Streit über den Stabilitätspakt in der EU

Flexibler sparen

Nach der Entscheidung für Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsidenten beginnt der Streit über die Auslegung des Stabilitätspakts.

Kaum jemand war von dieser Wahl wirklich begeistert und auch Angela Merkel unterstützte den Kandidaten der konservativen Fraktion im EU-Parlament nur zähneknirschend. »Politik geht vor Personen«, erklärte die Bundeskanzlerin lapidar nach dem EU-Gipfel Ende vergangener Woche auf die Frage, warum sie sich für Jean Claude Juncker als designierten EU-Kommissionspräsidenten eingesetzt hat.
Dabei ist Juncker bestens geeignet für einen Job, der vor allem darin besteht, zwischen den divergierenden nationalen Interessen einen Kompromiss herbeizuführen – und so den Einfluss der gemeinschaftlichen Institutionen auszuweiten. Juncker habe entscheidend dafür gesorgt, »die Macht von Brüssel zu stärken und die Macht der Mitgliedstaaten zu verringern«, tobte der britische Premierminister David Cameron, der sich von seinen Parteifreunden nach seiner Nieder­lage wie ein Märtyrer feiern ließ. Der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt beschimpfte »die anderen Führer« in der EU sogar öffentlich als »Feiglinge«, weil sie nicht bereit seien, »für das, was sie privat sagen, in der Öffentlichkeit einzustehen«. Gemeint war damit wohl auch Merkel.
Tatsächlich stimmt sie in vieler Hinsicht mit den Briten überein. Auch sie betrachtet Europa vor allem als Mittel, um nationalstaatliche Interessen durchzusetzen, und nichts fürchtet sie mehr, als ihre Macht an Institutionen zu verlieren, die sie nicht zu kontrollieren vermag. Cameron wie Merkel orientieren sich am Wirtschaftsliberalismus und verabscheuen einen Etatismus, wie ihn die französische Regierung gerne praktiziert.
Ohne die britische Mitgliedschaft könnte sich jedoch der politische Schwerpunkt in der EU verlagern. Wegen der extrem hohen Arbeitslosenrate versuchen die südeuropäischen EU-Staaten und Frankreich mehr denn je, den verhassten Stabilitätspakt zu korrigieren. Etwas anderes bleibt ihnen kaum übrig, denn keine Regierung kann eine solche soziale Krise langfristig überstehen. Merkel hingegen will dieses Unterfangen verhindern. Dafür braucht sie Verbündete, auf dem Kontinent aber kann sie allenfalls noch auf einige kleine Ländern wie Finnland zählen. Eine EU ohne Großbritannien sei für Deutschland nicht hinnehmbar, sagte Finanzminister Wolfgang Schäuble am Sonntag der Financial Times.
Der Konflikt um den Stabilitätspakt wurde auf dem Gipfel zwar vorerst beigelegt. So sind einige Regeln des Paktes flexibel auslegbar, insbesondere bei der Frage, welche Staatsausgaben tatsächlich als Defizite angerechnet werden. Von diesen flexiblen Regelungen soll künftig nicht mehr »voller«, wie es bislang im Vertragstext hieß, sondern »bester« Gebrauch gemacht werden.
Der Vorteil dieser Sprachregelung besteht vor allem darin, dass jeder etwas anderes darunter verstehen kann. Die Regierungen Italiens und Frankreichs werden darauf drängen, dass Ausgaben für »größere Strukturreformen« oder In­vestitionen, die für mehr Wachstum sorgen, nicht mehr unter die Defizitkriterien fallen. Merkel wird das nicht gefallen. Wie flexibel der Pakt ausgelegt wird, darüber entscheidet als »Hüterin der Verträge« die EU-Kommission. Cameron hat schon angekündigt, dass seine Regierung den einflussreichen Posten des EU-Kommissars für Wachstum besetzten will. Er kann sich sicher sein, dass Merkel ihn diesmal unterstützen wird.