Gedanken zur WM

Nation und Kompression

Kann man die WM ignorieren und dürfen Fußballer enge Trikots tragen? Angela Marquardt, Katja Kullmann, Halina Wawzyniak, Pia Hartmer, Marit Hofmann, Julia Schramm, Gabriele Haefs und Heike Karen Runge kennen die Antworten.

Linke schauen keinen Fußball?
Vor einem der WM-Spiele saß ich auf einem Podium. Nach der Veranstaltung verabschiedete ich mich wie so oft in diesen Tagen mit den Worten: »Viel Spaß beim Fußballabend.« »Fußball? Linke schauen keine Fußball-WM!«, riefen mir einige Jusos hinterher. Über diese Aussage muss ich als Linke immer wieder nachdenken. Ich fühle mich vom oft überheblich und chauvinistisch wirkenden Fahnentaumel abgestoßen. Erika Steinbach hat mit einem Tweet wieder bewiesen, dass ich den Fahnen­schwenker*innen zu Recht misstraue: »Was wäre Deutschlands Elf heute ohne unseren Oberschlesier Klose!!!« Ich will bewusst nicht Bestandteil dieser nationalen Fußballkultur sein. Sie ist der Grund, warum ich nicht widerspruchslos für Deutschland sein kann. Ohnehin hat mir der DFB mit seiner Entscheidung, das Banner »Kein Fußball den Faschisten« ­abzuhängen, gezeigt, was er vom Kampf gegen Nationalismus im Sport hält. Aber es ist weder links, Fußball zu schauen, noch ist es besonders links, ihn nicht zu schauen. Links ist für mich, alles rund um den weltweiten Fußball kritisch zu hinterfragen, und trotzdem Spaß am Spiel zu haben. Grundsätzliche Verweigerung hat noch nie Veränderungen gebracht.
Angela Marquardt
Pappmaché-Fassade
Für Fußball als Sport interessiere ich mich kaum. Das WM-Turnier finde ich dennoch interessant. Es ist so aufschlussreich wie der Eurovision Song Contest. Beide Wettbewerbe erzählen viel über zwei entscheidende –Ismen: über den Kapitalismus und den Nationalismus. Es ist ja so: KritikerInnen der WM führen nicht nur den Fifa-Filz an, sondern verweisen auch auf die Grundübel des Nationalismus: das Antreten in »National«-Teams, das Wimpel-Geschwenke. Ich stimme den KritikerInnen da zu.
Aber gleichzeitig bin ich berührt und erfreut, dass das »National«-Prinzip auf dem Rasen und drumherum an Bedeutung verliert. Faktisch sind die Teams heute multinational besetzt. Das »Nationale« an den »National«-Teams ist ja nichts als eine ganz brüchige Rest-Fiktion, ein schaler Rest von etwas Altem, Überholtem. Und Millionen Menschen nehmen das doch auch wahr! (Jetzt anzuführen, dass etwa im Wedding in ein- und demselben Lokal die Kameruner neben der deutschen Fahne hängt, oder dass türkische Kinder wieder mal mit schwarzrotgoldenen Wangen über die Bürgersteige hüpfen, während Ur-Berliner Kampftrinker Brasilien-Shirts tragen, wäre vielleicht zu billig.) Beim Songcontest ist es ähnlich: Lange schon ist dort kein »nationales« Liedgut mehr zu hören, sondern fast nur noch supereinförmiger Einheitsstampf oder global normierter Balladen-Mainstream. Auch dort ist die »Nation« im Grunde nur noch eine Pappmaché-Fassade, ein Märchen, an das niemand mehr ernsthaft glaubt. Was lernen wir daraus? Der Kapitalismus ist ein Feind, das schon, aber er sorgt dafür, dass dem Nationalismus früher oder später die Luft ausgehen könnte. Die WM führt das wieder einmal prächtig vor.
Katja Kullmann
Herrschaftskonstrukt
Das Schöne an der Fussball-WM ist, dass frau im Regelfall gute Spiele sehen kann. Technik und Taktik überzeugen. »Künstler am Ball« trifft es. Das Schlechte an der Fussball-WM ist die Tatsache, dass sie ein Wettkampf von Na­tionalstaaten ist. Ein Herrschaftskonstrukt wird bestätigt: Millionäre kleistern für wenige Wochen die herrschenden sozialen Unterschiede zu. Eine Alternative für Freunde und Freundinnen des schönen Fußballs, bei dem die bessere Mannschaft gewinnen soll, wäre folgender Vorschlag: Es werden 32 x 16 (oder 18 oder 20) Spieler nominiert, die dann in die 32 Mannschaften gelost werden. So stünde wirklich das Spiel im Mittelpunkt. Der positive Nebeneffekt wäre, dass der Deutsche Bundestag sich mit seinen Sitzungen nicht nach den Spielen der deutschen Nationalmannschaft richtet. Ein völlig inakzeptabler Vorgang.
Halina Wawzyniak
Kompressions-Wear
Über enge Trikots, besonders der uruguayschen Spieler, ist schon viel geschrieben worden. Der Trend zu Overknees ist dabei völlig übersehen worden. Wahrscheinlich, weil (mit wenigen Ausnahmen) die meisten Sportjournalisten eher selten Vogue oder Elle, noch nicht einmal die Closer lesen. Eigentlich müssten sie Overknees aber kennen – spätestens seit sie 2013 von Beyoncé als Teil des vom Nachwuchsde­signer Rubin Singer gefertigten Outfits bei ihrem Superbowl Halftime-Auftritt getragen wurden. Jetzt werden beide Trends quer durch alle Mannschaften getragen. Mal einzeln kombiniert mit Klassikern, mal als Komplett-Outfit mit weiten knielangen Shorts, mal läuft das ganze Team in engen Shirts auf, während die Strumpffrage individuell gelöst wird. Dabei müssten die Overknees genau so wichtig sein wie die engen Shirts, denn schließlich sind sie beide mit der Kompressionsfunktion ausgestattet. Diese Hightech-Kleidung funktioniert ungefähr so wie die Kompressionsstrümpfe ­alter Damen, die gegen Venenleiden eingesetzt werden: Durch den leichten Druck zirkuliert das Blut schneller. Dadurch wiederum soll die Sauerstoffversorgung der Muskeln verbessert werden, also zur Leistungssteigerung führen. Bahnt sich hier etwa ein Fall von textilem Doping an, wenn nicht alle Spieler Beinhaare verstecken und ihr Sixpack zeigen wollen?
Pia Hartmer
Mein einziger Kommentar zur WM
Fußball geht schon mal gar nicht. Seit ich mir beim Tanztraining den Fuß gebrochen habe, bin ich auf der Suche nach neuen Sportarten. Nach sieben Wochen Krücken erteilte mir der Orthopäde vier weitere Wochen Sportverbot. Tanzen und Laufen darf ich aber noch länger nicht, überhaupt nichts, was den Fuß stark belastet. Aber welche Sportarten gibts ohne Laufen und übermäßige Fußbelastung? Ich fand überraschenderweise einen passenden Ballsport: Beim Pilates stählen wir unsere Muskeln meist im Sitzen oder Liegen – und neuerdings auch mit Hilfe unterschiedlich ­großer Bälle, die wir über, unter und zwischen diverse Körperteile drapieren. Als der Trainer einmal rief: »Ballwechsel!«, fügte er hinzu: »Das ist mein einziger Kommentar zur WM.« Meiner auch. Aber Moment mal, Ballwechsel – ist das nicht Tennis?
Marit Hofmann
Hart erarbeiteter Glanz
Das Spaßige an so einer Fußball-WM ist ja das heimelige Gefühl, immer irgendwie mitreden zu können – die Regeln sind so klar wie der Verlauf des Turniers unberechenbar. Da kann es auch mal sein, dass Wayne Rooney doch sein erstes WM-Tor schießt und der amtierende Weltmeister kaum eines. Die Fußball-WM ist dieser angenehm vertraute Quell unwichtiger, aber sehr ernst vorgetragener Fachsimpelei. Und so sind Südamerikaner – ob nun bei Oliver Kahns gnadenloser Analyse oder in Marietta Slomkas Hochglanzdokumenta­tion über ausgewählte Länder Südamerikas zwischen den Spielen – »hungrig auf Erfolg«, »besser aufgestellt« und »hart arbeitend«. Da müssen sich die Europäer ranhalten. Die Deutschen machen das ja sowieso. Der schlandsche Wahnsinn wird dann wohl nicht so schnell verdunsten wie der hebende Effekt der Fußball-WM auf das Favelakind, in dessen animierten ZDF-Augen die Fußbälle so schön glänzen. Oder wie die Hoffnungen, die Michael Ballack damals in Kaiserslautern weckte. Und wahrscheinlich hat Schland tatsächlich ohne den ewigen Zweiten die besten Chancen, Weltmeister zu werden. Dafür bleibt uns wenigstens der Iran als neuer Liebling der Herzen erspart.
Julia Schramm
Die Würde in den Zeiten der WM
Die Fußball-WM würd ich am liebsten ignorieren, mal so ’n bisschen Fußball seh’ ich ja gern, aber die Leute! Dauernd ethische Entscheidungen treffen müssen: Geh’ ich im Supermarkt, weil die Kassiererin sich den Dreifarb an die Backe geschmiert hat, an eine andere ­Kasse, um mir diesen würdelosen Anblick zu ersparen, oder bin ich dann genauso bescheuert wie jene? Viel lieber als irgendeinen WM-Kram zu sehen, möchte ich ja ins Museum, für einen längeren Text sollte ich dringend einen Blick auf den mutmaßlichen Schädel von Klaus Störtebeker werfen. Der befindet sich im Mu­seum für Hamburgische Geschichte, wo es auch hervorragenden Kirschstreusel gibt. (In einer anderen Abteilung allerdings.) Aber die Frau an der Kasse hat auch den Dreifarb an der Backe und im Café gibt es dreifarbene Glasur auf den Kopenhagenern, also Flucht ergreifen, mein großes Werk über Störtebeker bleibt vorerst ungeschrieben. Ich weiß es nicht, aber der Verdacht ist gar zu groß und schrecklich, dass sie dem Schädel ein Trikot vorgebunden und die Knochenwangen mit schwarz-rot-gold beschmiert haben, und das, nein, das könnte ich wirklich nicht ertragen. So wie es dem armen Marx in Chemnitz passiert ist. Hab’ ich was von würdelos gesagt? Es kann immer noch schlimmer kommen. Ich hasse die WM. Jedenfalls diese.
Gabriele Haefs
Haargel, Bärte & Spornosexuelle
Das schönste Tor: das Flugtor der Holländers Robin van Persie im Auftaktspiel gegen Spanien. Die völlige Enttäuschung: das zum Bruder­duell hochgepitsche Zusammentreffen der Boateng-Brüder, die müde aneinander vorbeikickten in dem ansonsten dramatisch spannenden deutsch-ghanaischen Duell. Die bittersten Tränen vergoss Wayne Rooneys kleiner Sohn Kai beim Spiel der Engländer gegen Urugay. Die beste Frisur hatte Irans Torhüter Alireza Haghighi mit einer zeitlos schönen Gelfrisur. Der unschöne Trend ist der zum Vollbart, wie ihn sich US-Keeper Tim Howard, Portugals Raúl Meireles, Spaniens Sergio Ramos, Brasiliens Charles Itandje und der neue französische Superstar Karim Benzema zugelegt haben. Die wichtigste Innovation: die als Bodypainting verspotteten hautengen Trikots der Urugayer, die an einen Wet-T-Shirt-Contest erinnern. Dazu passt der spornosexuelle Mann: Er löst den metrosexuellen David-Beckham-Mann ab. Als Ikone der Spornosexualität gilt Cristiano Ronaldo, aber auch Mario Balotelli erfüllt die Kriterien. »Sporno«, ein Hybridwort aus »Sport« und »Porno«, reproduziert die von Magazinen wie Men’s Health propagierten Maskulinitäts­klischees und bedeutet im Vergleich mit dem metrosexuellen Typus einen emanzipativen Rollback. Der gute Kommentar: »Ist ja auch vernünftig, ein bisschen Sport zu machen vor dem langen Heimflug.« (Mehmet Scholl vor dem Gruppenspiel zwischen den bereits ausgeschiedenen Spaniern und Australiern) Die coolste Performance: der tiefenentspannte Auftritt des Ghana-Teams mit dicken Kopfhörern und wiegenden Schritten vor dem Spiel gegen Deutschland. Die unangenehmsten Fans waren die beim Abspielen der Hymne salutierenden Algerier. Weltmeister der Herzen: Costa Rica.
Heike Karen Runge