Eine Fahrt durch die israelischen Siedlungen der Westbank

Gekommen, um zu bleiben

Die Bevölkerung in den israelischen Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Wer lebt dort und warum? Eine Fahrt mit der Buslinie 148 vom Jerusalemer Bahnhof durch die Siedlungen der Westbank.

Um die Mittagszeit ist der Bus von Jerusalem nach Ariel bis auf den letzten Platz besetzt. Die meisten Passagiere pflegen den typisch konservativen, aber nicht ultraorthodoxen Kleidungsstil: Kippas und manchmal Schläfenlocken für die Männer, lange Röcke und, sofern verheiratet, das charakteristische, über das Haar gebundene Tuch für die Frauen. Die meisten Fahrgäste sind polyglott. Eine Frau spricht wechselnd Hebräisch und Englisch mit ihrer Tochter, man hört Französisch und Russisch. Ein beträchtlicher Teil der Israelis, die auf der anderen Seite der Grünen Linie leben, sind religiöse Neueinwanderer. Vom Jerusalemer Busbahnhof fährt die Linie 148 einmal stündlich die Siedlungen im zentralen Westjordanland an. Endstation ist Ariel, die mit knapp 20 000 Einwohnern viertgrößte jüdische Siedlung, fernab der Grünen Linie nahe der palästinensischen Stadt Nablus gelegen.
Der Bus verlässt Jerusalem in Richtung Norden, allerdings nicht durch das Nadelöhr des Qalandia-Checkpoints, an dem sich der palästinensische Verkehr in die Gegenrichtung oft stundenlang staut. Auch die seit dem Jahr 2002 errichtete Mauer, die im Norden Jerusalems in weitem Bogen bis fast nach Ramallah führt, um die jüdischen Stadtviertel Ostjerusalems Pisgaat Zeev und Neve Ya’acov einzuschließen, bleibt nur eine Randbeobachtung, wenn man im Siedlerbus in Richtung Norden fährt.
Die Linie folgt der Route 60, der zentralen Achse, die das Westjordanland von Süden nach Norden durchzieht. Ursprünglich führte die Straße von Jerusalem durch Ramallah Richtung Norden, doch infolge der zweiten Intifada, während der es zu regelmäßigen Angriffen militanter Palästinenser auf Autos passierender Siedler kam, ließ Israel eine Bypass-Straße bauen. Jetzt ist die Stadtlandschaft des palästinensischen Wirtschaftszentrums Ramallah mit seiner Handvoll Hochhäusern nur noch als Kulisse im Hintergrund zu sehen, wenn der Bus die Siedlung Kochav Ya’acov anfährt.
Am Eingang der Siedlung weist ein Schild auf ein Museum über das jemenitische Judentum, ein Weingut und einen Streichelzoo hin. Die Hinweisschilder unterscheiden sich nicht von jenen diesseits der Grünen Linie. Auch das Logo der Firma, die die Tankstelle betreibt, ist dasselbe wie in Israel. Kochav Yaco’ov wirkt wie ein verschlafener Vorort Jerusalems, kaum 15 Fahrminuten von der Stadt entfernt. Auch von der militärischen Kontrolle des Westjordanlandes durch die israelische Armee ist wenig zu spüren, wenn man im Siedlerbus sitzt. Nur die Straßenkontrollen an den großen Kreuzungen, an denen israelische Soldaten die Autos passierender Palästinenser durchsuchen, erinnern daran, dass man sich nicht mehr im Israel innerhalb der Grünen Linie befindet.
Hier und da nimmt der Bus eine der Abzweigungen und schlängelt sich auf die Anhöhen. Die meisten Siedlungen sind schon von weitem als solche zu erkennen. Im Gegensatz zu den meisten palästinensischen Dörfern liegen sie auf den Hügelkuppen und haben einen charakteristischen Baustil, der sie von den arabischen Ortschaften unterscheidet. Ein Wachposten öffnet die elektronische Schranke, Kontrollen gibt es keine, wenn der Bus der staatliche subvensionierten Busfirma Egged sich nähert.

Die meisten Siedlungen haben ein wenig spektakuläres Ortsbild. Rundstraßen, rote Ziegeldächer, Häuser aus einem Guss. Wären da nicht die grandiosen Aussichten auf die umliegende Hügellandschaft des Westjordanlandes und die vereinzelten Barracken-Outposts auf den Nachbarhügeln, könnte man sich auch in einem deutschen Wohngebiet mit Einfamilienhäusern wähnen. Um die Mittagszeit sind die Straßen bis auf sporadischen Gruppen von Kindern, die aus den Schulen und religiösen Yeshivas nach Hause kommen, weitestgehend leer.
Der Großteil der Bevölkerung ist religiös, die Rollenverteilung der Geschlechter traditionell. Viele Frauen bleiben zu Hause, während die Männer zur Arbeit in die naheliegenden Gewerbegebiete oder in die urbanen Zentren auf der anderen Seite der Grünen Linie pendeln. Durch staatliche Subventionen und Steuererleichterungen verfügen viele Siedlungen über florierende Gewerbegebiete. Alleine im Gewerbegebiet der Siedlung Barkan haben sich 120 Firmen niedergelassen, die rund 5 000 Menschen beschäftigen. Eine der bekanntesten ist der israelische Weinhersteller Barkan Wine Cellars, der hier ab den späten achtziger Jahren ein großes Weingut anlegen ließ und mittlerweile der zweitgrößte Weinproduzent Israels geworden ist.
Mangels Arbeitsmöglichkeiten in den arabischen Ortschaften pendeln auch viele Palästinenser zum Arbeiten in das Gewerbegebiet Barkan, sie machen hier fast 90 Prozent der Arbeiter aus. Das klingt nach etwas mehr Harmonie, als es der Fall ist, denn die meisten Palästinenser arbeiten in den schlechter bezahlten Arbeitsbereichen. Auch die jeweils benutzten Verkehrsmittel sind streng getrennt. Palästinenser und Siedler benutzen verschiedene Busse. Vergangenes Jahr betrieb eine Gruppe von Siedlern Lobbyarbeit bei der Regierung, um aus Sicherheitsgründen den getrennten Transport durchzusetzen.
Der israelische Staat kam den Siedlern nicht nur in diesen Bereich entgegen. Die ökonomischen Aktivitäten der im Westjordanland niedergelassenen Firmen werden durch Steuererleichterungen großzügig subventioniert. Darüber hinaus hat Israel einen Fond eingerichtet, der den Firmen die Gebühren, die die Europäische Union für die Einfuhr von Waren aus israelischen Siedlungen erhebt, erstattet. Die EU hat ein Zollkooperationsabkommen mit Israel und den palästinensischen Gebieten abgeschlossen, das die Siedlungen ausschließt. In den offiziellen Erklärungen europäischer Außenpolitiker werden die Siedlungen protokollhaft »nach internationalem Recht illegal« und ein »Hindernis zum Frieden« genannt. Trotzdem betragen die Importe der EU aus den israelischen Siedlungen immerhin das Fünfzehnfache der Importe aus den palästinensischen Gebieten. Zuletzt waren es 230 Millionen Euro, das sind zwei Prozent der israelischen Gesamtexporte in die EU. Viele der in die EU exportierten Waren aus den Siedlungen sind lediglich mit »Made in Israel« gekennzeichnet. Zwar sind die europäischen Zollbeamten verpflichtet, bei Waren aus Israel die genaue Herkunft der Ware durch die Überprüfung der Postleitzahl zu verifizieren, doch in der Praxis geschieht das selten.
Der israelische Staat subventioniert nicht nur großflächig die ökonomischen Aktivitäten von Firmen jenseits der Grünen Linie, sondern auch die Lebenshaltungskosten jedes einzelnen Siedlers. Wohnraum ist billiger, Immobilienkredite sind subventioniert, Lehrer bekommen höhere Löhne und das Bildungssystem ist gratis. Die staatlichen Ausgaben für einen Israeli innerhalb der Grünen Linie betragen nur ungefähr 40 Prozent der Ausgaben für einen Israeli in den Siedlungen.
Diese großzügigen staatlichen Zuwendungen, zusammen mit dem hohen Bevölkerungswachstum der mehrheitlich religiösen Bevölkerung hat die Anzahl der Siedler im Westjordanland signifikant steigen lassen. 1993, zu Beginn des Friedensprozesses zwischen Yassir Arafats PLO und der Regierung Yitzhak Rabins, betrug die Siedlerbevölkerung im Westjordanland und Ostjerusalem lediglich 240 000 Menschen. Heute leben 560 000 Israelis jenseits der Grünen Linie – fast zehn Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung Israels. Nur eine Minderheit davon, ungefähr 160 000 Menschen, lebt in den quer über das Westjordanland verteilten Siedlungen, welche die Buslinie 148 auf ihrem Weg von Jerusalem nach Ariel ansteuert.

Die Mehrheit der Israelis, die unter dem Sammelbegriff »Siedler« zusammengefasst werden, lebt in den jüdischen Vierteln Ostjerusalems und den großen Siedlungsblocks nahe der Grünen Linie. Allein in den jüdischen Stadtvierteln Ostjerusalems, die seit 1967 errichtet wurden, leben heute ungefähr 200 000 Israelis.
Kaum etwas vermittelt in den jüdischen Stadtvierteln Ostjerusalems den Eindruck einer klassischen Siedlung. Es gibt keine Zäune und keine bewaffneten Selbstschutzeinheiten, die sich mit der Armee koordinieren. Würde die 2011 vollendete Jerusalemer Straßenbahn auf ihrem Weg in die Ostjerusalemer Siedlung Pisgaat Ze’ev nicht in den palästinensischen Stadtvierteln Beit Hanina und Shuafat Station machen, würde man kaum bemerken, dass man sich im mehrheitlich arabischen Osten Jerusalems befindet.
Auch die Bevölkerung in den Siedlungen Ostjerusalems ist keineswegs homogen. Während manche der jüdischen Stadtviertel wie Ramat Eshkol fast ausschließlich von Ultraorthodoxen bewohnt sind, haben andere Viertel wie Pisgaat Ze’ev einen großen Anteil an säkularen Neueinwanderern, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion. Pisgaat Ze’ev erlebte in den vergangenen Jahren sogar einen Zuzug von Palästinensern aus den umliegenden, von der Jerusalemer Stadtverwaltung stark vernachlässigten arabischen Vierteln Ostjerusalems. Was Viertel wie Ramat Eshkol und Pisgaat Ze’ev miteinander verbindet, ist vor allem der hohe Anteil an Menschen mit sehr niedrigem Einkommen. Die Armutsrate der ultraorthodoxen Bevölkerung zählt neben der der arabischen zu den höchsten in Israel, auch wenn der israelische Staat in Wohnraum, Gesundheit und Bildungseinrichtungen für die Ultraorthodoxen investiert.
So wurde ab 1994 das Viertel Ramot Shlomo in Ostjerusalem für die unter Wohnungsnot leidende und schnell wachsende ultraorthodoxe Bevölkerung errichtet. Ein Jahr zuvor war nahe der Stadt Modi’in auf der anderen Seite der Grünen Linie die Schwesterstadt Modi’in Illit gegründet worden. Durch massives Bevölkerungswachstum, Zuzug von ultraorthodoxen Juden aus englischsprachigen Ländern und den gezielten Ausbau der Siedlung stieg die Bevölkerung auf 60 000 Menschen an. Damit ist Modi’in Illit heute die größte israelische Siedlung.
Die fast 40 000 Einwohner zählende Siedlung Beitar Illit ist ebenfalls eine Wohnstadt für die Ultraorthodoxen, die seit den achtziger Jahren südlich von Jerusalem im Siedlungsblock Gush Etzion errichtet wurde. Mit der Stadt El’ad wurde in den neunziger Jahren zwar auch eine Stadt für die Ultraorthodoxen innerhalb Israels gebaut – doch staatliche Subventionen und die Verfügbarkeit von unterdurchschnittlich bezahlten palästinensischen Arbeitskräften machen es für die Baufirmen günstiger, jenseits der Grünen Linie zu bauen.

Mit dem Yesha-Rat verfügen die Siedler über eine Interessenvereinigung, die versucht, ihrer Sache ein modernes, zeitgemäßes Image zu verleihen. Ihr Vorsitzender, Danny Danan, verurteilt die regelmäßig von radikalen Siedlern aus kleinen Outposts ausgehende Gewalt an Palästinensern als »moralisch bankrott und kontraproduktiv«. Der aus Argentinien eingewanderte säkulare Geschäftsmann und IT-Milliardär gilt als die gewandteste öffentliche Stimme der Siedler. Unter dem Titel »Israeli settlers are here to stay« war Danans Haltung 2012 als Gastbeitrag in der New York Times zu lesen. Er argumentiert, der internationalen Gemeinschaft sei besser damit gedient, den Status Quo zu verbessern, anstatt eine perspektivlose Zwei-Staaten-Lösung voranzutreiben.
Neben Danan sitzt mit dem heutigen Wirtschaftsminister Naftali Bennet aus der nationalreligiösen Partei Habayit Hayahudi (Jüdisches Haus) noch ein weiterer IT-Milliardär in der Führungsriege des Yesha-Rats. Bennet schlug während der jüngsten Verhandlungen unter der Regie von US-Außenminister John Kerry eine Annexion von »Area C« vor – jener 60 Prozent Fläche des Westjordanlandes, das unter vollständiger Kontrolle der israelischen Armee steht und auf der sich die meisten Siedlungen befinden. Andere Stimmen aus dem Lager der Siedler schlagen vor, das gesamte Westjordanland zu annektieren. Der palästinensischen Bevölkerung sollen laut diesem Konzept zwar Bürgerrechte in den meisten Bereichen, jedoch kein Wahlrecht zugestanden werden.
Anlässlich Barack Obamas Staatsbesuchs in Israel 2013 verfasste der Rat ein über 70 Seiten umfassendes Strategiepapier für »Judäa und Samaria« unter dem Titel »It’s vital. It’s jewish. It’s realistic«. Zahlen spielen darin eine zentrale Rolle. Laut den Schätzungen der Siedlerstrategen beträgt die tatsächliche Zahl der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und dem Gaza­streifen lediglich 2,5 Millionen Menschen – fast zwei Millionen weniger als gemeinhin angenommen. Die von der palästinensischen Autonomiebehörde verbreitete Zahl von über vier Millionen sei eine gezielte Übertreibung, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern. In Anbetracht der steigenden Wachstumsrate der jüdischen Bevölkerung und des abnehmenden arabischen Bevölkerungswachstums sei es möglich, durch jüdische Einwanderung und arabische Auswanderung über kurz oder lang eine jüdische Mehrheit in Judäa und Samaria zu erreichen, wird darin behauptet. Mit ihren eigenen demographischen Kalkulationen versuchen die Siedlerstrategen vor allem eine Kernthese zu widerlegen, die sich mittlerweile in weiten Kreisen der liberalen, linken und zentristischen israelischen Öffentlichkeit durchgesetzt hat: dass die Aufgabe von großen Teilen des Westjordanlandes unumgänglich sei, wenn Israel seinen Charakter als jüdischer und demokratischer Staat bewahren wolle. Wolle Israel am gesamten Territorium festhalten und dabei demokratisch bleiben, müsste es auch der arabischen Bevölkerung im Westjordanland das Wahlrecht verleihen, was wiederum den Charakter Israels als jüdischen Staat gefährden würde.
Für die israelische NGO Bet Tselem ist es schon lange ausgemachte Sache, dass die Siedlungspolitik Israels demokratischen Charakter untergrabe: Laut Angaben der NGO kontrollieren allein die 121 offiziell anerkannten Siedlungen im Westjordanland 42 Prozent der Landfläche. Einer Umfrage des Truman Institutes aus dem Jahre 2010 unter Siedlern legt zudem noch etwas anderes nahe: Nur ein Drittel der befragten Siedler nannte »nationalreligiöse Motive« als Hauptgrund für ihre Entscheidung, in einer Siedlung zu leben. Fast die Hälfte der Befragten nannte einen anderen Grund: die gute Lebensqualität.
Das gilt allerdings auch umgekehrt. Die meisten der rund 1 271 000 Araber, die in Israel leben und 20 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen, sehen aus dem selben Grunde (der Lebensqualität in Israel) keine Veranlassung, auf die andere Seite der Grünen Linie umzuziehen.