Die geopolitischen Folgen des Krieges im Irak

Der größere Krieg

Der Irak ist erneut zum Schauplatz eines regionalen Krieges geworden, dessen geopolitische Folgen die Verhältnisse im Nahen Osten verändern werden. Bedeutend für die Entwicklung in der Region werden auch die Kurden sein.

Als am Horizont die Pick-Ups mit den schwarzen Fahnen des »Islamischen Staates im Irak und Syrien« (Isis) auftauchten, war General Mahdi al-Gharawi einer der ersten, die davonrannten. Der erst kürzlich vom irakischen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki als Oberbefehlshaber der Truppen in Mossul eingesetzte schiitische Offizier dürfte dabei weniger die Jihadisten als die Rache der Bevölkerung gefürchtet haben. Die von ihm befehligten Truppen hatten sich nämlich eher wie Besatzer in feindlichem Territorium aufgeführt, Bewohner Mossuls beklagten sich seit langem über Menschenrechtsverletzungen der Armee, die Gefangene foltern oder extralegal hinrichten ließ. General al-Gharawi gehört eigentlich selbst ins Gefängnis, gegen ihn lief bis 2010 ein Verfahren wegen systematischer Übergriffe auf sunnitische Bewohner Bagdads.
Kaum aber hatten die Amerikaner den Irak verlassen, amnestierte Maliki den Mann und ver­setz­te ihn nach Mossul. Eine Geschichte unter vielen, die erklären, warum Malikis Regierung unter sunnitischen Arabern so verhasst ist, dass vie­len von ihnen Isis als das kleinere Übel erscheint.
Niemals wäre es den paar tausend Jihadisten gelungen, in so kurzer Zeit bis vor die Tore Bagdads zu gelangen, hätten sie in den Gebieten des sunnitischen Dreiecks nicht zahlreiche Unterstützer und Alliierte. Ob Anhänger der alten Ba’ath-Partei, wie die sogenannte Naqshbandi-Armee, oder Stammesführer und Vertreter diverser sunnitisch-islamischer Organisationen, alle reklamieren nun, erst gemeinsam habe man für die schmähliche Niederlage der irakischen Armee gesorgt.

Allerdings treten bereits erste Konflikte in dieser Koalition auf, kurdische Medien berichten von Gefechten zwischen Naqshbandi und Isis, da die Jihadisten die alleinige Kontrolle über die eroberten Gebiete für sich beanspruchten. Selbst wenn der Hass auf Maliki und den Iran sie eint, bleibt, wie schon in der Vergangenheit, die sunnitische Region politisch zersplittert und desorganisiert.
Isis zielt auf die Errichtung eines transnationalen Khalifats unter strikter Anwendung des islamischen Rechts. Altba’athisten, die die Niederlage von 2003 nie überwunden haben, träumen weiter davon, eines Tages wieder die Macht über den ganzen Irak zu übernehmen, die meisten anderen sunnitischen Führer dagegen gäben sich inzwischen wohl mit der Bildung einer neuen Regierung und einer autonomen Selbstverwaltung der sunnitischen Gebiete nach Vorbild Irakisch-Kurdistans zufrieden.
Den Kämpfern von Isis dürfte klar sein, dass es sich um ein fragiles Zweckbündnis handelt, und sie wissen aus eigener leidvoller Erfahrung, wie schnell sunnitische Gruppe im Irak die Seiten wechseln können. Schon jetzt behaupten einige Milizführer, sie wären, käme es zu den geforderten Veränderungen in Bagdad, durchaus in der Lage, die Kämpfer mit der schwarzen Fahne wieder aus dem Land zu jagen.
Ihr Hinterland bleibt also unsicher, auch der Vormarsch auf Bagdad wurde vorerst beendet. Schließlich ist die irakische Armee nicht gänzlich zerfallen, sondern reorganisiert sich, während Tausende von Freiwilligen zu den Rekrutierungsbüros schiitischer Milizen strömen. Besondere Angst haben die Kommandeure von Isis vor der irakischen Luftwaffe. Ihre Nachschubkonvois in der westirakischen Wüste können leicht aus der Luft angegriffen werden und überhaupt ist fraglich, ob sie für einen längeren aufreibenden Stellungskrieg an mehreren Fronten gerüstet sind.

Ohne Unterstützung in den sunnitischen Gebieten wird es der irakischen Armee allerdings kaum gelingen, im Norden und Westen des Landes verlorene Territorien zurückzuerobern. So hängt nun viel davon ab, ob sich in Bagdad Nouri al-Maliki an der Macht hält, der bislang auf eine rein militärische Lösung setzt. Seit Jahren schon fördert und finanziert er mit Unterstützung des Iran irreguläre schiitische Milizen, wie etwa die auch in Syrien auf Seiten von Bashar al-Assad eingesetzten al-Haq-Brigaden, die an Brutalität Isis kaum nachstehen und sich ebenfalls in einem sunnitisch-schiitischen Endzeitkrieg wähnen.
Isis heizt mit Massakern an Schiiten den interkonfessionellen Hass gezielt an, eine Strategie, die auch der iranischen Führung lange Zeit gelegen kam, konnte sie so als vermeintliche Schutzmacht der Shia doch ihren Einfluss im Irak immer weiter ausbauen.
Malikis Entscheidung, nun ganz offen iranische Truppen zu Hilfe zu rufen – Einheiten der al-Quds-Brigaden sollen schon in verschiedenen Teilen des Landes operieren –, bestärkt die aufständischen sunnitischen Araber in ihrer Überzeugung, sie stünden, ob im Irak, in Syrien oder dem Jemen, einem iranisch gesteuerten Übernahmeversuch im ganzen Nahen Osten gegenüber. Auch schiitische Milizen, deren Anführer, wie etwa Muqtada al-Sadr, in politischer Gegnerschaft zu Maliki stehen, mobilisieren öffentlichkeitswirksam ihre Anhänger, selbst im Iran werden Freiwillige für den Krieg im Nachbarland rekrutiert.
Dass es gälte, diese destruktive sektiererische Logik zu durchbrechen, ist im Irak vielen nur allzu bewusst. So werden nicht nur im Ausland, sondern auch im Irak die Forderungen laut, Maliki müsse angesichts des von ihm angerichteten Desasters zurücktreten, es müsse umgehend eine Regierung der nationalen Einheit gebildet und eine politische Lösung des Konfliktes gefunden werden. Wenn auch US-Präsident Barack Obama jüngst forderte, irakische Politiker müssten ihre »sektiererischen Differenzen überwinden, zusammenkommen und Kompromisse finden«, klingt das schön und richtig, kommt aber reichlich spät. Die US-Regierung hat jahrelang untätig zugesehen, wie Maliki den Irak immer stärker konfessionalisierte und in einen Vasallen des Iran verwandelte. Längst ist der Irak erneut zu einem zentralen Schauplatz eines größeren regionalen Kriegs geworden, an dem unzählige staatliche und nichtstaatliche Instanzen beteiligt sind. Selbst wenn führende irakische Politiker angesichts der katastrophalen Lage die Bereitschaft zeigten, ihre Differenzen zu überwinden, wären sie, solange im benachbarten Syrien ein Bürgerkrieg tobt, wohl kaum dazu in der Lage.
Aufrufe zur nationalen Einheit gibt es inzwischen zur Genüge, vom einflussreichen Ayatollah al-Sistani auf der einen Seite bis zur weniger bedeutsamen Kommunistischen Partei auf der anderen; nicht zu vergessen auch all jene Iraker, die sich seit langem gegen die schon von Saddam Hussein gnadenlos vorangetriebene Konfessionalisierung der Gesellschaft zur Wehr setzen.

Ob eine gesamtirakische Lösung überhaupt wünschenswert ist, diese Frage stellt man sich dagegen im kurdischen Irak, konnten doch die Kurden im Nordosten des Landes ihre Position in den vergangenen Tagen nicht nur politisch, sondern auch militärisch enorm ausbauen. Sie kontrollieren nun mit ihren Peshmerga-Einheiten die sogenannten disputed territories inklusive der Ölstadt Kirkuk. Kontrolle über diese Gebiete, die unter Saddam Husseins Herrschaft systematisch ­arabisiert wurden, indem die Bevölkerung, vor allem Kurden und Turkmenen, vertrieben und umgesiedelt wurden, beanspruchte sowohl die kurdische Regierung als auch Bagdad.
Seit der Flucht der irakischen Armee grenzt nun die von Kurden kontrollierte Region unmittelbar an die Isis-Gebiete, die Kurden stehen damit vor der Wahl, ob sie sich, wie von der irakischen Zentralregierung gefordert, einer Offensive gegen die Islamisten anschließen oder besser versuchen, sich ganz aus diesem Konflikt herauszuhalten. Sollten sie nicht auch die Gunst der Stunde nutzen und ihre Unabhängigkeit erklären, wie derzeit so viele Kurden fordern? Die Chance scheint einmalig, selbst hochrangige Vertreter der türkischen Regierung bekundeten inzwischen, sie würden einen solchen Schritt wohl akzeptieren. Seit einiger Zeit exportiert Arbil außerdem, sehr zum Unmut der irakischen Regierung, eigenständig Öl, die Beziehungen zwischen Massoud Barzani, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, und dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gelten als eng.
Auf der anderen Seite könnten die Kurden jetzt die Schwäche der Zentralregierung nutzen, um dieser als Gegenleistung für militärischen Beistand weitgehende Konzessionen abzuringen, etwa die Kontrolle Kirkuks und anderer umstrittener Gebiete, das Recht, auf eigene Rechnung Öl zu exportieren, und eine noch wei­tergehende politische Unabhängigkeit. Während Barzanis Demokratische Partei Kurdistans (KDP) zumindest in ihren Verlautbarungen eher auf eine Loslösung vom Irak setzt, unterhalten die zwei anderen großen Parteien, die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und Goran, traditionell engere Beziehungen sowohl zur irakischen als auch zur iranischen Regierung.
So liegt es letztlich einmal mehr an den Kurden, ob der Irak als Staat eine Zukunft hat. Erklären sie nämlich ihre Unabhängigkeit, dann verwandelt sich der Rest des Landes in ein arabisch-schiitisches Gebiet mit sunnitischer Minderheit. Kurden und arabische Sunniten machen dagegen zusammen fast die Hälfte der Bevölkerung aus.
So umwerben dieser Tage nicht nur Vertreter der irakischen Regierung, sondern auch Funktionäre sunnitischer Organisationen die kurdischen Parteien, hoffen gar auf ein gemeinsames Bündnis gegen die schiitisch dominierte Zentra­lregierung. Auf besondere Gegenliebe stoßen solche Angebote in den kurdischen Gebieten nicht, erinnert man sich doch noch zu gut an die Vernichtungskampagnen des Saddam-Regimes in den achtziger Jahren. Für die Jihadisten von Isis hegt man in Kurdistan aber ebenfalls keine Sympathien.
Im Rahmen einer gesamtirakischen Strategie, erklärten kurdische Politiker, wären sie bereit, sich dem Kampf gegen Isis anzuschließen, allerdings nur, wenn es sich nicht um einen Krieg gegen die sunnitischen Araber des Landes handeln würde. Schließlich muss Kurdistan, ob in Zukunft als unabhängiger Staat oder weiterhin als föderaler Teil des Irak, auch künftig mit ihnen als Nachbarn zusammenleben. Und seit die kurdischen Einheiten Kirkuk kontrollieren, leben erstmalig auch bedeutende arabische und turkmenische Minderheiten unter kurdischer Regierung, mit der sie es sich als neuem Machthaber kaum verscherzen wollen.
Eine »irakische Lösung« wäre der einzige Weg, weitere Blutbäder zu verhindern. Und noch gibt es, trotz der vergifteten Verhältnisse, in der irakischen Gesellschaft Kräfte, die eine solche Lösung unterstützen, ob unter Schiiten, die sich wie Ayatollah al-Sistani der Konfessionalisierung und einer Unterwerfung unter den Iran entgegenzustellen versuchen, oder unter jenen Sunniten, denen es vor allem um Autonomie und Selbstverwaltung innerhalb des Irak geht.
Nur stehen ihnen genügend andere Akteure gegenüber, ob im Irak selbst oder der Region, die von einer weiteren Eskalation der Lage zu profitieren glauben und an Stabilität, Versöhnung und einem Sieg über Isis kein Interesse haben. Derzeit deutet alles darauf hin, dass sie, allen voran der Iran, die Oberhand gewinnen werden. Und die USA und Europa haben bereits jetzt deutlich gemacht, dass sie sich bestenfalls ein wenig engagieren wollen, so wie sie es, mit den bekannten Resultaten, zuvor in Syrien auch taten.