Die drei entführten israelischen Jugendlichen sind tot

Nur Verlierer

Die Leichen der drei entführten israelischen Teeanger wurden gefunden, nach ihren Mördern wird weiterhin im Westjordanland und Gaza gesucht. Während die Welt auf Israels Reaktion auf diesen barbarischen Mord wartet, steht eines fest: Politisch war diese Terroraktion für alle Seiten eine Katastrophe.

Bis Montag war noch von einer Entführung die Rede, dann, am frühen Abend, kam die traurige Gewissheit: Die am 12. Juni entführten Talmudschüler Naftali Fraenkel, Gilad Shaar und Eyal Yifrach sind tot. Ihre Leichen wurden in einem Feld nahe der Siedlung Telem und der palästinensischen Stadt Halhul gefunden. Ihr Verschwinden hatte eine der umfangreichsten Suchaktionen des israelischen Militärs im Westjordanland ausgelöst. Nach dem Fund der Toten, identifiziert anhand von Kleidungsstücken, wurde Halhul, wo die mutmaßlichen Entführer vermutet werden, vom Militär vollständig umstellt. Gefunden wurden die Leichen von Reiseführern aus Gush-Etzion, die zusammen mit einer Eliteeinheit des israelischen Geheimdienstes nach den Entführten gesucht hatten. Die Reiseführer kennen die Gegend sehr gut und durchsuchten mit den Sicherheitsleuten systematisch jede Höhle und jedes denkbare Versteck. Dabei war die zertrümmerte Brille von einem der Entführten gefunden und vom Optiker identifiziert worden, der sie ihm verkauft hatte. Das führte dann zur Entdeckung der Leichen am Montagabend. Diese Einzelheiten waren zunächst geheim geblieben, um die Ermittlungen nicht zu stören.
Offenbar hatten sich die Entführer sehr schnell ihrer Opfer entledigt, denn diese waren nicht einmal richtig begraben worden, sondern lagen schlecht verdeckt unter Sträuchern. Wie es zur Tötung kam, ist noch unklar. Auf der Website der US-amerikanische Organisation »The Israel Project« wird ein Offizier aus der Polizeistation in Kiriyat Arba zitiert, der vom Notruf eines der Jugend­lichen berichtet: »Wir sind entführt worden.« Diese Information wurde zunächst ignoriert und verspätet an die Sicherheitsdienste weitergegeben, weshalb die israelische Polizei derzeit massiv kritisiert wird. »Wir wissen nicht, was die Entführer dazu brachte, die Teenager zu erschießen. Aber wir wissen, dass dies schnell passierte, innerhalb von Stunden, vielleicht nur eine Stunde nachdem sie entführt worden sind«, wird ein zweiter Offizier zitiert. Möglicherweise, so schreibt die Jerusalem Post, hätten die Entführer die Geisel unmittelbar nach dem Anruf bei der Polizei getötet, auch wird nicht ausgeschlossen, dass die drei Jugendlichen versuchten, sich zu wehren.
Das Verteidigungsministerium verkündete am Montag, es habe beschlossen, die drei Jugendlichen offiziell als »Opfer eines Terroranschlags« anzusehen. Deshalb seien Vertreter der Armee zu den Familien geschickt worden, um sie über den Tod ihrer Söhne zu informieren. Das sei bei Zivi­listen sehr ungewöhnlich, aber wegen der »großen Anteilnahme« beschlossen worden. Konkret bedeutet das auch, dass die Familien finanziell und bürokratisch wie Angehörige gefallener Soldaten behandelt werden. In Jerusalem wurde eine Krisensitzung anberaumt, bei der Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ankündigte: »Die Hamas ist verantwortlich und die Hamas wird bezahlen.«
Schon am Tag nach der Entführung in Kfar Etzion, in Judäa, hatten die israelischen Sicherheitsdienste zwei Hauptverdächtige ausgemacht. Deren Namen wurden jedoch erst vergangene Woche zur Veröffentlichung freigegeben: Es handele sich um Hamas-Aktivisten aus Hebron, Marwan Kawasme und Amar Abu Aisha, teilte Israels Inlandsgeheimdienst Shin Bet am vergangenen Freitag mit. Auch israelische Militärreporter kannten diese Namen offenbar bereits am Tag nach der Entführung und hatten deren Angehörige befragt. Abu Aishas Vater sagte: »Falls mein Sohn an der Entführung beteiligt gewesen war, wäre es ein großes Ehrenmal für ihn.« Die in Tränen aufgelöste Ehefrau des Verdächtigen sagte, ihr Mann sei seit der Entführung »spurlos verschwunden«. Die Kawasmes und Abu Aishas sind zwei mächtige, fromme Clans aus Hebron und pflegen enge Beziehungen zur Hamas. Die Tatverdächtigen haben schon mehrmals im israelischen Gefängnis gesessen, weitere Angehörige haben sich mit tödlichen Terroranschlägen hervorgetan.
Die deutsche Nachrichtenagentur DPA fügte zur Meldung über die Bekanntgabe der Namen der Verdächtigen den Hinweis hinzu: »Der Geheimdienst legte (…) keine weiteren Beweise vor.« Das lieferte Kommentatoren wie Jakob Augstein im Spiegel die Steilvorlage, um Israels Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu beschuldige die Hamas, um gegen Islamisten und die palästinensische »Gemeinschaftsregierung« losschlagen zu können. Augstein erwähnte nicht, dass die israelische Luftwaffe ohnehin fast täglich die Infrastruktur der Hamas bombardiert, als automatische Antwort auf jeden Raketenbeschuss.
Für die Verantwortung der Hamas mag es zwar keine handfesten »Beweise« geben, allerdings reichliche und deutliche Hinweise: Sprecher der Hamas hatten die Entführung der »drei Soldaten« begrüßt, wie sie die Teenager nannten, obwohl 16jährige allein wegen des Alters keine Soldaten sein konnten. Drei Tage vor der Entführung hatte Hamas-Auslandschef Khaled Meshal im Interview mit al Jazeera Entführungen sogar als eine »palästinensische Pflicht« befürwortet: »Unsere Gefangenen müssen freigepresst werden, nicht die Hamas-Gefangenen, die Gefangenen des palästinensischen Volkes.« Während Präsident Mahmoud Abbas bei einer Konferenz in Saudi-Arabien die Hamas eines »Dolchstoßes in den Rücken der Gemeinschaftsregierung« bezichtigte, wurde die Entführung im Gazastreifen gefeiert.

Diese Reaktionen stehen nicht unbedingt im Widerspruch zur »Versöhnung« zwischen Hamas und der Autonomiebehörde. Die Gründe, warum die Hamas der »Versöhnung« zugestimmt hat, liegen auf der Hand: Wegen der internationalen Isolation und wegen Ägyptens Kampfes gegen Islamisten ist die Organisation zahlungsunfähig geworden. Ihre Haupteinnahmequelle, Steuern auf Schmuggelware, hat die Hamas verloren, weil die Ägypter mehr als 1 000 Schmugglertunnel unter der Grenze zum Sinai zerstört haben. Seit April erhalten rund 40 000 Beamte und Kämpfer der Hamas kein Gehalt mehr. Mit dem Eintritt in die Gemeinschaftsregierung hoffte die Hamas, die mit Spendergeldern aus den USA und der EU ausgestattete Autonomiebehörde auch für die Löhne der Hamas-Angestellten aufkommen zu lassen. Trotz »Versöhnung« hat die Hamas jedoch keineswegs die Absicht, ihre Kampfeinheiten der Fatah zu unterstellen oder gar aufzulösen. Ebenso wenig will die Hamas ihre Raketen und schweren Waffen aufgeben. Seit der Entführung hatte die Hamas den Raketenbeschuss auf Israel spürbar verstärkt. Im Juni sind über 60 Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert worden. Eine traf am Wochenende eine israelische Lackfabrik in Sderot, die völlig ausbrannte. Eine andere Rakete, die noch im Gazastreifen abstürzte, tötete in der vorvergangenen Woche ein dreijähriges palästinensisches Mädchen. Die Raketenangriffe sind klare Verstöße gegen die Osloer Verträge, denen Abbas verpflichtet ist.

Für den massiven Raketenbeschuss hatte Israel die in Gaza herrschende Hamas verantwortlich gemacht, obgleich die Hamas nach eigenen Angaben und sogar gemäß israelischer Darstellung bemüht sei, noch radikalere Organisationen wie den Islamischen Jihad an Attacken auf Israel zu hindern. Am Sonntag hatte die israelische Luftwaffe zielgenau zwei Raketenschützen getötet, als die sich anschickten, eine Rakete auf Israel abzuschießen. Die Hamas-Führung hat die beiden Toten offiziell als Kämpfer der al-Qassem-Brigaden betrauert, des militärischen Arms der Hamas-Partei. Damit hat sie erstmals seit dem Schlagabtausch im November 2012 selbst den Beweis dafür geliefert, dass sie auch selber beteiligt ist.
Als man in den vergangenen zwei Wochen noch davon ausging, die drei Jugendlichen seien noch am Leben, war in deutschen und internationalen Medien zu erfahren, die Entführung sei Netanyahu »zupass« gekommen, damit er sich als jener Hardliner profilieren könne, als der er gewählt worden sei. Wer das behauptet, hat die Entwicklungen in Israel offenbar nicht verfolgt. Seit den sozialen Protesten im Sommer 2011 befassen sich die Israelis eher mit sozialen Fragen wie Wohnungsnot und Lebenshaltungskosten. Bei den vergangenen Wahlen waren die Besatzung, der Friedensprozess und die Siedlungspolitik kaum Thema. Nun musste Netanyahu wegen der gescheiterten Suchaktion dem Verteidigungsministerium eine Milliarde Shekel (etwa 250 Millionen Euro) überweisen. Schon mit der Freigabe von 1 027 Häftlingen für die Geisel Shalit hatte sich der »Hard­liner« Netanyahu bei aller Freude über Shalits Heimkehr auch unpopulär gemacht. Das dürfte in diesem Fall nicht anders sein.
Im Zusammenhang mit der Suche der drei Schüler war die Region um Hebron abgeriegelt worden, es gab Reisebeschränkungen für 700 000 Palästinenser. An der Suchaktion waren Tausende Soldaten beteiligt, Hausdurchsuchungen fanden in allen Städten des Westjordanlandes statt und unmittelbar Verdächtige, etwa bekannte Hamas-Aktivisten und freigelassene Gefangene, wurden verhaftet. Mit dem »Einsammeln« der amnestierten Gefangenen sollte ein Exempel statuiert werden. Diese Verhaftungen sind rechtlich umstritten, sofern die Betroffenen nicht wieder terroristisch aktiv geworden sind. Die israelische Regierung argumentiert, dass mit der Entführung und Ermordung der drei Jugendlichen das Gesamt­abkommen zum Gefangenenaustausch hinfällig geworden sei.
Nirgendwo sonst in der Welt wird bei Entführungen, Hassverbrechen oder Terroranschlägen gefragt, ob denn Barack Obama, Angela Merkel oder Wladimir Putin davon »profitieren«. Auch in Israel profitiert niemand davon. Das kann auch Netanyahu nicht mit Härte kompensieren. Der Geheimdienst ist erbärmlich gescheitert, weil er die Entführung weder vorhergesehen noch verhindert hat. Die Verantwortung dafür trägt Netanyahu.
Obgleich die Hamas in Gaza tönt, die »dritte Intifada« habe längst begonnen, sind die Palästinenser müde und sehen keine Chance, mit einem dritten Aufstand noch etwas gewinnen zu können. Viele verdienen wieder ihren Lebensunterhalt in Israel oder in Siedlungen und wollen ihre Arbeitsplätze nicht verlieren. Zudem hat Israel aus der zweiten Intifada dazugelernt. Als Stichworte seien hier die Sicherheitsmauer und 600 Straßensperren im Westjordanland genannt, die jederzeit erneuert werden könnten.

Auch auf palästinensischer Seite gibt es nur Verlierer. Abbas wurde übelgenommen, Mitgefühl mit den Israelis geäußert zu haben. Die Kooperation seiner Polizei mit Israel brachte den wenig charismatischen und demokratisch nicht legitimierten Präsidenten in Verruf, ein Kollaborateur zu sein. Darauf steht bei den Palästinensern die Todesstrafe, mit und ohne Gerichtsverfahren.
Nach dem Fund der Leichen, während die Fahndung nach den beiden mutmaßlichen Mördern weitergeht, heißt es in ersten israelischen Kommentaren, die Hamas habe sich diskreditiert und sich mit der Ermordung der drei Jugendlichen, von denen zwei noch minderjährig waren, als »Kindermörderin« bloßgestellt. Weil die drei Jugendlichen vermutlich innerhalb kürzester Zeit nach ihrer Entführung ermordet worden seien, habe es auch keine Verhandlungen mit Israel über einen Gefangenenaustausch gegeben. Die Aktion habe also nichts gebracht, aber wegen der israelischen Reaktion zu schwerem Leid für Hunderttausende Palästinenser ausgerechnet in den Tagen vor dem Ramadan geführt. Die Frage, ob die Hamas als Organisation die Entführung in Auftrag gegeben hat, ist fast irrelevant, nachdem sie volle Zustimmung zu der Tat geäußert und öffentlichen Jubel zelebriert hat. Die mutmaßlichen Entführer und Mörder sind Israelis wie Palästinensern als Hamaskämpfer wohlbekannt. Wie man es auch dreht, hat die Entführung der Hamas und ihrer Infrastruktur im Westjordanland nur geschadet.