Eine neue Initiative für sozialen Wohnungsbau in Berlin

Wohnen statt Zitronen

Der Wohnraum für Menschen mit niedrigen Einkünften wird überall in Deutschland knapper. Eine Berliner Initiative hat deshalb ein Konzept für einen neuen so­zialen Wohnungsbau ausgearbeitet.

Deutschland rückt zusammen – so könnte man das Ergebnis einer Studie über das Wohnungsangebot für einkommensarme Familien zusammenfassen, die die Sozialwissenschaftler Timo Heyn, Reiner Braun und Jan Grade kürzlich im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichten. Gestützt auf eine Untersuchung in den 100 einwohnerreichsten Städten Deutschlands kommen die Wissenschaftler zu dem Resultat, dass immer mehr Menschen wegen niedriger Einkommen und zu hoher Mieten gezwungen sind, in kleineren Wohnungen zu leben.
»Rückzug aufs Hochbett« betitelte die Taz einen Bericht über die Studie. Diese machte auch deutlich, wie wenig die statistischen Daten über die Lebenswirklichkeit vieler Menschen aussagen. Im Durchschnitt stehen in Deutschland pro Person 42,7 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Doch in diesen Angaben bleibt die soziale Ungleichheit unberücksichtigt. Während Menschen mit hohen Einkommen in großzügigen Lofts häufig eine Wohnfläche in dreistelliger Quadratmeterzahl nutzen, sind immer mehr Menschen mit niedrigen Löhnen und Einkommen zum Zwangskuscheln gezwungen.

In Großstädten wie Berlin ist schon längst offensichtlich, dass der derzeitige Wohnungsbestand nicht mehr ausreicht. Doch welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, ist auch bei Gruppen umstritten, die sich gegen Räumungen und für erschwingliche Mietwohnungen engagieren. Das wurde jüngst anlässlich des erfolgreichen Volksbegehrens »100 % Tempelhof« deutlich. Während die Senatspläne zur Umgestaltung des ehemaligen Flug­hafen­areals weitgehend auf Ablehnung stießen, setzten sich nur wenige aus der außerparlamentarischen Linken mit den Forderungen nach einer weitgehend naturbelassenen Fläche kritisch auseinander.
Der Wirtschaftswissenschafter Birger Scholz war eine Ausnahme. »Sonderlich fortschrittlich war die deutsche Romantik nie. Größenteils war sie reaktionär und auf jeden Fall ziemlich apolitisch und eskapistisch. Als die Industrialisierung die feudalen Verhältnisse hinwegfegte, träumten sich die Romantiker an ferne Sehnsuchtsorte, dorthin, wo die Zitronen blühen. Im Jahr 2014 blühen in Berlin die Zitronen auf dem Tempelhofer Feld«, schrieb er in der Sozialistischen Zeitung. Sein Wunsch, das große Bündnis zur Verhinderung des Baus neuer Wohnungen aus »Piraten, Linkspartei, Grünen, Linksradikalen und neuroman­tischen Mittelschichten« möge beim Volksbegehren eine Niederlage davontragen, hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Scholz gehört nun mit Gewerkschaftern, Sozialaktivisten, Mitarbeitern der Berliner Mietergemeinschaft und Wissenschaftlern zu den Erstunterzeichnern der Initiative Neuer Kommunaler Wohnungsbau (INKW), die ein Konzept für einen kommunalen Wohnungsbau erarbeitet hat, der vollständig aus öffentlichen Geldern finanziert werden soll. Ziel ist der Bau neuer Wohnungen mit erschwinglichem Mietpreis durch die Schaffung von öffent­lichem Eigentum.

»Im Gegensatz zu den Konzepten des Senats wollen wir keine Subventionen für private Eigentümer, damit die Miete für eine begrenzte Zeit erträglich bleibt. Darüber hinaus schlagen wir einen Umbau der Wohnungsbaugesellschaften vor, von der bisherigen privatrechtlichen Form hin zu Anstalten öffentlichen Rechts, damit sie nicht profitorientiert, sondern gemeinwohlorientiert arbeiten«, sagt Rouzbeh Taheri, Sprecher der INKW, der Jungle World. Die Beteiligung privater Unternehmen soll nach diesem Konzept ausgeschlossen sein. Das ist für Taheri auch eine Konsequenz aus dem Westberliner Korruptionssumpf der siebziger und achtziger Jahre, der den sozialen Wohnungsbau lange diskreditiert hat. »Die Korruption und die Misswirtschaft im sozialen Wohnungsbau wurde durch die Vermischung öffentlicher und privater Unternehmen erleichtert«, so der INKW-Sprecher, der die basisdemokratischen Elemente seines Konzepts betont. »Wir möchten eine starke Stellung und Mitbestimmung der Mieter in den Aufsichtsgremien der städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Nur die Kontrolle durch die Betroffenen kann Korruption verhindern«, erklärt Taheri optimistisch.
Er betont auch, dass das Konzept keine Rückkehr zum Plattenbau der sechziger und siebziger Jahre bedeute. Der damalige soziale Wohnungsbau sei vor allem durch den Bau von Großsiedlungen für eine Gesellschaft bestimmt gewesen, in der Normalarbeitsverhältnisse in der fordistischen Massenproduktion vorherrschten. »Diese Verhältnisse haben sich grundlegend geändert. Wir wollen Wohnungen, die den heutigen Bedürfnissen Rechnung tragen: Gebäude mit unterschiedlich großen Einheiten, umbaufähige Wohnungen, Einheiten für die verschiedenen Generationen, Bauabschnitte, die sich in die vorhandenen Stadtstrukturen einfügen«, sagt Taheri.
Auch der Regisseur des zurzeit in vielen Kinos gezeigten Films »Mietrebellen«, Matthias Coers, gehört zu den Erstunterzeichnern der INKW-Initiative. Für seine Unterstützung war entscheidend, dass bei der architektonischen Gestaltung der Neubauten den individuellen Bedürfnissen der Menschen Rechnung getragen werden soll. Dass Teile der stadt- und mieterpolitischen Gruppen den Neubau von Wohnungen mit dem Argument ablehnen, es müsse eine Bevölkerungsverdichtung verhindert werden, hält Coers für kurzsichtig. Er hofft, dass das Konzept der INKW hier eine Debatte anregt, die den Wohnungsneubau und den Erhalt bestehender Bauten verbindet.
Das ist auch das Ziel des Stadtsoziologen Andrej Holm, der das Konzept ebenfalls unterstützt. »Ob die neue Initiative einen Beitrag zur Stärkung der Mieterbewegung leisten kann, wird wesentlich davon abhängen, ob es den Initiatoren gelingt, die auch in den Protestbewegungen diskutierte Gegenüberstellung von Neubau und Bestand zu überwinden. So schön eine Vorstellung eines starken und sozialisierten öffentlichen Wohnungsbaus auch ist, ohne wirksame Strategien, die Mietsteigerungen auch im Bestand aufzuhalten, wird er keine Wirkung entfalten«, sagt Holm der Jungle World.

Von den im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien unterstützt bisher nur die Piratenpartei das Konzept. Von der Linkspartei, die sich in der Opposition wieder an manche sozialpolitischen Inhalte erinnert, die sie als Teil der Regierung vergessen hatte, hätte sich Taheri zumindest eine Reaktion auf das Konzept erwartet. Schließlich seien alle Oppositionsparteien angeschrieben worden. Die für den Wohnungsbau zuständige Abgeordnete der Linkspartei, Kathrin Lompscher, sagte dagegen, es habe vor der Veröffentlichung des Aufrufs keine Kontaktaufnahme der INKW mit ihrer Partei gegeben. Bei der Problemanalyse und den Zielen sei man sich in vielem einig, aber es gebe keine vollständige Übereinstimmung zwischen den Auffassungen ihrer Partei und dem ­INKW-Konzept. Über eine Unterstützung werde in den Gremien der Partei zurzeit diskutiert.