaltete Verein gewann im Jahr 1982 überraschend die Meisterschaft. Dennoch fand die Bewegung im Jahre 1984 ein jähes Ende, auch weil Sócrates, enttäuscht vom Scheitern der Direktwahl-Kampagne, nach Italien abwanderte. Nach dem Ende seiner Karriere machte der »Doktor« als bissiger politischer Kommentator und Autor der linken Wochenzeitung Carta Capital weiter von sich reden. Die Leidenschaft für seine große Liebe Corinthians erlosch nie. Der einstige Arbeiterverein verwandelte sich jedoch mit der Präsidentschaft von Alberto Dualib ab dem Jahr 1993 immer mehr zu einem Großunternehmen. Im Jahr 2004 wurde der Verein praktisch Eigentum der Investmentgruppe MSI des russischen Magnaten Boris Beresowski. Aufgrund von Korruption endete diese Verbindung im Jahre 2007. Allerdings konnte dies den Ausverkauf des Vereines nur geringfügig verzögern. Heute ist Corinthians der reichste Verein Lateinamerikas. Von den Visionen der achtziger Jahre und dem selbstproklamierten Anspruch, der »Verein des Volkes« zu sein, ist nur wenig übrig geblieben.

Die neue »Arena Corinthians«, der Austragungsort des diesjährigen WM-Eröffnungsspiels zwischen Brasilien und Kroatien, symbolisiert heute den Wandel des Vereins. Das Stadion befindet sich im Herzen des Bezirks Itaquera, am östlichen Stadtrand São Paulos. Die Gegend ist nicht nur eine der ärmsten der Stadt, sondern auch Hochburg der Corinthians-Fanszene. Für viele Fans ist das auf den Namen »Itaquerão« getaufte Stadion die Erfüllung eines lang gehegten Traums. Viel zu lange musste sich der Verein mit dem Rivalen Palmeiras das Pacaembu-Stadion teilen. Jahrzehntelang scheiteren die Pläne für eine eigene Spielstätte. Nun kommen jeden Tag Fans nach Itaquera, um sich vor ihrem »neuen Zuhause« fotografieren zu lassen. Jedoch unterstützen nicht alle corinthianos das Projekt, auch nicht Danilo Cajazeira, Mitglied des WM-kritischen Basiskomitees und fanatischer Anhänger des Clubs: »Ich liebe Corinthians, aber wollte nie dieses Stadion.« Der Verein ist traditionell der Club der einfachen Brasilianer, vor allem diese sind aber mit der neuen Arena unzufrieden. »Das Stadion befindet sich in einem armen Stadtteil, hat aber keinen Platz für arme Fans.« Die Spielstätte verspricht steigende Eintrittspreise und ein Stadionerlebnis wie in einem Kaufhaus. Zudem müssen die Corinthians-Anhänger, die für ihren Fanatismus und ihre quasireligiöse Loyalität bekannt sind, auf Stehplätze verzichten. Besonders für die torcidas, die organisierten Fangruppen, die auf den brasilianischen Rängen den Ton angeben, kommt dies einem Schlag ins Gesicht gleich.
Die größte und einflussreichste torcida von Corinthians sind die »Gaviões da Fiel« (Falken der Treue). Sie haben über 100 000 eingetragene Mitglieder und sind gleichzeitig eine der bekanntesten Samba-Schulen des Landes. Zur Zeit der Militärdiktatur engagierte sich die Gruppe für die Amnestie von politischen Gefangenen und unterstütze die democracia corinthiana. Im Jahre 2007 war die Gruppe Mitinitiatorin der Kampagne »Dualib raus!«, die sich gegen den damalige Vereinspräsidenten richtete.

Mittlerweile überschatten jedoch gewaltsame Auseinandersetzungen mit verfeindeten Fangruppen das politische Engagement der Gaviões. Die Gewalt auf den brasilianischen Tribünen erreichte in den vergangenen Monaten ihren Höhepunkt. Ende Februar starb in São Paulo ein Fan bei Krawallen. Im März 2012 töteten mehrere Gaviões zwei Anhänger des verfeindeten Vereins der Stadt, Palmeiras. Der Vereinsführung ist die torcida daher immer mehr ein Dorn im Auge. Stadionverbote wurden verhängt, es wurde sogar über ein Verbot der Gruppe diskutiert. Die Repression führte die Gruppe jedoch zu keiner Rückbesinnung auf ihre früheren politischen Ideale. Im Gegenteil: Als Ende April Tausende Mitglieder der Wohnungslosenbewegung MTST unweit der neuen Arena demonstrierten, stellten sich die Gaviões den WM-kritischen Demonstranten entgegen. Sie wollten damit die Besetzung »ihres« Stadions verhindern. Während sich die zweigrößte Fangruppe Brasiliens also entpolitisiert, wollen sich immer mehr Fans des Traditionsclubs nicht mit dem Status quo zufriedengeben. So findet in jüngster Zeit Politik wieder Einzug ins Stadion. Verschiedene Anhänger lancierten in den vergangenen Wochen Kampagnen gegen die Erhöhung der Eintrittspreise und den Ausverkauf des Fußballs. Beim Meisterschaftsspiel gegen Atlético Paranaense aus Curitiba Ende Mai skandierten Tausende Fans Sprechchöre gegen den Vereinspräsidenten Mário Gobbi. Auch beteiligten sich zahlreiche Anhänger des Clubs an den Massenprotesten im vergangenen Jahr und den jüngsten Demonstrationen gegen die Auswirkungen der WM. Gesamtgesellschaftliche Themen werden wieder vermehrt auf die Ränge getragen. Die Gruppe »Antifaschisten Corinthians« kämpft gegen Rassismus im Stadion. Mit den Gaivotas ­Fiéis entstand einer der landesweit ersten LGBT-Fanclubs. Die Gaivotas, gegründet vom Journalisten Felipeh Campos, engagieren sich gegen Homophobie auf dem Platz und abseits davon.
Von einer Repolitisierung des Vereins kann jedoch aufgrund der Kluft zwischen dem Anspruch einiger Fans und der offiziellen Vereinspolitik nicht die Rede sein. Nicht wenige blicken daher wehmütig auf die rebellischen achtziger Jahre zurück, in denen der Verein für kurze Zeit Brasilien aufwirbelte.