Kritische Theorie in Brasilien

Jenseits von Ordnung und Fortschritt

Die weltweit interessantesten Veranstaltungen zur Kritischen Theorie finden nicht selten in Brasilien statt. Hier wird schon lange lebhaft über Adorno, Horkheimer und Marcuse debattiert.

Ordem e Progresso« ist auf der brasilianischen Staatsflagge zu lesen, »Ordnung und Fortschritt«. Der französische Philosoph Auguste Comte hatte diese Formel zur Devise seines Positivismus erhoben, den er in späten Lebensjahren zur Religion der Humanität mystifizierte; Comte formulierte als Motto: »Liebe als Grundsatz und Ordnung als Grundlage; Fortschritt als Ziel.« Seine Anhänger, organisiert in verschiedenen, durchaus einflussreichen Sekten und Gemeinschaften, nahmen das als Programm, veröffentlichten 1891 in Deutschland, Frankreich, England und Brasilien gleichzeitig den Band »Positivistischer Katechismus oder summarische Darstellung der universellen Religion in dreizehn systematisierten Dialogen zwischen einer Frau und einem Priester der Humanität«, herausgegeben vom »Positivistischen Apostolat«. Zwei Jahre zuvor, 1889, rief Marschall Manuel Deodoro da Fonseca die erste brasilianische Republik aus und leitete in seiner militärischen Position die provisorische Übergangsregierung – die Monarchie war gestürzt. Seither steht »Ordnung und Fortschritt« auf der Staatsflagge, auf einer weißen Banderole, die sich über ein stilisiertes Firmament spannt – die Sterne, jeweils Bundesstaaten repräsentierend, bilden an zentraler Stelle die Konstellation eines Kreuzes (»Kreuz des Südens«). Vom 25. Februar 1891 bis zum 23. November 1891 war Deodoro da Fonseca der erste gewählte Präsident der nunmehr föderativen Vereinigten Staaten von Brasilien. Von Anfang an war die moderne Republik durch die Herrschaft des Militärs und der Kirche geprägt.
Auf Comtes »Liebe als Grundsatz« wurde verzichtet, das zur Parole geronnene Motiv »Ordnung und Fortschritt« formierte sich in der brasilianischen Gesellschaft zu einer gefährlich-eigensinnigen »Dialektik der Aufklärung«, deren Ursprünge noch immer weit in die Kolonialzeit zurückreicht, wo einst Jesuiten das »Traumreich der Lusiaden« eroberten, das heißt plünderten, vergewaltigten und mordeten. Es folgte die brutale Zeit der Sklaverei, die Brasilien erst 1888 offiziell abschaffte – und auch wenn es heute scharfe Antidiskriminierungsgesetze gibt, ist der Rassismus, geächtet wie geduldet, zumal für die afrobrasilianische Bevölkerung immer noch sehr präsent. Dass Hausangestellte, zumeist Frauen (die sogenannten Domesticas), unter- oder gar nicht bezahlt ihr Dasein in kleinen Kämmerchen hinter der Küche fristen, gehört auch heute noch zum brasilianischen Alltagslebens.
Die gefährlich-eigensinnige Dialektik der Aufklärung besteht nun darin, dass in bizarrer Weise im 20. Jahrhundert das Militär und die katholische Kirche wieder und wieder (und auch oft genug gegeneinander) für sich reklamierten, die Demokratie zu schützen und die Freiheit zu verteidigen; überdies bleiben bei aller Ambivalenz die politisch-sozialen Verhältnisse in Brasilien durch das Nachleben feudal-aristokratischer Macht geprägt. Auch wenn Brasilien sich als »ein Amerika für alle« darstellt, gibt es kaum ein Land, das derart offensichtlich vom Nebeneinander sozialer Zonen, von durch Inklusion und Exklusion definierten Räumen – Gated Communities, Einkaufszentren, Wohnblocks, Favelas und so weiter – geprägt ist.
Der Anthropologe Roberto DaMatta hat das 1984 in seinem Buch »Das Haus und die Straße« untersucht. »Die rücksichtslose Kritik des Bestehenden« (Marx) findet auch hier genügend Gründe; mit Karneval, Samba und den überall im Land verteilten Christo-Statuen lässt sich nur leidlich verklären, dass Brasilien, längst als spätkapitalistische Industrienation stabilisiert, ein Land des Elends und der Armut ist. »A Felicidade«, einer der ersten Bossa-Nova-Songs, hat das melancholisch festgehalten: »Die Traurigkeit hört niemals auf – das Glück ja!«
»Ordnung und Fortschritt« – es ist also zunächst der Geist des Positivismus, der Brasilien bestimmt, und nicht etwa der reale Humanismus, den Karl Marx und andere im 19. Jahrhundert als kritische Theorie konzipierten. Gleichwohl entwickelt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts schnell eine große Industrie; die ersten Parteien werden dann Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts von Kommunisten gegründet, eine Arbeiterbewegung formiert sich, es gibt soziale Unruhen – das moderne Brasilien wird schnell als Klassen- und Konsumgesellschaft erkennbar. Mit dem 1930 vom Militär eingesetzten Präsidenten Getúlio Vargas – der energische Antikommunist wird liebevoll »Vater der Armen« genannt – kommt der Sozialstaat, als gleichsam sozialfaschistische Variante des US-amerikanischen New-Deal-Programms; von 1937 bis 1945 regiert Vargas diktatorisch den von ihm proklamierten »Estado Novo«.
Schon in den Zwanzigern flohen viele verfolgte Italiener vor dem Mussolini-Faschismus nach Brasilien. Um 1940 bietet Brasilien den europäischen Juden Zuflucht, obwohl Vargas seinen Putsch antisemitisch inszenierte. Auch Walter Benjamin zog in Erwägung, nach Brasilien zu emigrieren. Indes: Die Kritische Theorie, der Max Horkheimer mit seinem berühmten Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« 1937 ihren Namen gibt, konstituiert sich als Forschungsprojekt, von den letzten Nischen des freien Geistes in Europa abgesehen, vor allem in den USA, in New York und Kalifornien beziehungsweise Los Angeles.
Eine gewichtige Rolle spielt Brasilien in dieser Zeit für den Strukturalismus und die sogenannte Ethnosoziologie durch Claude Lévi-Strauss, Dina Dreyfus und Mário de Andrade. Es ist die Zeit, in der Nazideutschland und die USA gleichermaßen versuchen, ihren Einfluss in Brasilien und Südamerika zu stärken; die Kolonialisierung wird kulturindustriell – Adorno und Horkheimer prägen jetzt in der »Dialektik der Aufklärung« den Begriff der Kulturindustrie – fortgesetzt, die Disney-Studios schicken ein ganzes Filmteam in den Süden, das unter anderem den beliebten Südamerika-Reklame-Trickfilm »Saludos Amigos« (1942) produziert, in dem José Carioca dem alsbald vom Cachaça besoffenen Donald den Samba nahebringt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt die Zeit des brasilianischen Modernismus, der seinen Ausdruck im Bau der neuen Hauptstadt Brasília findet, die binnen weniger Jahre ab 1956 im Hinterland errichtet wird. Gesellschaftliche Entwicklungen bedingen eine Umstrukturierung des Bildungswesens; die Universitäten werden, vergleichbar mit Nordamerika und Europa, zu den prädestinierten Orten der Kritik. Gleichwohl hat auch in Brasilien die Kritische Theorie ihren Ursprung jenseits der Akademie, ist Moment der wirklichen Bewegung in der Auseinandersetzung mit den sozialen Verhältnissen: Das reicht zurück zu den Anfängen des brasilianischen Modernismus in den zwanziger Jahren. Oswald de Andrade (1890–1954) veröffentlichte 1924 sein »Brasilholz-Manifest«, dann 1928 das – berühmt wie berüchtigt gewordene – »Anthropophagische Manifest«. Hier verteidigt Andrade einen »kulturellen Kannibalismus« gegen den hegemonialen Eurozentrismus. Ihre Fortsetzung hat diese – in ihrer Poesie dem Surrealismus wahlverwandte – Form spezifischer Politisierung der Kunst ebenso im Karneval gefunden wie im Cinema Novo und der Tropicália-Bewegung der sechziger Jahre: Auch hier übrigens situiert und orientiert sich Kritik am Sertão, am Hinterland. Hinzu kommt in dieser Zeit, bereits überschattet vom Terror der Militärdiktatur und ebenfalls jenseits der akademischen Institutionen, die von Paulo Freire (1921–1997) erprobte »Pädagogik der Unterdrückten«. Das unter diesem Titel 1970 erschienene Buch wird heute endlich und zu Recht als Grundwerk kritischer Bildungstheorie rezipiert.
In den sechziger Jahren beginnt nun auch an den brasilianischen Universitäten eine breitere Rezeption der bereits akademisch als Frankfurter Schule kanonisierten Kritischen Theorie. José Guilherme Merquior (1941–1991) veröffentlicht 1969 noch vor Martin Jays bahnbrechender Studie »Dialektische Phantasie« die weltweit erste monographische Darstellung der Geschichte der Kritischen Theorie im Kontext des Instituts für Sozialforschung: »Kunst und Gesellschaft bei Marcuse, Adorno und Benjamin. Kritischer Bericht über die Frankfurter neohegelianische Schule«. Mehr als problematisch ist es allerdings, wie Rodrigo Duarte bemerkt, »dass diese erste Studie über die Frankfurter Schule von einem brasilianischen Intellektuellen verfasst wurde, der – nur wenige Jahre später – dem Militärregime öffentliche ideologische Unterstützung gewährt hat.« Dass es ein Konservativer war, der die Kritische Theorie zuerst aufnahm, sei für ihre Rezeption in Brasilien insgesamt nicht ohne Konsequenzen geblieben. Dass Merquior seine Interpretation an vielen Stellen auf Martin Heidegger rückkoppelt, ist zwar falsch, aber in diesem, nämlich bürgerlich-universitären, Zusammenhang dann doch konsequent (und im Übrigen sowieso einer der beliebten Mechanismen akademischer Verballhornung kritischen Denkens).
Maßgeblichen Einfluss haben überdies in den Sechzigern die Schriften Herbert Marcuses – nicht nur als Kritische Theorie, sondern auch als Praxisphilosophie politisch notwendigen Eingreifens: 1964 beginnt nach dem Sturz des linksliberalen Präsidenten João Goulart die Zeit der Militärdiktatur – im selben Jahr veröffentlicht in den USA Marcuse seinen Bestseller »Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft«; in Brasilien erscheint das Buch 1967 unter dem abgekürzten Untertitel »A ideologia da sociedade industrial«. Weitere Schriften von Marcuse werden übersetzt und liefern für die – studentische, kulturbürgerliche, wenn auch radikale und emanzipatorische – Widerstandsbewegung gegen das Militär die Stichworte. Indes verloren mit dem Scheitern des Widerstands (vor allem bedingt durch den Ato Institucional Número Cinco von 1968, der den Terror und die Repression gegen jede Form der Opposition legitimierte) auch Marcuse und die Kritische Theorie an Bedeutung.
Im Schutz der katholischen Universitäten erhielt sich jedoch eine Debatte über Kritische Theorie im allerweitesten Sinne, so hielt etwa Michel Foucault 1973 in Rio de Janeiro Vorträge über »Die Wahrheit und die juristischen Formen«. Mithin wurde die Kritische Theorie – ähnliche wie auch in Europa und den USA – sukzessive zur akademischen Theorie depotenziert, verbunden mit einem eher philologisch-hermeneutischen Interesse vor allem an Adorno und Benjamin. Für die Kritische Theorie in Brasilien ist dafür Flávio Kothes Buch »Benjamin und Adorno – Gegenüberstellungen« exemplarisch.
Erst mit dem Ende der Militärdiktatur in den achtziger Jahren bekommen auch die Diskussionen über eine Kritische Theorie als kritische Theorie der Gesellschaft wieder eine größere, öffentliche Relevanz. Eine fundierte Einführung veröffentlicht Barbara Freitag 1987 mit »Kritische Theorie: Gestern und heute«. Abgesehen vom linguistic turn, der sich in den achtziger Jahren in der Kritischen Theorie durch die sogenannte kommunikationstheoretische Wende von Jürgen Habermas auch in Brasilien bemerkbar macht, entfaltet sich in den folgenden Jahren eine durchaus eigenständige und originelle Kritische Theorie, die sowohl mit der spezifischen Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft und ihren Widersprüchen als auch mit der neoliberalen Globalisierung zu tun hat. Einerseits bedeutet das eine verstärkte Auseinandersetzung mit Fragen der Psychoanalyse und ästhetischen Ideologie, andererseits wird mit großem Interesse in den neunziger Jahren dann die Debatte über Wertkritik und Krisentheorie verfolgt. Der 2012 verstorbene Robert Kurz hatte in der Folha de S. Paulo, einer der großen brasilianischen Tageszeitungen, eine Kolumne, sein Buch »Kollaps der Modernisierung« wurde bereits 1991 ins Brasilianische übersetzt.
Wichtig für die Kritische Theorie in Brasilien wird zudem die universitäre Verbindung nach Kassel, zu Philosophen wie Ulrich Sonnemann und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, und die Anknüpfung weniger an die sogenannte Frankfurter Schule als vielmehr an die – vom mittlerweile in Rio de Janeiro lebenden Wolfgang Bock als solche bezeichnete – Lüneburger Schule: Hermann Schweppenhäuser, Christoph Türcke und der damals in Lüneburg gegründete Zu-Klampen-Verlag (in dem seit 1995 die Zeitschrift für kritische Theorie erscheint).
Mit der wachsenden Bedeutung informationstechnologischer Vernetzung ergibt es nunmehr kaum noch Sinn, bestimmte Theoriedebatten regional zu verorten; ohnehin ist, nach angelsächsischem Vorbild, Critical Theory im globalen Universitätsbetrieb längst zum Label für alle möglichen Forschungen und Fakultäten umfunktioniert worden. Zu gegebenen Anlässen finden überall auf der Welt große Tagungen statt; jedoch ist es bemerkenswert, dass die interessantesten Veranstaltungen zu Adorno, Benjamin, Marcuse und überhaupt zur Kritischen Theorie nicht selten in Brasilien stattfinden: in Porto Alegre, in São Paulo, in Belo Horizonte oder dem beschaulichen Universitäts- und Barockstädtchen Ouro Preto. Hier trifft man auf eine lebendige Kritische Theorie, die sich mit den Fachfragen ebenso beschäftigt wie mit den aktuellen Problemen der brasilianischen Gesellschaft.
Nach und nach werden nun auch die zentralen Schriften der Kritischen Theorie übersetzt, etwa Adornos »Negative Dialektik« oder, in Vorbereitung, seine frühe Studie zu Edmund Husserl, »Metakritik der Erkenntnistheorie«. Dass bei Autoren wie Rodrigo Duarte, Marcus Nobre oder Eduardo Soares Neves Silva scheinbar Themen des Ästhetik im Vordergrund ihrer Beschäftigung mit Adorno stehen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch um politische Fragen geht, um die Möglichkeit der Utopie. Eine – erst seit zehn Jahren langsam einsetzende – Debatte über die Verbrechen der Militärdiktatur hat immanent Einfluss auf die Rezeption Walter Benjamins; im Zentrum stehen hierbei seine Thesen über den Begriff der Geschichte (verwiesen sei auf so unterschiedliche Autoren wie Jeanne Marie Gagnebin, Georg Otte, Márcio Seligmann-Silva oder Carlos Eduardo Jordão Machado). Auf eine politisch offensive Auseinandersetzung mit der Diktatur im Rekurs auf die Kritische Theorie, vor allem Adornos, insistiert Vladimir Safatle. Darüber hinaus behält die Kritische Theorie ihre praktische Relevanz in zahlreichen politischen Gruppen (zum Beispiel um die Zeitschrift »Sinal de Menos«, vgl. Jungle World 27/2013 und 24/2014) und für Autoren, die mit der emanzipatorischen Linken in Brasilien verbunden sind, wie zum Beispiel der in São Leopoldo in Rio Grande do Sul lehrende Helmut Thielen.
Kritische Theorie ist kein Standpunktdenken, keine Meinung und kein akademisches Forschungsprojekt; sie lässt sich zudem auch nicht, der Gepflogenheit des Wissenschaftsbetriebs gemäß, auf die Frankfurter Schule reduzieren. Wie wenig Kritische Theorie, Kritik an den Verhältnissen überhaupt, an einen Ort gebunden ist, zeigt gerade ihre Rezeption, Aktualisierung und Fortsetzung in Brasilien.
Freilich gehört auch in Brasilien Kritische Theorie mit zur akademischen Ideologie, sie ist wie überall Teil des Wissenschaftsbetriebs – als Branche der Kulturindustrie. Wenn in verbreiteten linksliberalen Publikumszeitschriften Walter Benjamins »Engel der Geschichte« mit den Verbrechen der Militärs konfrontiert wird, ist das ein Moment des kalkulierten Spektakels einer Gesellschaft, die sich immerhin »Ordnung und Fortschritt« auf ihre Fahne geschrieben hat, die bis heute jedoch Armut, Not, Hunger und Rassismus nicht abgeschafft hat. Dass aber solche Themen, solche Namen und solches Denken überhaupt eine über die Universitätsseminare hinausweisende Aufmerksamkeit finden, zeugt von einer Möglichkeit Kritischer Theorie, die anderswo verstellt ist: dass es eine Praxis gibt, eine reale Utopie, die sich jenseits von Ordnung und Fortschritt auf das Glück orientiert. Denn schließlich: »A alegria é a prova dos nove«, heißt es in Andrades »Manifest« von 1928; frei übersetzt wird das als: Happiness is the proof of the pudding.