Baum fällen inklusive

Der neue Bildungsbericht ist erschienen. Viele lange Kapitel enthüllen »ein Bildungswesen zwischen Bewegung und Stillstand«, also nichts, und ein besonders langes beschäftigt sich mit Inklusion. An der Universität lernen die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer ein schönes Bild kennen, wenn sie erklärt bekommen, was eigentlich Inklusion ist: Im inklusiven Unterricht sei der zu unterrichtende Stoff wie ein Baum, der es den Lernenden ermögliche, je nach Neigung und Fähigkeiten entweder an den Wurzeln zu arbeiten und dort eher praktische Tätigkeiten zu verrichten, beispielsweise etwas Hübsches aus Holz zu basteln, etwa ein Schlüsselbrett, oder weiter oben, an den Blättern, kognitiv anspruchsvolle Tätigkeiten wie das Sortieren der Blätter in verschiedene Kategorien zu erlernen.
Und seht, ich habe mir extra für Euch ein noch schöneres Bild ausgedacht: Wäre dieses erste Bild ein Pferd, man müsste es sofort erschießen, aus Mitleid ebenso sehr wie aus gerechter Wut darüber, dass es in seinem Zustand frei herumlaufen darf. Denn das Pferd ist nicht nur schwer krank, es lügt auch wie ein Bürstenbinder: Unterricht ist nämlich überhaupt nicht wie eine Landpartie, auf der Kinder beim Erklettern von Bäumen ihren Interessen nachgehen und es nachher Picknick mit Himbeersaft gibt. Unterricht ist viel eher wie eine Mischung aus Bundeswehr und Castingshow, bei der die Teilnehmenden wieder und wieder ihre uneingeschränkte Bereitschaft, noch den letzten Blödsinn mit großer Begeisterung mitzumachen, unter Beweis stellen müssen. Wer daran scheitert, wird zwar weder erschossen noch rausgeschmissen, geht aber ohne verwendbares Zeugnis nach Hause und muss zur Strafe für den Rest seines Lebens bei McDonald’s arbeiten oder ALG II beziehen.
Wenn wir uns den Lernstoff also schon unbedingt wie einen Baum vorstellen müssen, der von den Lernenden unterschiedlich schnell erklommen wird, dann stellen wir uns doch ehrlicherweise am besten gleich mit vor, wie sich die Kinder oben im Baum verzweifelt an den Ästen festkrallen, um nicht herunterzufallen, und zwischendrin ein wenig nach den Nachkommenden treten. Unten an den Wurzeln des Baums sägen derweil die Förderkinder herum, von denen ein jedes allen kognitiven Schwierigkeiten zum Trotz begriffen hat, dass es nicht nur räumlich betrachtet unter den anderen steht. Einigen fällt bei dieser Gelegenheit auf, dass sie eigentlich nicht viel zu verlieren haben, wenn sie den Baum einfach ganz umsägen – und das versuchen sie dann auch, zumeist allerdings vergeblich, ich, die Lehrerin, bin ja schließlich auch noch da. Und erst wenn die letzte Säge konfisziert ist, das kranke Pferd erschossen, der Baum entlaubt und das Laub sortiert, darf ich mich hinsetzen und darüber nachdenken, dass inclusio, so scheint’s, mit »Einschließung« übersetzt wird und wie wirklich treffend das nun wieder ist.