Die Ausstellung der Werke von Mike Kelley in Los Angeles

Die Monster zerstören

Eine Ausstellung in Los Angeles erinnert an den ­verstorbenen Performance- und ­Installationskünstler Mike Kelley.

Auf dem Platz vor der Geffen Gallery des Museum of Contemporary Art in Los Angeles hört man eine Trompete, Tamburingerassel, dann die leicht rauchige Stimme der Schauspielerin und Sängerin Ann Magnuson: »Das Bacchanal hat begonnen, ein Tribut an Mr. Mike Kelley!« Die Musiker stehen in einem Zelt aus Patchworkdecken voller Omakissen. Ann Magnu­son trägt eine fliederfarbene Toga und einen Kranz aus Weinreben, der Akkordeonspieler Mark Plainguet ist als knallrot bemalter Teufel gekommen. Die Band beginnt mit dem Lied »Sex With the Devil«, es folgen »Talent Is a Vampire, Talent Is a Whore und »Miss Pussy Pants«, das Kelley und Magnuson 1995 für das Album »The Luv Show« gemeinsam aufgenommen haben.
Für eine Stunde versammeln sich lokale Drag- und Burlesque-Künstler wie Glen Meadmore, die dadaeske Tranimal-Dragqueen-Gruppe Squeaky Blonde und kunstbegeisterte Passanten, um den, wie Magnuson sagt, »paganen Gott der Kunst« zu feiern. An einem Maibaum werden Stofftiere geopfert, in einem »Satyrzelt« treten zwei halbnackte Tänzer auf, während eine Frau in Lackunterwäsche posiert und dabei rosa Blütenblätter isst. Ein Mann hat sich eine »Kissing Booth« aus Pappe über den Kopf gezogen, aus der er mit gelb bemaltem Mund jeden küsst, der an einer seitlich angebrachten Strickkordel zieht. Ein in Strickdecken gehülltes Schneewittchen mit Pinocchio-Nase und fleischfarbener Seidenstrumpfhose über dem Gesicht und ein Mann im Stars-and-Stripes-Ganzkörperanzug sind mit Stofftieren behangen, ein anderer Mann bittet um Brot und hält unter der 30 Grad heißen Sonne kniend ein Stück Butter in die Höhe, eine Stunde lang.
Das Bacchanal veranstaltete Magnuson am 18. Mai zum Andenken an den Künstler Mike Kelley, dessen Werk in einer großen Retrospektive in der Geffen Gallery auf 3 700 Quadratmetern gezeigt wird. Die Ausstellung wurde erstmalig 2012 in Amsterdams Stedelijk-Museum gezeigt, danach im Centre Georges Pompidou in Paris und im MoMA in New York.
1954 in Detroit geboren, verbrachte Kelley seine Kindheit mit seinen Lieblingsbeschäftigungen, Lesen und Nähen; Aufsehen erregte er, als er einmal im selbstgenähten Kleid in die Schule ging. Er widersetze sich Autoritäten, verehrte William S. Burroughs und gründete während sei­nes Studiums die Punk-Band Destroy all Mon­sters. Kelley lebte bis zu seinem Selbstmord 2012 in Los Angeles, der Stadt, in die 1976 gekommen war, um am California Institute of the Arts zu studieren.
Als einer der bedeutendsten Gegenwartskünstler schuf Kelley unzählige Werke in den verschiedensten Genres und Medien: Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen auf Papier, Installationen, Performances, Videos, Fotografien, Texte und Musik. Er unterrichtete, kuratierte, arbeitete mit Sonic Youth, Cameron Jamie, Paul McCarthy, Mike Smith, Anita Pace und Prina zusammen.
All die Traumata, sexuellen Wünsche und Todesvorstellungen des oft juvenilen Selbst verwob Kelley zu einem riesigen konzeptuellen, humorvollen Projekt. Der Überfluss und die oft verwirrende Vielfalt des Werks werden in der Ausstellung auf eindrucksvolle Weise sichtbar.
Zu den frühen Werken Kelleys gehören die robusten »Birdhouses« (1978), die als Abschlussprojekt seines Kunststudiums entstanden. Die schlichten weißen Vogelhäuschen sind mit Titeln wie »Gothic Birdhouse« oder »Catholic Birdhouse«. versehen Mit den Vogelhäuschen verbindet der Künstler die Themen Kindheit, Häuslichkeit, Erwachsenwerden und Moral – wiederkehrende Motive in seinem Werk.
Für Kelley war die von Jean-Jacques Rousseau geprägte Vorstellung, dass die Kindheit ein Zustand moralischer Unschuld sei, eine Fiktion. Die Jugend, so sah er es, sei geprägt von einem tiefen Verständnis vom Schmerz des Erwachsenwerdens. So zeigt die Installation »Educational Complex« (1995) am Beispiel verschiedener Institutionen wie Familie, Kindergarten, Grundschule und Universität Ausbildung als institutionellen Legitimationsprozess. Die unfertigen Gebäude symbolisieren die Verdrängung von Kindheitstraumata.
1987 begann Kelley mit Secondhand-Stofftieren zu arbeiten. Ein Teppich aus Stofftieren mit dem Titel »More Love Hours Than Can Ever Be Repaid and The Wages of Sin« (1987) war Durchbruch und Skandal zugleich. Kelley sagte in einem Interview mit der Kuratorin Eva Meyer-Hermann: »Die alten, dreckigen Stofftiere ließen das Publikum sofort an Kindesmissbrauch denken. Diese Reaktion überraschte mich sehr (… ). Mir war nicht klar gewesen, was für ein starkes Glaubenssystem Kindesmissbrauch war. Wir lebten mitten in einer epidemischen Angst vor Kindesmissbrauch (…). Ich merkte, dass diese Angst auf mich, den Künstler, projiziert wurde; eine Interpretation war, dass ich selbst als Kind missbraucht worden war.«
»Ahh … Youth« (1991) heißen Kelleys berühmte Cibachrome-Drucke, die sieben alte Stoff­tiere und ein Selbstporträt zeigen. Die aneinandergereihten Bilder erinnern an Abitur-Jahrbücher und unheimliche Puppen. Sie wurden zu einem Markenzeichen, nachdem Sonic Youth sie für das Cover ihres neunten Albums »Dirty« verwendet hatten.
Ödipalisierung und triebhafte Durchbrechung des Tabus sind ein widerkehrendes Motiv. Kindliche Wünsche werden ebenso thematisiert wie Übergriffe Erwachsener. Der »Banana Man« (1983) – eine Bearbeitung der amerikanischen Kinder-TV Figur der Serie »Captain Kangaroo« – zeigt seinen Penis in Bananenform. Auf einer Zeichnung der Serie »From My Institution to Yours« (1987/2003) schaut ein Junge einem Mädchen mit der Frage »Hey! Wo ist deiner?« in die Unterhose, eine Anspielung auf den Kastrationskomplex.
Skatologie und Eschatologie sind zwei weitere Themen in Kelleys Werk, sie verweisen auf die körperlich-sexuelle Konnotation des Heiligen. Die Zeichnungen »Monkey Island Part II« (1985) ist eine sexuell aufgeladene, teenagerhafte Kosmologie aus Affen mit überdimensionalen roten Gesäßen und Steaks in Vaginaform. Mit der dreigeteilten Zeichnung und dem darüber angebrachten kleineren Bild eines nackten, einen phallischen »Geist« anbetenden Mannes mit Heiligenschein ironisiert Kelley die christliche Ikonographie dreigeteilter Triptycha.
Auf dem Foto-Dyptichon »Manipulating Mass-Produced Idealized Objects« und »Nostalgic Depiction of the Innocence of Childhood« (1990) masturbieren ein Mann und eine Frau auf Stofftieren in ihren Fäkalien – eine drastische Interpretation der kindlichen Sexualphantasie; die schlichten Holzwände im Hintergrund erinnern an Kellerräume und die Heimlichkeit solcher Experimente.
Los Angeles ist das Thema seiner Installation »Chinatown Wishing Well« (1999). Die felsige, von Höhlen durchzogene Miniaturlandschaft ist mit Buddhas und Jesusfiguren verziert. Die Installation beschäftigt sich mit der Architektur Chinatowns, die Höhlen symbolisieren die Nachtclubszene der achtziger Jahre. Die in einem separaten Raum ausgestellte plastikbunte Installation »Kandor« (1999–2011) – Supermans Stadt auf dem Planeten Krypton – versinnbildliche, so Kelley in einem Interview, Detroit als verlorene Stadt der Kindheit.
Viele seiner Werke sehen aus, als müssten sie schlecht riechen. Sie sind infantil und brillant zugleich. Für Philippe Vergne, Direktor der Ausstellung, hat Kelley die Weise, in der wir über Kunst nachdenken, revolutioniert, bildende Kunst zu einem Teil von Musik- und Populärkultur gemacht und eine bedeutende Veränderung unseres Kunstverständnisses bewirkt.
Ausstellung und Bacchanal veranschaulichen die Vielfalt Kelleys. Karnevaleskes Durchdrehen, helle Verspieltheit, burlesk-sexuelle Naivität, bittere Ironie, Gewalt, Comic, Punk, Teenager-Sex, Anarchie und Kampf gegen das Establishment, LSD, Hippiefeste in den Wäldern Detroits, Andy Warhol, Politik, Geschichte, Bibel und Literatur ergeben, wie Ann Magnuson es nennt, »eine große Schale Bowle, versetzt mit etwas Illegalem«.