Die Polizei in Stuttgart vor Gericht

Kopftreffer vor Gericht

In Stuttgart stehen zwei Polizeibeamte vor Gericht, die im Jahr 2010 den Einsatz gegen die Gegner von »Stuttgart 21« geleitet haben. Auch die politische Verantwortung für das brutale Vorgehen der Polizei ist noch nicht geklärt.

Die Sicherheitskontrollen vor dem Eingang zum Gerichtssaal sind strenger als beim letzten RAF-Prozess in Stuttgart. Doch das Interesse am ersten Tag der Verhandlung zum sogenannten Schwarzen Donnerstag ist überraschend gering, gemessen an dem Entsetzen, das die gewaltsame Räumung des von Gegnerinnen und Gegnern des Bahnhofs­projekts »Stuttgart 21« besetzten Schlossgartens vor vier Jahren weit über die Stadt hinaus ausgelöst hat. Nur wenige Projektgegner verfolgen den Prozessauftakt. An den folgenden ­Verhandlungstagen erscheinen dann jedoch mehr Gegner von »Stuttgart 21«.

Am 30. September 2010 wollte die Polizei den Park hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof weiträumig absperren. Im Auftrag der Deutschen Bahn sollten 300 Bäume gefällt werden, um auf der Fläche mit den Baumaßnahmen für das so­genannte Grundwassermanagement des geplanten Tiefbahnhofs zu beginnen. Als die sogenannten Parkschützer, unterstützt von zahlreichen Jugendlichen, die am Vormittag zu einer Schüler­demonstration in die Innenstadt gekommen waren, Widerstand gegen das Vorhaben leisteten, reagierte die Polizei mit brutaler Härte. Sie ging mit Schlagstöcken und Pfefferspray auf die Demonstrierenden los und trieb die Menge mit Wasserwerfern auseinander. Nach Angaben des baden-württembergischen Innenministeriums wurden dabei 130 Personen verletzt. Vertreter der »Parkschützer« forderten auf Transparenten vor dem Gerichtssaal, die Zahl der Verletzten zu korrigieren. In einer gemeinsamen Presseerklärung mit den Sanitätern, die während der Demonstration im Einsatz waren, heißt es, allein im Park seien über 400 Verletzte versorgt worden. Seit Dienstag vergangener Woche müssen sich nun die beiden zuständigen Einsatzabschnittsleiter der Polizei vor der 18. Großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt verantworten. Die Anklage wirft ihnen vor, bei der Freigabe des Wasserwerfereinsatzes die Beschränkung auf Wasserregen nicht weitergegeben zu haben, eine Einsatzform, bei der das Wasser indirekt und flächendeckend abgegeben wird, um größere Menschenmengen zurückzudrängen. In fünf Situationen hätten die beiden Beamten nachweislich einen »sorgfaltswidrigen Einsatz« zugelassen und bei Wasserstößen mit einem Druck von bis zu 16 Bar »nicht hinreichend auf die Vermeidung von Kopftreffern« geachtet.
Die Anklage führt neun Personen auf, die schwere Kopf- und Augenverletzungen davongetragen haben. Dietrich Wagner ist infolge der ­erlittenen Verletzungen annähernd erblindet. Das Foto, auf dem er mit blutigen Augen zu sehen ist, wurde zum Symbol des »Schwarzen Donnerstags«. Er tritt in Stuttgart als Nebenkläger auf, bezeichnet die Angeklagten aber als »Bauernopfer«, die Schuldigen seien anderswo zu suchen.
Wegen des Wasserwerfereinsatzes wurden bereits vier Bewährungs- und Geldstrafen gegen Polizeibeamte verhängt, sechs Verfahren wurden eingestellt. Die Angeklagten Andreas F. und Jürgen v. M. wiesen am ersten Prozesstag in einer gemeinsamen Erklärung die Anschuldigungen zurück. Sie sprachen den Verletzten ihr Bedauern aus, sie hätten jedoch während des Einsatzes nichts von den Verletzungen erfahren.

Als am zweiten Verhandlungstag die detaillierte Rekonstruktion des Polizeieinsatzes beginnt, betonen die Angeklagten, sie seien mit einer »Ad-hoc-Lage« konfrontiert und »überraschend« für den Einsatz bestimmt worden. Sie hätten wenig Vorbereitungszeit gehabt, ihnen seien zu wenige und noch dazu ortsfremde Hundertschaften zugeteilt worden, lediglich eine schlecht funktionierende Funkverbindung habe zur Verfügung gestanden. Wiederholt hebt Andreas F. die Verantwortung der übergeordneten Dienststellen hervor. Der damalige Polizeipräsident Siegfried Stumpf habe »unmissverständlich klargemacht, wir gehen um zehn Uhr in den Park«. Auf Nachfrage der Vorsitzenden Richterin Manuela Häußermann, ob ihnen als »erfahrenen Polizeibeamten« nicht Zweifel an der Durchführbarkeit des angeordneten Vorhabens gekommen seien, deuten die Angeklagten an, dass die hierarchische Struktur ihrer Organisation keinen Widerspruch vorsieht: »Wir arbeiten bei der Polizei lösungsorientiert.« Nachdem die ausgearbeitete »Lösung« offensichtlich gescheitert war, übernahm Polizeipräsident Stumpf, der mittlerweile im Ruhestand ist, die alleinige Verantwortung für die Eskalation im Schlossgarten und wies den Verdacht, die Polizei habe auf Druck des dama­ligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU) gehandelt, stets zurück. Stumpf ist einer von 35 Zeugen, die das Gericht im Verlauf des mit 30 Verhandlungstagen groß angelegten Prozesses bereits geladen hat. Die Nebenklage möchte, dass auch ehemalige politische Entscheidungsträger in den Zeugenstand gerufen werden.
Im Stuttgarter Landtag befasst sich parallel zum Prozess ein Untersuchungsausschuss mit der politischen Aufarbeitung des »Schwarzen Donnerstag«. Ein erster Ausschuss war 2011 zu keinem eindeutigen Ergebnis in der Frage der mutmaßlichen politischen Einflussnahme der früheren Landesregierung gekommen. Nachdem vor einigen Monaten E-Mails aufgetaucht waren, die Zweifel an Mappus’ damaliger Darstellung des Sachverhalts aufkommen ließen, setzte die grün-rote Landesregierung gegen den Willen der CDU-Fraktion die Einberufung eines zweiten Ausschusses durch. Da inzwischen auch die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen Mappus wegen uneidlicher Falschaussage ermittelt, könnte er im Falle einer Vorladung sowohl im Untersuchungsausschuss als auch im Prozess gegen die Polizeibeamten die Aussage verweigern. Mit umso ­größerer Spannung wird deshalb der für Mitte Juli geplante Auftritt Stumpfs vor dem Unter­suchungsausschuss erwartet.
Seit zwei ihrer Männer vor Gericht stehen, scheint insbesondere die mittlere polizeiliche Führungsebene nicht länger bereit zu sein, die uneingeschränkte Verantwortung für die Entscheidungen der Politik zu übernehmen. Zunächst berichtete ein Gewerkschafter der Polizei, der sich kritisch zum Polizeieinsatz geäußert hatte, über Einschüchterungsversuche aus dem Staatsministerium, nun sollen Notizen von Polizeibeamten aufgetaucht sein, die sich auf eine polizeiinterne Tagung mit dem ehemaligen Polizeipräsidenten wenige Tage vor dem Einsatz im Schlossgarten beziehen. Darin soll von Äußerungen Stumpfs die Rede sein, wonach Mappus wegen der anstehenden Polizeieinsätze am Hauptbahnhof großen Druck ausgeübt habe.

Im Gerichtssaal schlägt den beiden Angeklagten von Seiten der Gegner von »Stuttgart 21« kaum Feindseligkeit entgegen. Nur manchmal gelingt es diesen nicht, ein bitteres Lachen zu unterdrücken, wenn die Beamten sich als allzu willfährige Befehlsempfänger darstellen. Dann kommt es zu einem Wortgefecht mit der Richterin, die keine Unmutsäußerung aus dem Publikum duldet und Respekt für die Angeklagten einfordert. Im Prozess soll es offiziell nur um die juristische Verantwortung der Polizeibeamten gehen. Doch die allgemeine Erwartung ist deutlich zu spüren, im Laufe der Verhandlungen möge auch die politische Verantwortung für den »Schwarzen Donnerstag« endlich offengelegt werden.