Isis und das islamische Kalifat

Krieg ohne Grenzen

Nicht angeblich künstliche Staaten und westliche Interventionen sind das Problem des Nahen Ostens, sondern Führungsschichten, die ihr Herrschaftsgebiet als Beute betrachten.

Es sollte wohl ein hochsymbolischer Akt sein, als die medienbegeisterten Jihadisten des Islamischen Staates im Irak und Syrien (Isis) mit Hilfe eines Bulldozers eine schmale Schneise in einen Erdwall an der syrisch-irakischen Grenze graben ließen. Sie machten gleich eine Fotostrecke aus dem vorgeblichen Niederwalzen der Sykes-Picot-Grenze, dem nun, so die Botschaft, das grenzenlose Kalifat der Rechtgläubigen folgen würde.
Das war ein origineller Beitrag zu den Feierlichkeiten anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, auch wenn man bei Isis offenbar keine Zeit gefunden hatte, in die Geschichtsbücher zu schauen: Das ursprüngliche französisch-britische Abkommen von 1916 legte eine Trennlinie zwischen den künftigen Einflusssphären fest, die mit Blick auf eine Landkarte ausgehandelt wurde und vom »A« in Akko bis zum »K« in Kirkuk hätte reichen sollen, und so den heutigen Nordirak mit Mossul genauso wie Teile der Südtürkei Frankreich zugeschlagen hätte. Dass die Grenzen dann doch etwas anders gezogen wurden, hatte mit der Rivalität zwischen Großbritannien und Frankreich, den schwierigen Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt dem Umstand zu tun, dass die Briten den Söhnen des Scherifen von Mekka im Gegenzug für ihren Aufstand gegen das osmanische Reich politische Versprechungen gemacht hatten.
Was aber heutzutage die Jihadisten von Isis, altgediente Antiimperialisten und viele Nahost-Kommentatoren eint, ist die Vorstellung, die nun bald 100 Jahre alten nationalstaatlichen Grenzen im Nahen Osten seien nichts als perfide koloniale Konstrukte und ganz besonders »künstlich«. Als ob das Grenzen nicht im Allgemeinen wären. Dem schließt sich dann in der Regel die Behauptung an, die Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg seien schuld an der ganzen Malaise des heutigen Nahen Ostens – und George W. Bushs »War on Terror« natürlich. Erinnert sei dabei an Saddam Husseins Überfall auf Kuwait im Jahr 1990, für dessen pseudohistorische Begründung – Kuwait sei eigentlich immer eine Provinz des Irak gewesen und nur von den Briten dem Mutterland schnöde entrissen worden – Medien des Westens damals schon Verständnis zeigten.

Dabei orientierten sich diese Grenzen sogar an den älteren Verwaltungsprovinzen des osmanischen Reichs. Wo sie es nicht taten, wie etwa in »Transjordanien«, das zur Zeit der Grenzziehungen im Grunde nur aus staubigem Hinterland mit ein paar Kleinstädten bestand, existiert heute ein Staat, der gemeinhin sogar als Anker der Stabilität in der Region gilt, auch wenn Isis mit ihren Pickups bereits an der irakisch-jordanischen Grenze auf und ab fährt. Schließlich will man die Region ja bis zum Mittelmeer unter Kontrolle bringen.
Die unzähligen Probleme des Nahens Ostens liegen also kaum in diesen »künstlichen« Grenzen begründet. Da wären viele andere Gründe zu nennen. So scheitern seit 100 Jahren alle Versuche kläglich, ehemalige Untertanen des osmanischen Reiches, die immer zugleich Mitglied eines Stammes, Clans und einer religiösen Gruppe waren, die sie kontrollierten, aber auch schützten, in Bürger moderner Nationalstaaten zu transformieren. Die Zugehörigkeit zur Gruppe, ob sie nun ethnisch oder konfessionell bestimmt war, blieb dominanter Teil der Identität. Wer in Bagdad oder Damaskus die Macht innehatte, war immer primär Vertreter seiner Gruppe, die es zu versorgen und bei Laune zu halten galt. Schon der erste König des Irak, der von den Briten eingesetzte Faisal, wurde von den Sunniten als einer der ihren begrüßt. Im schiitischen Süden des Landes stieß er allenfalls auf geringe Zustimmung. Die irakischen Schiiten würden ebensowenig Gefallen an einem sunnitischen Herrscher finden, wenn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs andere oder gar keine Grenzen gezogen worden wären.
Was im Nahen Osten – anders als etwa im Maghreb, aber auch Ägypten – stattgefunden hat, war eben keine Kolonialisierung im klassischen Sinn, selbst wenn ganze Alterskohorten arabischer Linker und Nationalisten auf dieser Behauptung ihr ganzes Weltbild aufgebaut haben. Bis zur Schlussphase des Ersten Weltkriegs war der Nahe Osten Teil des osmanischen Reiches, die direkte Mandatsherrschaft währte dann nur rund 25 Jahre. Es war die Herrschaft von ausgepowerten Mächten, die weder den Willen noch die Ressourcen besaßen, die von ihnen eroberten Gebiete grundlegend umzustrukturieren. Wesentliche Teile der alten osmanischen Verwaltungs- und Herrschaftsstruktur blieben erhalten – in Resten bis heute. Diese »Kolonialherrschaft« war im Grunde von Beginn an ein Rückzug auf Raten. Während ein französischer General nach dem Einzug in Damaskus mit großer Geste ans Grab von Saladin trat, um als neuer »Kreuzritter« mitzuteilen, man sei »wieder da«, musste sich Winston Churchill als Kriegsminister schon mit einem verheerenden Aufstand im Irak herumschlagen, dessen Verlauf äußerst ungut an die jüngste Vergangenheit erinnert. Inklusive des Problems, dass der Einsatz im Irak teuer und unpopulär bei den britischen Wählern war und das Problem Irak von der Mandatsmacht bald vor allem unter dem Gesichtspunkt der Kostenreduzierung betrachtet wurde.

Eine weitere Mär ist die jüngst wieder gerne verbreitete Vorstellung, die innerirakischen Spannungen seien vor allem ein Produkt westlicher Interventionen – hätte man die Region nur in Ruhe gelassen, bestünde sie heute aus blühenden Landschaften. Als etwa Saddam Hussein 1991 gezwungen wurde, sich aus Kuwait zurückzuziehen, erhoben sich im Süden des Irak die Menschen gegen die Diktatur der Ba’ath-Partei. Die USA schauten dann zu, wie Saddam diesen Aufstand mit äußerster Brutalität niederschlagen ließ. Auf die Panzer seiner Eliteeinheit, der Republikanischen Garde, war damals der Spruch »Morgen wird es keine Schiiten mehr geben« gepinselt. Im Süd­irak wurden Hunderttausende massakriert.
Der hasserfüllte Kleinkrieg zwischen Sunniten und Schiiten im Irak hat keineswegs erst 2003 begonnen, als die USA Saddam Hussein dann doch noch stürzten. Er war längst im Gange, weil die irakische Ba’ath-Partei, deren Machbasis in ­jenen Gebieten lag, die derzeit unter Kontrolle von Isis stehen, im Kern sunnitisch war und auch in ihrer Abneigung gegen die Schia jedem wahhabitischen Kleriker aus Saudi-Arabien das Wasser reichen konnte. Während unter Saddams Herrschaft nichts zu teuer für sunnitische Städte wie Tikrit und Ramadi war, wurde der schiitische Süden des Landes in Unterentwicklung gehalten. Städte wie Amara oder Nassriyah verfügten nicht einmal über eine geschlossene Abwasserversorgung. Sunnitische Araber stellten in Verwaltung und Militär des Irak die Führung, während ein Großteil der Schiiten gezwungen war, in Slums zu leben.
Mit dem Ende Saddam Husseins und mit großzügiger Unterstützung aus benachbarten Ländern, die alles taten, damit aus der angekündigten Transformation des Irak in einen föderalen und einigermaßen demokratischen Staat nichts werde, kehrten die Verhältnisse sich um. Nun sahen schiitische Parteien ihre Stunde gekommen, im sunnitischen Dreieck dagegen fanden Islamisten und Alt-Ba’athisten genug Unterstützung, um einen Kleinkrieg gegen die neue irakische Regierung zu beginnen, der an Brutalität sogar für den Nahen Osten ein Novum war.

Von Ideen einer föderalen Neugestaltung des Landes, regionaler Autonomie und gerechterer Ressourcenverteilung hielt man wenig. Die gestürzten Eliten des Irak, fast ausschließlich Sunniten, wollten die Kontrolle über das ganze Land zurück, so illusorisch dieses Ziel angesichts der herrschenden Machtverhältnisse auch erschien. Nur bei den Kurden im Norden des Landes, die wohl auch am meisten von den neuen Verhältnissen profitierten, fanden Konzepte von Regionalisierung und Föderalisierung Rückhalt.
Als dann Führer sunnitischer Gruppen und Parteien sich erstmals in der Geschichte des Irak 2011 eines anderen besannen, Träume von panarabischen oder islamischen Großreichen hintanstellten und monatelang friedlich für mehr Autonomie und gegen die schiitische Dominanz der Zentralregierung in Bagdad demonstrierten, ließ diese sie zusammenschießen. Von Regionalisierung und lokaler Autonomie wollte man nichts hören, Sunniten stellten nun eine lästige Minderheit im Lande dar, die es militärisch zu unterwerfen galt. Tage bevor Isis alles überrollte, war das irakische Militär so weit, wie die syrische Luftwaffe barrel bombs über Wohngebieten in Ramadi abzuwerfen. Irakische Sunniten klagten, Ironie der Geschichte, Ministerpräsident Nouri al-Maliki und seine iranischen Verbündeten seien schlimmer als Saddam Hussein.
Im einen wie im anderen Fall verstehen klientelistische, korrupte Führungsschichten unter Regieren wenig mehr, als den Staat als Beute zu behandeln. Ein anderes Verhältnis zum Nationalstaat der Moderne hat sich im arabischen Kern­gebiet des Nahen Ostens nie wirklich entwickelt. Wie 1991 im Süden zeigen sich dieser Tage im sunnitischen Dreieck ebenso wie im benachbarten Syrien die Folgen. Diese Länder verwandeln sich in das, was sie immer schon de facto waren: gescheiterte Staaten. Nicht anders wird es einem sunnitischen oder schiitischen Gebilde ergehen, sollte denn die Region entlang konfessioneller Linien aufgeteilt werden. Nach möglichen neuen Grenzen wird gerade fieberhaft in den Büros westlicher Zeitungen und Think Tanks gesucht, wo man sich über Karten des Nahen Osten so beugt, wie es vor 100 Jahren britische und französische Kolonialbeamte taten.
Sicher streben Isis auf der einen und schiitische Milizionäre und Apokalyptiker mit ihren Unterstützern im Iran auf der anderen Seite einen neuen Nahen Osten an. Ihnen geht es dabei um vieles, die Justierung nationaler Grenzen gehört nicht dazu, schließlich träumen sie von einem islamischen Reich, das per definitionem keine irdischen Grenzen kennt. Das islamische Kalifat, das Isis am Wochenende ausrufen ließ, ist nicht mittelalterlich, sondern die postmoderne Aufhebung des Nationalstaates und seine Transformation in ganglands unmittelbarer religiös legitimierter Herrschaft. Der neue Kalif, Abu Bakr al-Baghdadi, sei, hieß es in einer entsprechenden Erklärung, fortan legitimer Herrscher aller Muslime.
Wenn auf der anderen Seite vor dreieinhalb Jahren, als es überall in der Region zu Massenprotesten kam, westliche Beobachter erstaunt feststellten, dass die Parolen der sogenannten arabischen Straße irgendwie nach dem Europa von 1848 klangen, lag das keineswegs nur an eurozentrischen Sichtweise, sondern entsprach vielmehr populären Forderungen nach Demokratisierung und Partizipation. Es mag Regionen der Welt geben, in denen neue Grenzziehungen geholfen haben, blutige Bürgerkriege zu beenden. Der eigentliche Konflikt im Irak, in Syrien und anderen Ländern des Nahen Ostens ist allerdings keineswegs einer um nationale Grenzen – einzig Kurdistan mag da eine Ausnahme darstellen –, sondern ein Krieg all jener, mal mit- und mal gegeneinander, denen es erklärtermaßen um die Vernichtung von vermeintlich künstlichen Nationalstaaten und dem geht, wofür sie noch immer stehen.