Der Streit um die Wahl Jean-Claude ­Junckers

Die Kunst der Spitzbuben

Mit dem Streit über die Wahl Jean-Claude Junckers zum Präsidenten der Europäischen Kommission wird Demokratie nur simuliert.

»Die Regierungsmaschinerie kann gar nicht einfach genug sein. Es ist immer die Kunst der Spitzbuben, sie kompliziert und geheimnisvoll zu machen«, schrieb Karl Marx über die französische Verfassung von 1848. Nach diesem Maßstab stellt der Vertrag über die Europäische Union das wohl größte politische Kunstwerk in der Geschichte der Menschheit dar. Die Bestimmungen über die Befugnisse von Europäischem Rat, Rat der EU, Kommission und Parlament sind so vage gehalten, dass etwa derzeit unklar ist, was die Regel bedeutet, bei der Wahl des Präsidenten der Kommission müsse das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament »berücksichtigt« werden.
Die EVP, das Bündnis der konservativen Parteien, ist mit 29 Prozent der Stimmen stärkste Fraktion. Berücksichtigt man die Wahlbeteiligung von 43 Prozent, repräsentiert ihr Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker etwa ein Achtel der europäischen Wahlberechtigten. Ein klarer Ausdruck des Wählerwillens sieht anders aus, aber wenn es gelingt, mit Zusagen für wichtige Ämter und wirtschaftspolitischen Zugeständnissen (siehe Seite 6) die Sozialdemokraten zu gewinnen, könnte die Demokratiesimulation noch gelingen. Die Wahl Junckers wäre jedoch ein Akt herrschaftlichen Großmuts der Regierungschefs, die auch anders könnten, und ein weiterer Sieg Angela Merkels, die Juncker für den geeignetsten Kommissionspräsidenten unter ihrer Führung hält.
Ein politisches Programm präsentiert Juncker nicht, und eigentlich darf er auch keines haben, denn die Kommission übt »ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit aus« und darf »Weisungen von einer Regierung, einem Organ, einer Einrichtung oder jeder anderen Stelle weder einholen noch entgegennehmen«. Entspräche das der tatsächlichen Arbeitsweise, wäre der Streit um Juncker überflüssig. Die Kommission soll politisch neutral sein, hat aber als einzige EU-Institution das Recht, Gesetze vorzulegen. Eine Aufgabe, die man nur dann als unpolitisch betrachten kann, wenn man mit Merkel der Ansicht ist, die deutschen Vorgaben seien ohnehin »alternativlos«.
Das werden sie auf institutioneller Ebene in immer stärkerem Maße tatsächlich, da die ohnehin wirtschaftsliberale Festlegung in den EU-Verträgen durch die Haushaltspolitik beschränkende Regeln wie den Stabilitätspakt ergänzt wurde. In jedem System, das keine demokratischen Ausgleichsmechanismen kennt, wird sich der ökonomisch Stärkste durchsetzen. Die Mitgliedsstaaten der EU haben ein unterschiedliches Produktivitätsniveau und konkurrieren auf dem Weltmarkt miteinander, doch gibt es für die südeuropäischen Staaten keine Chance, auf institutionellem Weg eine andere Wirtschaftpolitik durchzusetzen.
Die bürgerliche Demokratie ermöglicht einen Interessenausgleich zwischen Kapitalfraktionen und eine Berücksichtigung der Interessen anderer Klassen. Die EU soll mehr als ein Staatenbund sein, aber kein demokratischer Bundesstaat werden. Daher wachsen die Widersprüche, ohne dass dies in den Institutionen zum Ausdruck kommen könnte. Die geheimnisvolle Regierungsmaschinerie mag das noch eine Weile bewältigen können, doch »auf unbegrente Zeit«, wie ihre Schöpfer es festschrieben, wird sie sich nicht erhalten lassen.