Waffenstillstand in der Ostukraine

Jeder bleibt, wo er ist

Die ukrainische Regierung verkündet einen Waffenstillstand, Russland verzichtet auf eine Invasion. Kann der Konflikt in der Ost­ukraine beigelegt werden?

Mit der Anfang voriger Woche verkündeten Waffenruhe signalisierte die ukrainische Regierung, dass sie im Konflikt um die separatistischen »Volksrepubliken« im Osten die Zeit der Verhandlungen für gekommen hält. Friedlich blieb es allerdings nicht, seither gabe es weitere Tote, darunter sowohl ukrainische Armeeangehörige als auch Zivilpersonen. Zudem machten die Separatisten keinen Gebrauch von dem Angebot für Überläufer, straffrei auszugehen, wenn sie nachweislich keine schweren Straftaten begangen haben. Bis Freitagabend sollte der Waffenstillstand gelten, der ukrainische Präsident Petro Poroschenko verlängerte die Frist um weitere drei Tage, jedoch nicht über Montagabend hinaus: »Die Nichtfortsetzung der Feuerpause ist unsere Antwort an die Terroristen, Freischärler und Marodeure.«
Russland plädiert für die Einleitung von Verhandlungen. Zur Bekräftigung des russischen Friedenswillens zog der Föderationsrat auf Initiative von Präsident Wladimir Putin sogar die im März erteilte Bewilligung eines Militäreinsatzes in der Ukraine zurück. Vom Friedensnobelpreis dürfte der russische Präsident dennoch weit entfernt sein. Bislang hat er von der Eskalation in der benachbarten Ukraine erheblich profitiert, wie Umfragen zeigen. Mit einer Zustimmung von fast 90 Prozent hat sich Putin zu neuen Höhen aufgeschwungen – wie immer nach kurzen militärischen Einsätzen, so auch 2008 nach dem Krieg gegen Georgien. Bereits 1999, als er zum Nachfolger des vormaligen Präsidenten Boris Jelzin aufgebaut wurde, nutzte er den Feldzug in Tschetschenien. Als der schnelle militärische Erfolg ausblieb und der Krieg immer verlustreicher wurde, litt auch die Popularität des Siege versprechenden Präsidenten.

Ein schneller Erfolg wie auf der Krim ist im Osten der Ukraine ausgeschlossen. Als zusätzliches problem dürfte die jüngst erfolgte Unterzeichnung des wirtschaftlichen Teils des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union Auswirkungen auf das weitere Vorgehen Russlands zeigen. Von seinen langfristigen strategischen Zielen, nämlich der Verhinderung einer Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato und der EU sowie der Beibehaltung oder gar des Ausbaus politischen und ökonomischen Einflusses auf das Nachbarland, wird Russland kaum Abstand nehmen. Zwar ist nun erstmal Schadensbegrenzung angesagt, bevor weitere Verluste der Separatisten drohen, die lediglich etwa 30 Prozent der von ihnen beanspruchten Gebiete kontrollieren. Doch ist abzusehen, dass die sich unweigerlich in die Länge ziehende Verhandlungen den ausgebrochenen Konflikt lediglich verewigen, was Russland gelegen kommt.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow gab indes am Samstag in einem Interview für den Fernsehsender Rossija 1 zu, dass die »Stimme Moskaus« bei den Anhängern der ostukrainischen »Volksrepubliken« Gehör findet. Doch wehrte er sich vehement gegen die Einschätzung, es gebe eine aktive Einflussnahme der russischen Regierung. Als Beweis für Russlands Autorität führte er die Freilassung mehrerer Mitarbeiter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nach über einem Monat Geiselhaft an, die nach Aufrufen des Patriarchen Kyrill, der russischen Führung, des Schweizer Bundespräsidenten und des derzeitigen OSZE-Vorsitzenden, Didier Burkhalter, erfolgt war. »Es gibt Grund zur Annahme, dass man auf uns auch in Bezug auf andere Aspekte der russischen Haltung zur Krise in der Ukraine hört«, teilte Lawrow mit. »Aber das bedeutet keineswegs, dass alle unsere Aufrufe sofort umgesetzt werden.«
Damit mag er nicht ganz unrecht haben. Aussichten auf einen Friedensprozess sind längst nicht für alle verlockend, wo sich so manche Kämpfertruppe mit ihren wenig geschlossen agierenden Kommandeuren in den »Volksrepubliken« gerade erst im Kriegsgeschäft eingerichtet hat und teils wesentlich ambitioniertere Ziele verfolgt als die russische Regierung. Zwar haben sich die beiden abtrünnigen ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk in der vergangenen Woche als »Noworossija« in einer Konföderation zusammengeschlossen, eine zukünftig einheitliche Vorgehensweise ist trotzdem nicht garantiert.

Die ukrainische Regierung weigert sich zudem, mit den Anführern der Separatisten direkt zu verhandeln. Für ein erstes Treffen Anfang vergangener Woche, bei dem ein Waffenstillstand vereinbart worden war, entsandte die ukrainische Führung den ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma. Vertreten waren unter anderem auch Nestor Schufritsch von der Partei der Regionen und der Oligarch Viktor Medwedtschuk. Insbesondere die Teilnahme Medwedtschuks sorgte für einige Verwirrung, denn der vormalige Leiter von Kutschmas Präsidialverwaltung gehört längst nicht mehr zu den führenden Politikern der Ukraine. Weder in Kiew noch im Donbass kann er sich großer Autorität erfreuen, dafür ist Putin der Patenonkel seiner Tochter. Aus dem Umfeld des geflüchteten ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch hieß es derweil, die russische Regierung favorisiere die Ernennung von Medwedtschuk zum Gouverneur des Donezker Gebietes, während Schufritsch für dasselbe Amt in Lugansk vorgesehen sei.
Ob deren Kandidaturen auf das Einverständnis der ukrainischen Regierung stoßen, ist fraglich. Fest steht derzeit lediglich, dass es in jeder Hinsicht schwierig werden wird, einen Konsens über den zukünftigen Status des Donbass herzustellen und einen Kompromiss zu finden. Zu sehr unterscheiden sich die Vorstellungen der Fraktionen. Die politische Führung der abtrünnigen Regionen besteht auf völliger Unabhängigkeit von der Ukraine mit einer zukünftigen engen Anbindung an Russland. Das ist für die ukrainische Regierung nicht akzeptabel, ebenso wie eine abgeschwächte Variante mit weitreichender Autonomie für die Region.
Aus Sicht der Kiewer Regierung kommt nur ein Verbleib des Donbass in der Ukraine in Frage, der, als Konzession, mit einer Lockerung der zentralistischen Staatsform in der Verfassung einhergehen soll. In diesem Punkt könnten sich die ukrainische und russische Führung näherkommen. Eine Loslösung des Donbass von der Ukraine würde Russland eine hohe, nicht gewollte finanzielle Verantwortung für eine ökonomisch geschwächte Region mit etwa sieben Millionen Einwohnern auferlegen. Zudem wird Russland dafür sorgen wollen, dass das aufständische Potential der prorussischen Separatisten in der Ukraine verbleibt. Gleichzeitig stellt sich für Putin das Problem, sein Image als Vertreter der russischsprachigen Bevölkerung aufrecht zu erhalten.

Der Versuch, die nationalistische Hysterie nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, könnte auch Alexander Dugin, den Chefideologen der russischen Eurasier, seinen Posten als Leiter des Lehrstuhls für Soziologie der internationalen Beziehungen an der Moskauer Staatsuniversität MGU gekostet haben. Dugin hatte die Kündigung Ende Juni im russischen sozialen Medium vkontakte gemeldet. Den Anlass bot wohl Dugins Reaktion auf die Gewalttaten in Odessa Anfang Mai, als im Gewerkschaftshaus unter nach wie vor nicht geklärten Umständen 46 Menschen ums Leben gekommen waren. Dugin, einer der glühendsten Befürworter eines Einmarsches russischer Truppen in der Ukraine, hatte damals aufgerufen, jene zu »töten, töten, töten«, die solche Gräueltaten zu verantworten haben. Wenige Tage nach der aufsehenerregenden Entlassung dementierte die Leitung der MGU allerdings, dass der Vertrag aufgelöst worden sei. Vielleicht will Putin auf Dugins ideologische Arbeit doch nicht verzichten.