Neri Zilber im Gespräch über die Reaktionen auf die Entführung und deren Folgen

»Hamas bewegt sich in Richtung des Hisbollah-Modells«

Die Entführung der drei israelischen Teenager hat zu einer großen militärischen Suchaktion der israelischen Armee geführt. Über die Ursachen und Folgen der Entführung sprach die Jungle World mit Neri Zilber, der seit vielen Jahren zum Nahost-Friedensprozess und zur palästinensischen Staatsgründung arbeitet und darüber in vielen Medien von Foreign Policy bis Dissent publiziert hat. Derzeit ist er Fellow am Washington Institute for Near East Policy. Das Interview wurde geführt, als Neri Zilber sich in Israel aufhielt.

Am Sonntag erklärte der israelische Außenminister Avigdor Liberman nach Angaben des Armee-Radios, dass Israel eine Wiederbesetzung des Gaza-Streifens erwägen solle. Ist das ein realistischer Vorschlag, und welches Eskalationspotential besteht derzeit?
Libermans Kommentar zur Wiederbesetzung Gazas sind für die Öffentlichkeit bestimmt und nicht realistisch, das wird nicht passieren. Israel hat Armee und Siedler 2005 in einem qualvollen politischen Prozess aus dem Gaza-Streifen abgezogen, und die israelische Armee selbst lehnt eine Wiederbesetzung immer wieder ab. Es ist bezeichnend, dass Benjamin Netanyahu und Liberman im November 2012 während der Militäroperation gegen Hamas keine Bodentruppen nach Gaza sandten, trotz vieler anderslautender Bemerkungen zuvor.
Die Gefahr einer Eskalation ist dagegen sehr real. Außerhalb Israels versteht man vielleicht nicht, dass es sich hierbei um eine andere Art von Terroranschlag handelt. Es zieht sich nun schon über zwei Wochen hin, die Gesichter der Jungen sind überall auf den Titelseiten. Die Reaktion ist sehr harsch, in der Westbank gibt es die größte Militäroperation seit Ende der zweiten Intifada. Spricht man mit israelischen Offiziellen, erinnern sie daran, dass die letzte Entführung von drei Bürgern an der Grenze zum Libanon 2006 zu einem einmonatigen Krieg geführt hat.
Hat die Entführung wirklich den israelisch-palästinensischen Friedensprozess und die innerpalästinensische Einigung gestört, oder hat sie nur Probleme an die Oberfläche gebracht, die früher oder später sowieso zu Tage getreten wären?
Nein, die Entführung hat beiden Prozessen geschadet. Die interessanteste Frage dabei ist das Motiv der Hamas-Zelle aus Hebron. Ich habe noch keine gute Antwort gehört, und auch die israelischen Offiziellen wissen nicht, ob die Hamas-Führung die Operation abgesegnet hat, ob die lokale Zelle alleine gehandelt hat, ob es innerpalästinensische Gründe gibt oder ob es um die palästinensischen Gefangenen in Israel geht.
Der Friedensprozess lief sowieso nicht gut, die Gespräche sind im April gescheitert. Ministerpräsident Netanyahu und andere israelische Politiker beschuldigen die Hamas, für die Entführung verantwortlich zu sein, aber sie beschuldigen auch Abbas und nutzen die Entführung, um gegen das Abkommen zwischen Fatah und Hamas zu agieren. Abbas soll mit internationalem Druck dazu gebracht werden, härter gegen die Hamas vorzugehen, was die Einigung von Hamas und Fatah gefährden würde.
Welche weiteren Ziele verfolgt Israel mit den gegenwärtigen Militäroperationen?
Das erste Ziel war es, die Jungen und die Entführer zu finden, das ist dann sehr schnell zu einem allgemeinen Schlag gegen Mitglieder und die Infrastruktur der Hamas in der Westbank ausgeweitet worden. Das wurde vor etwa eineinhalb Wochen wieder zurückgefahren, da die Reaktionen der palästinensischen Straße immer heftiger wurden. Die Proteste richteten sich aber weniger gegen Israel als gegen die palästinensische Autonomiebehörde. Jugendliche warfen Steine auf eine Polizeistation in Ramallah, und das israelische Militär verstand, dass es Abbas in große Schwierigkeiten brachte.
Israel will die Hamas als Gesamtorganisation unter Druck setzen, um klarzumachen, dass der Preis für Entführungen für sie zu hoch ist und dass die Hamas ihre Leute unter Kontrolle bringen muss. Deshalb auch die Verlagerung der israelischen Militäroperation von der Westbank, wo sie Abbas in Schwierigkeiten brachte, nach Gaza. Das wird sich noch verstärken, wenn sich herausstellt, dass die Entführung aus Gaza angeordnet oder abgesegnet wurde.
Wie hat die palästinensische Öffentlichkeit rea­giert? Sind Facebook-Bilder von Palästinensern, die mit einer Drei-Finger-Geste die Entführung feiern, repräsentativ?
Ja, ich bin überzeugt, dass sie repräsentativ sind. Mein Kollege David Pollock am Washington Institute hat vergangene Woche eine Umfrage unter Palästinensern veröffentlicht, bei der unter anderem gefragt wurde, durch welche Schritte Israel Vertrauen gewinnen könne. Bei den Antworten ging es mehrheitlich nicht um Jerusalem oder die Flüchtlinge, sondern um die Freilassung von Gefangenen. Die palästinensischen Medien beschreiben israelische Gefangennahmen in der Westbank oft als Entführungen. Besonders in den vergangenen zwei Monaten sind Palästinenser in den Hungerstreik getreten, die in Israel ohne zeitliche Begrenzung in sogenannter Administrationshaft sind. Die palästinensische Öffentlichkeit hat stark darauf reagiert, in Ramallah sah ich überall entsprechende Flaggen und Demonstrationen. Die Entführungen wurden mit Verweis auf die Inhaftierungen legitimiert, aber meiner Meinung nach gibt es einen Unterschied zwischen der Entführung von Teenagern, ob Siedler oder nicht, und gezielten Festnahmen der isra­elischen Armee.
Ist es nicht nachvollziehbar, dass Festnahmen ohne rechtsstaatliches Verfahren als Entführungen betrachtet werden?
Ich kann nicht viel über die Verfahren des israelischen Militärs sagen. Aber ich kann sagen, dass eine Inhaftierung durch die israelische Armee für den Durchschnittspalästinenser, der seinem Alltag nachgeht, sehr unwahrscheinlich ist. Ob Israel die Administrationshaft exzessiv einsetzt, ob dabei neben militanten auch viele politische Aktivisten inhaftiert werden, ist eine interessante Frage. Ich denke, Kritiker und Befürworter dieser Praxis haben Argumente. Das Militär sagt, dass öffentliche Gerichtsverfahren nicht möglich seien, weil man dadurch sein Informantennetz gefährden würde. Im Idealfall gäbe es eine Art Balance zwischen Geheimdienstbedenken und dem rechtstaatlichen Verfahren, das durchaus viele Palästinenser an israelischen Gerichten erhalten.
Wie hat die Studie Ihres Instituts über die Haltung der Palästinenser zu Hamas und anderen militanten Gruppen ergeben?
Die Studie hat gezeigt, dass die Palästinenser mehr und mehr den Glauben an eine langfristige und friedliche Zwei-Staaten-Lösung verlieren. Zugleich zeigen sie kurz- und mittelfristig sehr viel Pragmatismus, und sie entfernen sich von militanten Positionen wie denen der Hamas, besonders in Gaza. Dort stimmen etwa 70 Prozent der Strategie von Abbas zu, nicht der von Hamas, und Gaza war historisch immer viel stärker auf Seiten der Hamas als die Westbank. Die Hamas verliert besonders in Gaza an Unterstützung, weil sie dort regiert. In einem Interview, das ich mit Hamas-Führer Hassan Yousef in Ramallah geführt habe, hat er selbst gesagt, dass die Hamas in einer Krise stecke. Deshalb will sie die Souveränität in Gaza abgeben und hat sich auf den Versöhnungsprozess mit der Fatah eingelassen.
Glauben Sie wirklich, dass die Hamas die Macht in Gaza aufgeben wird? Will die Organisation nicht nur die Bürde von Parlamentsarbeit und Verwaltung loswerden und wieder vor allem als militante Organisation agieren?
Ich glaube, auf diese Frage kann niemand eine sichere Antwort geben, und vermutlich ist auch die Hamas hierüber nicht einig. Sie will definitiv die politische Macht abgeben, die Souveränität und Verantwortung in Gaza, aber sie will auch unbedingt ihre Waffen und ihren militanten Flügel behalten. Die Hamas bewegt sich mehr in Richtung des Hisbollah-Modells, bei dem sie Teil des politischen Prozesses ist, ohne ihn zu kontrollieren, aber mit Waffen und der Gewaltoption für die Zukunft. Das ist meines Erachtens die derzeit problematischste politische Frage. Sollen die EU und die USA einen politischen Prozess unterstützen, bei dem eine bewaffnete Gruppe an Wahlen teilnehmen und an der Regierung beteiligt sein kann?
Aber diese Frage muss beantwortet werden, denn bald soll es palästinensische Parlamentswahlen geben.
Die Wahlen sollen nächstes Jahr stattfinden, ein genaues Datum gibt es noch nicht. Spricht man mit palästinensischen Offiziellen, so wollen diese Wahlen, wissen aber nicht, ob es sie geben wird. Die Hamas hat sich 2006 auch unter dem Druck der USA an Wahlen beteiligt. Israel lehnte das ab, und viele sehen die Wahlbeteiligung als Fehler an, weil die Hamas sich nicht verpflichten musste, sich ganz auf einen gewaltlosen politischen Prozess einzulassen, anstatt sich die Option von Gewalt und Terror offenzuhalten.
Hat sich die israelische Strategie der Isolation der Hamas als erfolgreich erwiesen?
Ja, sie war sehr erfolgreich, aber es war nicht nur die Strategie Israels, sondern auch die ägyptische Strategie des vergangenen Jahres und die US- und EU-Politik seit dem Hamas-Coup in Gaza im Jahr 2007. In den vergangenen sieben Jahren hatte man eine politische und ökonomische Isolation der Hamas in Gaza, und besonders seit dem Vorgehen der Ägypter gegen die Schmuggeltunnel ist die Hamas stark geschwächt, auf ökonomischer, politischer, sozialer und finanzieller Ebene. Das ist der Hauptgrund, weshalb Hamas dem Versöhnungsprozess zugestimmt hat, bei dem sie bei genauer Betrachtung der bislang verhandelten Details nicht viel zu gewinnen hat.
Interessant ist die Frage, was man nun mit diesem Erfolg durch die Isolationsstrategie anfängt. Wie kann man gleichzeitig Abbas und die PA unterstützen und die Lebensbedingungen der Menschen in Gaza verbessern, die sich derzeit auf allen Ebenen drastisch verschlechtern?
Gibt es keine Alternative zu Abbas und seinem politischen Programm?
Ich denke nein, denn er ist der zugleich mächtigste und populärste palästinensische Politiker. Zudem verhielt er sich konsistent, zumindest öffentlich, indem er für eine Zwei-Staaten-Lösung und gegen den Einsatz von Gewalt eintrat. Beide Positionen sind ermutigend und sehr wichtig, besonders aus dem Mund eines palästinensischen Politikers. Abbas hat angedeutet, dass er sich zur Ruhe setzen und nicht bei den nächsten Wahlen antreten will, aber es ist unklar, ob er das tatsächlich tun wird. Die Frage seiner Nachfolge ist von großer Bedeutung.
Sie stimmen also nicht den israelischen Beschuldigungen zu, wonach er sich mit Hamas-Terroristen gemein mache? Hätte er überhaupt eine Alternative zu einer Einigung mit der Hamas?
Ich lehne diese israelische Position ab. Das Versöhnungsabkommen ist nicht per se gut der schlecht, die Umsetzung war bislang sehr vorteilhaft für Abbas und die Fatah. Die Beschuldigung, dass er nun mit Hamas zusammenarbeitet, ist einfach nicht wahr. Vielmehr nutzt er das Versöhnungsabkommen als weiteren Hebel gegen die Hamas. Aber es gibt legitime Sorgen hinsichtlich der Details und der Umsetzung des Abkommens, bei denen US- und EU-Politiker sehr wachsam sein müssen. Die Hamas darf das Abkommen nicht für eigene Zwecke nutzen.
Was sind die wichtigen Punkte, durch die die Hamas und die militante Strategie geschwächt werden könnten?
Die Frage der Angestellten im öffentlichen Dienst in Gaza ist aus zwei Gründen sehr wichtig: Man kann nicht einfach 40 000 Hamas-Anhänger mit auf die Gehaltsliste der PA setzen, das wäre aus Gründen der Sicherheit und der Finanzierbarkeit sehr riskant. Besonders die Europäer haben die PA seit Jahren gedrängt, die Verwaltung zu rationalisieren und zu verkleinern. Und wenn das Sicherheitspersonal der PA wieder nach Gaza kommt, ist die Frage, wie das Verhältnis zu den militanten Gruppen dort aussieht. Soll Abbas deren Entwaffnung fordern? Dass dies geschieht, ist unwahrscheinlich, aber er sollte es wenigstens öffentlich fordern, denn die Frage der bewaffneten Kräfte in Gaza ist entscheidend. Und dann ist noch die Frage, ob man der Hamas die Beteiligung an Wahlen erlauben soll, ohne dass sie zuvor palästinensischen Gewaltverzichtserklärungen zugestimmt hat.
Außenminister Liberman forderte am Freitag voriger Woche, Leute, die in Israel gegen die israelischen Militäroperation protestieren, wie Terroristen zu behandeln. Auf welche Proteste bezog er sich?
Ich glaube, das war keine ernsthafte Aussage, denn trotz allem, was Leute sagen, ist Israel eine Demokratie mit Meinungsfreiheit. Es ging dabei um Proteste von einer islamistischen Bewegung in Nord-Israel, die eine lange Geschichte von extremen Aussagen hat. Ansonsten bezog sich die einzige Kritik in Israel auf die Frage, ob man sich auf Verhandlungen über eine Gefangenenfreilassung einlassen solle. Es gab 2011 die Freilassung von rund 1 000 palästinensischen Terroristen im Austausch für den entführten Soldaten Gilat Shalit. Da die Hamas seitdem immer wieder versucht hat, Menschen zu entführen, war die Kritik, dass man mit Gefangenenfreilassungen die Terroristen nur zu weiteren Entführungen ermutige. Es gibt Forderungen nach Gesetzen, die es viel schwerer machen, Gefangene gegen Entführungsopfer auszutauschen – was Israel bereits recht oft in den vergangenen 30 Jahren getan hat. Obwohl die Öffentlichkeit zu großen Teilen für den Austausch von Gilat Shalit war, dreht sich nun die Stimmung.