Angela Merkel und der EU-Gipfel in Brüssel

Geht es der Wirtschaft gut, geht es den Menschen schlecht

Beim EU-Gipfel, der am Donnerstag in Brüssel beginnt, wird es nicht nur darum gehen, wer künftiger EU-Kommissionspräsident wird. Die italienische und die französische Regierung fordern zudem mehr Flexibilität bei der Auslegung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstums­pakts. Auch der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel kritisiert die rigide Sparpolitik.

José Manuel Barroso kann entspannt in die Zukunft blicken. Nicht nur, dass er bald seine anstrengende Aufgabe als Präsident der EU-Kommission abgeben kann. Die Bilanz seiner Amtszeit klingt ebenfalls positiv. Die öffentlichen Finanzen in der Gemeinschaft seien wesentlich besser als noch vor wenigen Jahren, erklärte er in der vorigen Woche zufrieden. Die Märkte hätten sich stabilisiert, nur noch 17 Mitgliedsstaaten würden heute gegen die Haushaltsregeln verstoßen. Vor drei Jahren waren es noch 24.

Seine Botschaft wird vor allem jene erfreuen, die unbedingt an den Erfolg der bisherigen Sparpolitik glauben wollen, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Schuldenkrise ist mittlerweile weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden, die Gefahr, dass die gemeinsame Währung scheitert oder einzelne Länder aus der Euro-Zone austreten müssen, scheint gebannt. Allerdings teilte der scheidende Kommissionspräsident auch unangenehme Tatsachen mit. Die Arbeitslosigkeit liege in vielen Mitgliedsstaaten weiterhin auf einem historisch hohen Niveau, eine Verbesserung sei nicht in Sicht.
Der Wirtschaft geht es gut, den Menschen hingegen schlecht, lässt sich Barrosos Analyse scheinbar paradox zusammenfassen. So veröffentlichte vergangene Woche die Universität Oxford eine Studie, der zufolge die Zahl der Selbstmorde in Europa seit Beginn der Eurokrise stark angestiegen ist. Über 10 000 zusätzliche Selbsttötungen seien in Europa in den vergangenen vier Jahren auf Arbeitslosigkeit, Verschuldung oder Wohnungsverlust zurückzuführen, heißt es darin. Das klingt kaum wie ein Ruhmesblatt einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik.
Sogar Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) erklärt mittlerweile, dass »die reine Sparpolitik gescheitert ist«. Schließlich stünden »wir Deutsche heute besser da als viele andere Staaten, weil wir uns mit Gerhard Schröders Agenda 2010 ein hartes Reformprogramm auferlegt haben. Aber auch wir haben damals Zeit gebraucht, um die Staatsschulden zu senken«, sagte er in der vorigen Woche der Bild-Zeitung.
Seiner Ansicht nach sollen künftig kreditfinanzierte staatliche Investitionen, die für Wachstum und Beschäftigung sorgen, nicht mehr auf das Budgetdefizit angerechnet werden. Im Gegenzug sollen sich die jeweiligen Regierungen dazu verpflichten, die Strukturreformen nach deutschem Vorbild umzusetzen.
Gabriels Forderungen seien wenig hilfreich, vergleichbare Vorgaben würden bereits angewendet, meinte dazu Cem Özdemir, der Parteivorsitzende der Grünen. »Wachstum auf Pump« sei kein Rezept mehr. Ein Aufschwung wäre nur möglich, wenn die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften wieder verbessert werde – so lautet ebenfalls das Credo von Bundeskanzlerin Merkel.

Wie schlecht diese Strategie funktioniert, zeigt sich besonders deutlich in Portugal. Wie kaum ein anderes Krisenland hat es akribisch die Sparvorgaben befolgt. Löhne und Renten wurden drastisch gekürzt, Sozialleistungen gestrichen, der Öffentliche Dienst abgebaut. Stolz kündigte Ministerpräsident Pedro Passos Coelho im Mai an, dass sich sein Land bald vom europäischen »Rettungsschirm« verabschieden wolle, um seine »finanzielle Eigenständigkeit« wieder zu erhalten. Zugleich wurde bekannt, dass die portugiesische Wirtschaft in diesem Jahr weiter schrumpfen wird, während die Schuldenquote 123 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Kürzlich berichtete die Tageszeitung O Pùblico, dass Portugal voraussichtlich noch bis mindestens 2045 von internationalen Kreditgebern kontrolliert würde – so lange werde es dauern, bis die Quote auf ein akzeptables Maß gesenkt werden könne. Und selbst diese Schätzung ist wohl noch zu optimistisch.
In Griechenland sieht die Lage ähnlich aus. Trotz rigider Sparmaßnahmen liegt die Schuldenquote bei rund 180 Prozent und damit deutlich höher als zu Beginn der Krise. Nimmt man die Schulden der Staaten, Bürger und Unternehmen zusammen, dann liegen die Defizitquoten sogar noch deutlich höher: in Frankreich und Italien bei 280 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Spanien und Griechenland bei 300 Prozent, in Portugal und Irland bei 400 Prozent und darüber.
Um diese Defizite abzubauen, müssten die Krisenstaaten die Wachstumsquoten Chinas bei weitem übertreffen. Stattdessen schrumpft die Wirtschaft und die Steuereinnahmen gehen zurück. Der rigide Sparkurs führt also dazu, dass die Schulden immer weiter steigen – in Griechenland ebenso wie in Irland, Portugal und Italien.
Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi, dessen Land in der zweiten Jahreshälfte die EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird, fordert deshalb ebenfalls eine Änderung der bisherigen Politik. »Wir können kein Geld ausgeben wegen des Stabilitätspaktes, der ein Pakt der Dummheit ist«, sagte er im italienischen Fernsehen. Zusammen mit dem französischen Präsidenten François Hollande und den deutsche Sozialdemokraten will er auf dem derzeit in Brüssel stattfindenden EU-Gipfel durchsetzen, dass die Bestimmungen des Pakts abgemildert werden.
Vor allem Hollande benötigt nach dem jüngsten Debakel seiner Partei bei den Europawahlen dringend wirtschaftliche Erfolge. Er will erreichen, dass die Mittel, die Frankreich für Forschung und Energie ausgibt, nicht mehr auf die Schulden angerechnet werden. Damit könnte Hollande Sparmaßnahmen zurücknehmen und vielleicht sogar bald die Steuern senken. Deren Erhöhung war einer der Gründe, warum der Front National (FN) bei den Wählern rasant an Zustimmung gewonnen hat. Zudem hat die Regierung in Paris erst vor wenigen Tagen beschlossen, den hoch verschuldeten Energiekonzern Alstom teilweise zu verstaatlichen. Als Gegenleistung für eine flexiblere Auslegung des Stabilitätspakts wollen die sozialdemokratischen Parteien im Europaparlament der Wahl des konservativen Jean-Claude Juncker zum EU-Kommissionspräsidenten zustimmen. Der sozialdemokratische Kandidat Martin Schulz soll sich hingegen mit seinem alten Posten als Präsident des Europaparlaments zufriedengeben.

Ob sich die Bundeskanzlerin auf diesen Handel einlässt, ist zumindest zweifelhaft. Änderungen am Euro-Stabilitätspakt schließt sie jedenfalls kategorisch aus, wie die Bild-Zeitung am Montag dieser Woche berichtete. Und auch an Juncker scheint Merkel nicht unbedingt gelegen zu sein. Nicht nur, dass die britischen Konservativen dessen Berufung zum Kommissionspräsidenten vehement ablehnen. Im Europawahlkampf präsentierte sich Juncker offener als sein sozialdemokratischer Herausforderer. Während Juncker beispielsweise die Einführung von gemeinschaftlichen Schuldentiteln, den Eurobonds, für möglich hielt, wurde dies von Schulz nahezu ausgeschlossen.
Merkel hat wenig Interesse, von ihrer bisherigen Politik abzuweichen, zumal ihre Vorgabe, dass jedes Land selbst für seine Defizite verantwortlich sei, bei ihren Wählern äußerst populär ist. Der bloße Verdacht, die Bundesregierung würde die Schulden anderer übernehmen, könnte viele Wähler zur »Alternative für Deutschland« treiben. Für Sigmar Gabriel sind das schlechte Aussichten, zumal er wenig anzubieten hat, um seine Forderungen durchzusetzen. Selbst sein Hinweis, dass sich die Schuldenländer im Gegenzug für mildere Auflagen nach dem Vorbild der »Agenda 2010« reformieren müssten, ist wenig überzeugend. Ökonomen wie der »Wirtschaftsweise« Peter Bofinger gehen schon lange davon aus, dass nicht die »Agenda 2010« entscheidend für den Aufschwung in Deutschland gewesen sei, sondern der jahrelange Reallohnverlust der hierzulande Beschäftigten. Selbst Gabriels europäische Parteifreunde dürften von solchen Aussichten wenig begeistert sein.