Vor 30 Jahren starb der portugiesische Künstler António Variaçoes

Zwischen Braga und New York

Vor 30 Jahren starb der portugisische Musiker, Barbier und Lebenskünstler António Variações. Innovativ war nicht nur seine von Fado und David Bowie inspirierte Musik. Der mit Camp-Accessoires spielende Laienkünstler bekannte sich auch als einer der Ersten seiner Generation zu seiner Homosexualität.

Triumph und Tragödie liegen nie so nah beieinander wie nach gewonnenen Revolutionen. Die Zeit unmittelbar nach dem demokratischen Umsturz im Jahre 1974 in Portugal war geprägt von der gesellschaflichen Liberalisierung. Es herrschte ein Gefühl des Aufbruchs, es ging darum, Verpasstes in möglichst kurzer Zeit nachzuholen. Denn die faschistische Diktatur des Volkswirtschaftsprofessors António de Oliveira Salazar hatte über mehr als vier Jahrzehnte versucht, das Land in seiner Rückständigkeit zu halten: Ende der Sechziger betrug die Analphabetenrate in Portugal noch fast 40 Prozent, ein Drittel der Bevölkerung war in der Landwirtschaft angestellt und die Katholische Kirche war vom Regime als alleinige Wächterin über moralische Fragen anerkannt. Salazars Nachfolger, Marcelo Caetano, kündigte zwar 1968 Reformen an, blieb aber dem autoritären Stil seines Vorgängers verhaftet. Die sinnlosen, brutalen und schließlich auch unpopulären Kriege in den portugiesischen Kolonien Afrikas führten zu einer weiteren Delegitimation des Regimes und schließlich auch zu dessen Sturz.
In der Folge veränderte sich Portugal nicht nur politisch, sondern vor allem auch gesellschaftlich und kulturell. Die portugiesische Hauptstadt Lissabon war in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ein lebendiger und chaotischer Ort. Politische Debatten und Streiks waren an der Tagesordnung, Hippies aus ganz Europa tummelten sich in der Innenstadt. Vor allem war es ein Ort, an dem sich nach Jahrhunderten der Repressionen langsam eine Homosexuellen- und Drag-Kultur entwickeln konnte. Es öffneten Läden wie der Scarllaty Club, mit seinen bekannten Travestie-Shows, der Schwulen-Club »Trumps« und Läden wie die Schwulen-Bar »Memorial« erfuhren starken Zulauf. Aber auch in anderen Bereichen vollzogen sich Änderungen: So entstand 1976 der erste Unisex-Friseursalon in Lissabon von Isabel Queiroz do Vale, der zu Beginn ein Skandal war, schnell aber zu einem großen Erfolg wurde, so dass die Kunden lange Schlangen bildeten. Auch musikalisch vollzog sich eine Wende, weg von den traditionellen Klängen des Fado und der schmalzigen Balladen hin zu ernster Rock- und Popmusik mit Musikern wie UHF, Rui Veloso, GNR, Heróis do Mar – und vor allem António Variações.
Der Musiker ist exemplarisch für diese Zeit und wirkte an vielen dieser Entwicklungen entscheidend mit. Er steht für die Ambivalenz der portugiesischen Revolution. Bis heute gilt seine musikalische Mischung aus David Bowie, Talking Heads und traditionellen portugiesischen Elementen als wegweisend für die Popmusik Portugals. Seinen Musikstil umschrieb Variações einmal als »etwas zwischen Braga und New York«, eine Anspielung auf die Region, in der er aufgewachsen war, und sein Leben in der US-amerikanischen Metropole. Variações versuchte in seiner Musik die Gegensätze zu vereinen. Dabei blieb sein Œuvre mit gerade einmal zwei veröffentlichten Langspielplatten und einer Single überschaubar. Seine Bedeutung ergibt sich aus der Kombination eines unkonventionellen, zuweilen exaltierten Auftretens mit Texten, die einer ganzen Generation aus der Seele sprachen. Seine Lebensgeschichte ist mehr als die eines Musikers, sie ist auch die Geschichte der soziokulturellen Veränderungen in Portugal in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.
Variações kam am 3. Dezember 1944 als António Joaquim Rodrigues Ribeiro in dem kleinen nordportugiesischen Bergdorf Lugar do Pilar zur Welt und starb mit gerade einmal 39 Jahren in Lissabon vermutlich an den Folgen einer HIV-Infektion. Es war ein Leben, das wie ein Stern aufleuchtete, nur um im nächsten Moment zu verlöschen.
Seine Biographie liest sich zunächst wie so viele andere zu jener Zeit. Variações stammte aus dem ländlichen Teil Portugals, dort, wo man den Lebensunterhalt mit dem kleinen Acker bestritt, der sonntägliche Kirchgang fester Bestandteil des Lebens war, die Dorffeste den Höhepunkt des Jahres darstellten und die Jugend sich aufgrund fehlender Perspektiven möglichst schnell in die Großstadt davonmachte. Als eines von insgesamt elf Kindern einer Bauernfamilie war Variações’ Kindheit durch enge familiäre Bande geprägt, die bedeuteten, dass er bereits in jungen Jahren dem Vater bei der Arbeit auf dem Feld zur Hand gehen muss­te. Die Zeit während des Zweiten Weltkriegs und danach war entbehrungsreich, bestimmt von rationierten Mahlzeiten, Armut und Perspektivlosigkeit. Mit zwölf Jahren musste Variações auf Wunsch der Eltern eine Schreinerausbildung beginnen, die er bereits wenige Monate später abbrach, um 1957 schließlich in der knapp 400 Kilometer entfernten Hauptstadt sein Glück zu versuchen. Dort schlug er sich mit verschiedenen Aushilfsjobs durch, lernte aber vor allem das urbane Leben und seine Freiheiten schätzen. Von 1966 bis 1970 leistete er seinen Wehrdienst ab, wurde kurzzeitig auch im Kolonialkrieg in Angola eingesetzt und lebte anschließend bis 1972 als Hausangestellter in London.
In der Zeit danach lernte er Fernando Ataíde kennen, der in einem bekannten Friseursalon arbeitete. Mit Ataíde pflegte er eine langjährige intensive Beziehung. Es war wohl nicht zuletzt diese Bekanntschaft, die ihn schließlich dazu brachte, sich für den Beruf des Friseurs – oder des Barbiers, wie Variações es stets nannte – zu entscheiden und in Amsterdam eine Ausbildung zu machen. Dort erlernte er sein Handwerk und genoss das ungezwungene Großstadtleben: Er besuchte Nachtclubs und Schwulenbars und ging eine Beziehung mit dem Holländer Jello Balder ein, die bis zu seinem Tod andauerte. Im Jahre 1976 kehrte er nach Lissabon zurück, begann seine Arbeit im Salon von Isabel Queiroz do Vale und entwickelte sich zu einer der markantesten Figuren Lissabons: Er trug bunte, auffällige Kleidung, Ohrringe, einen langen, zumeist gefärbten Vollbart und trainierte seinen Körper täglich im Fitnessstudio. Das war selbst für die postrevolutionäre portugiesische Gesellschaft ein ständiger Affront.
Dabei ging es Variações nicht so sehr um die Provokation als vielmehr um das Ausprobieren von Ausdrucksmöglichkeiten. In einem Interview Anfang der achtziger Jahre ging er auf diesen Punkt ein und erklärte seine Absicht: »Ich mag die Zurschaustellung und das Lächerlichmachen traditioneller Vorstellungen nicht. Genauso verlange ich aber von anderen Respekt mir gegenüber. Ich habe mich nie deshalb so angezogen, wie ich es tue, um andere zu provozieren, sondern als Akt der Freiheit für mich ganz persönlich, aus Freude.«
»Senhor António«, wie er sich von seinen Kunden nennen ließ, war einer der gefragtesten Friseure, nicht nur der Künstlerszene, sondern all derjenigen Frauen und Männern, die im Lissabon der späten Siebziger etwas auf sich hielten. Er wechselte später zu einem weiteren bekannten Friseursalon, dem »Beata«, und eröffnete schließlich 1979 sein eigenes Geschäft, »É Pró Menino e Prá Menina«. Die Nächte verbrachte er häufig zusammen mit Ataíde in den einschlägigen Clubs wie »Trumps«, wo er sich als Haarkünstler an zahlreichen Performances beteiligte. Doch seit frühester Jugend war seine eigentliche Passion die Musik. In seinem Elternhaus wurde viel musiziert, eine musikalische Ausbildung erhielt er jedoch nicht. »Die Musik ist meine eigentliche Berufung«, sagte er später in einem Interview. »Ich hoffe, dass ich mit der Musik genauso viel Erfolg haben werde wie mit den Haaren.« Er hatte diesen Traum nie aus den Augen verloren und konnte ihn Ende der siebziger Jahre mit Unterstützung seiner Künstlerfreunde verwirklichen. Dennoch sollte es noch dauern, bis er sein Ziel erreichte.
Variações hatte ab 1977 mit wechselnden Musikern in einem Proberaum im Lissaboner Stadtviertel Graça erste Schritte unternommen. Unter dem Namen »António & Variações« hatte er immer wieder kleinere Auftritte, aber es fehlten Kontinuität und Professionalität. In der Folge nahm er einige Tapes auf und brachte diese persönlich zur Plattenfirm Valentim de Carvalho. Seine Hartnäckigkeit zahlte sich aus: Im darauffolgenden Jahr unterschrieb er dort einen Plattenvertrag. Bis zur ersten Veröffentlichung dauerte es dennoch weitere vier Jahre.
Ersteinmal hatte er Auftritte im Club Trumps, 1980 wurde er in die Rocksendung »Meia de Rock« beim Radiosenders »Renascença« eingeladen, es folgte sein erster Fernsehauftritt im darauffolgenden Jahr in der populären Show »Passeio dos Alegres«. Dennoch rührte sich die Plattenfirma nicht. Erst nachdem sich sein Bruder João, der Rechtsanwalt war, eingeschaltet hatte, meldeten sich die zuständigen Mitarbeiter von Valentim de Carvalho. Die Aufnahmen konnten beginnen.
Allerdings gab es ein paar Probleme: Variações war zwar äußerst musikalisch, hatte ein Gefühl für Melodien und Rhythmus, konnte aber weder Noten lesen noch ein Instrument spielen. Mit der Unterstützung exzellenter Musiker und Produzenten konnten die Aufnahmen dennoch fertiggestellt werden. Im Juni 1982 erschien schließlich die erste Maxi-Single von Antonio Variações, wie er jetzt offiziell hieß. Auf der Platten gab es zwei Lieder: »Estou Além« sowie eine sehr eigenwillige Cover-Version des Fado-Liedes »Povo que lavas no rio« von Amália, der sogenannten Königin des Fado. Die Platte war ein Ärgernis für alle Traditionalisten des Genres, wurde aber ein voller Erfolg. Variações erfuhr endlich die Zustimmung zu seiner Arbeit, die er sich so lange erhofft hatte. Es folgten Auftritte im Fernsehen und auf großen Bühnen. Schnell hatte Variações eine große Anhängerschaft. Seine Musik traf den Nerv der jungen Leute, seine Stimme wurde zu einem Markenzeichen, exaltiert, anders, neu, wie der Sänger selbst. Die Musik bewegte sich zwischen Discopop, Post-Punk, Experimental Rock und portugiesischer Volksmusik.
Variações befand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Single begann er die Arbeit an seinem ersten Album. »Anjo da Guarda« erschien 1983 und wurde ein großer Sommerhit. Die Texte behandelten alles, was über so viele Jahrzehnte in Portugal verpönt war: Individualismus, Differenz, Sexualität und Lebensfreude.
Der Erfolg ließ Variações nicht ruhen, er stürzte sich in die Arbeit wie ein Besessener, der wusste, dass seine Zeit nicht mehr ausreichen würde. Bereits Ende Februar 1984 waren die Aufnahmen für seine zweite Platte »Dar & Receber« abgeschlossen. Aber Variações sollte die Veröffentlichung nicht mehr erleben. Im Mai wurde er stark abgemagert, hustend und mit Infektionen ins Krankenhaus eingeliefert. Therapien und Medikamente schlugen nicht an, es handelte sich um eine den portugiesischen Ärzten unbekannte Erkrankung.
Während seines Leidens wehrte sich Variações ein einziges Mal. Als ihm die Schläuche für die künstliche Ernährung eingeführt werden sollten, soll er geschrien haben: »Ich bin Sänger! Das könnt ihr nicht mit mir machen!«. So erinnern sich Freunden und Familienangehörige. Doch alles half nichts, sein Immunsystem war schon zu sehr angegriffen. In der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1984, während vor den Fenstern des Krankenhauses Feuerwerk und Musik das traditionelle São-João-Fest einläuteten, starb er.
Schon bald nach seinem Tod kamen Gerüchte über eine Aids-Erkrankung auf. Obwohl sich die Familie stets gegen Spekulationen über eine Aids-Erkrankung gewehrt hat, waren die engsten Freunde überzeugt, dass Variações an den Folgen der Immunschwächekrankheit gestorben war. Ein Jahr nach seinem Tod starb auch sein Freund und zeitweiliger Lebensgefährte Ataíde an der Krankheit. Die Managerin von Variações, Teresa Couto Pinto, machte keinen Hehl aus ihrer Vermutung. »Er hat sich die Krankheit in New York eingefangen. Als er mir drei Jahre vor seinem Tod alle die Verrücktheiten erzählt hat, die er während seiner Reisen nach New York ausprobiert hat, hatte ich ihm bereits gesagt: ›António, hast du keine Angst, dir dabei irgendeine Krankheiten einzufangen?‹«
Heute, 30 Jahre nach seinem Tod, wird Variações als Avantgarde-Musiker wiederentdeckt. Das größte Musikfestival Portugals, das »Rock in Rio«, war in diesem Jahr ihm gewidmet. Sein Beitrag zur gesellschaftlichen und kulturellen Emanzipation und sein Engagement für andere Lebensentwürfe in Portugal gehen dabei bedauerlicherweise ein wenig unter.