Das System Primark und die globale Ausbeutung

Fashion Weak

Die »vertikale« Textilindustrie hat es geschafft, dass sich heute praktisch jeder die neueste Mode leisten kann. Das ist nur möglich durch extreme Ausbeutungsverhältnisse im globalen Wirtschaftssystem. Die Unternehmen reagieren auf die Kritik – mit PR-Kampagnen.

Schon über 4 000 Unterschriften wurden auf openpetition.de für die Eröffnung einer Primark-Filiale in Nürnberg gesammelt. Natürlich mit der dazugehörigen Diskussion in den Kommentaren. Die einen wollen nicht »kilometerweit fahren für diesen tollen Laden«, ein anderer findet: »Primark ist der Vorreiter der Billigindustrie und produziert zu 90 Prozent hässliche Scheiße.« Jemand ist gegen Primark, »weil die Näherinnen (ja, meist Frauen) in Asien unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten«. Besonders das Auftauchen von Etiketten mit wahrscheinlich gefälschten Hilferufen in bei Primark gekaufter Kleidung entfachte – wieder einmal – eine Diskussion über miserable Arbeitsbedingugen bei der Produktion von Kleidung. Spätestens seit der Katastrophe vom Rana Plaza 2013, als ein Gebäude mehr als 1 000 Textilarbeiterinnen und -arbeiter unter sich begrub, wird selbst in der Bild-Zeitung über die Folgen der auf niedrige Kosten getrimmten Wertschöpfungsketten der Textilindustrie berichtet und diskutiert.
Insbesondere Handelsketten stehen im Fokus des öffentlichen Interesses, die dem Bereich der »Fast Fashion« zugeordnet werden können. Mit schnellen Kollektionswechseln und »vertikal« organisierten Produktionsketten reagieren diese auf die aktuellsten Modetrends und bieten entsprechende Artikel zu niedrigsten Preisen an. Im Gegensatz zum alten Modell der Boutique, die ihr Sortiment von verschiedenen Modemarken bezieht und den Großteil der Ware für jede Saison vorbestellt, ist eine vertikal organisierte Wertschöpfungskette extrem effizient. Zunächst wird geschaut, was der allerneueste Trend ist, um diesen dann zu kopieren und möglichst rasch in die eigenen Läden zu hängen. Primark ist lediglich der zurzeit konsequenteste Vertreter einer Entwicklung, die bereits in den neunziger Jahren mit H & M und Co. begonnen hat. Waren damals noch vier bis sechs Kollektionswechsel pro Jahr ein Novum, wird das Angebot heutzutage bis zu zwölf Mal komplett ausgetauscht.
Diese Entwicklung lässt erkennen, wie der (Mode-)Markt derzeit beschaffen ist. Volle Kleiderschränke und ein Überangebot in den hiesigen Fußgängerzonen paaren sich mit dem Wunsch nach Selbstverwirklichung und Individualität durch Shopping. Während die Pro-Kopf-Ausgaben für Kleidung seit 30 Jahren stagnieren, ist die Anzahl der gekauften Teile in dieser Zeit gestiegen. Marktanteile gewinnt, wer den Wunsch nach angesagten Outfits am billigsten bedient. Klassische Warenhäuser und kleine Modeläden werden dabei von »Vertikalen« und Discountern verdrängt. Nicht nur Primark, Inditex (dem die Modekette Zara gehört) und H & M eröffnen immer mehr Filialen. Auch Aldi und Lidl sind zu wichtigen Textilhändlern geworden.

Fast ist man dazu verleitet, von einer Demokratisierung der Modeindustrie zu sprechen. Musste man früher noch wissen, welche Marken »in« sind, und sich diese auch noch leisten können, kann sich heute im Prinzip jeder den »letzten Schrei« im Fashionzirkus leisten. Konsequent vermeidet Primark bezahlte Werbung, denn das übernehmen begeisterte Kunden gleich selbst. Unter dem Motto »Looks posten, anschauen, bewerten und teilen – dein Fashion-Spielplatz« kann der eigene Look auf der von Primark betriebenen Internetplattform »Primania« präsentiert werden. Die Preise werden auch gleich mitgeliefert: Top sechs Pfund Sterling, Sandalen vier Pfund, getragen »along the beach in Porto/Portugal«. Der Youtube-Clip »Primark Haul mit Anprobe« von »Barbieloveslipsticks« (98 000 Follower auf Youtube) bekommt nicht nur fast 75 000 Klicks, sondern auch viel Lob für »die tolle Ausbeute« in den Kommentaren. Gleich zu Beginn des Videos gesteht Barbieloveslipsticks, dass sie sich zurzeit in einer »Primark-Phase« befinde und »nahezu so gut wie jeden Tag in diesen Laden gehen« könne.
Interessanterweise nimmt sie eine mögliche Kritik daran, ausbeuterische Arbeitsbedingungen bei Primark mit ihrem Video indirekt zu unterstützen, gleich selbst vorweg: »Wer also in solchen Geschäften (z. B. bei der Modekette Zara) einkauft, der sollte auch nicht über den Primark nicht meckern. Es ist einfach so heuchlerisch! Seit über einem Jahr drehe ich nun Videos auf Youtube, und wisst Ihr was? Unter einen Zara, Vero Moda oder Gina Tricot Haul hat mir in dieser ganzen Zeit noch nie jemand auch nur einen einzigen Kommentar zum Thema Arbeitsbedingungen geschrieben. Als würde die Kleidung, die in diesen Läden hängt, nicht aus China, Indonesien oder sonstwo herkommen.« Auch das Unternehmen selbst wehrt sich gegen Kritik. Die Primark-Website berichtet ausführlich über Maßnahmen zur Verbesserung der Produktionskette. Klickt man dort auf »Ethischer Handel«, werden zahlreiche Programme für »existenzsichernde Löhne« und »nachhaltigen Baumwollanbau« präsentiert.
Doch natürlich kann Konsum gar nicht demokratisch sein. Und auch der Handel von Primark ist alles andere als »ethisch«. Erstens bestimmt immer noch der Geldbeutel darüber, wer wie viel wovon konsumieren kann und wer überhaupt Zeit zum Shopping hat. Zweitens erzeugt das von Primark nur auf die Spitze getriebene Konsummodell extreme Probleme. Der Anbau von Baumwolle verbraucht immense Mengen an Wasser und Pestiziden. Fast 25 Prozent der weltweit eingesetzten Insektizide gelangen auf Baumwoll­felder. Zur Ertragssteigerung werden mittlerweile fast überall gentechnisch veränderte Pflanzen eingesetzt, um zum Beispiel noch wirksamere Pestizide verwenden zu können. Seit 2004 ist die Menge an Textilmüll weltweit um etwa 25 Prozent gestiegen – in Großbritannien spricht man wegen der wachsenden Müllberge bereits vom »Primark-Effekt«.
Vom Baumwollanbau über das Konfektionieren bis hin zum Verkauf – in allen Bereichen der Textilwirtschaft sind die Arbeitsbedingungen auf niedrigste Kosten getrimmt. Es wird immer gerade dort besonders viel Kleidung produziert, wo die Lohnkosten am geringsten sind. Noch 2005 wurden etwa eine Million Arbeitsplätze von Bangladesh nach China verlagert. Mittlerweile werden in China unter anderem viele höherwertige, technisch anspruchsvollere Textilien wie Outdoorjacken oder Laufschuhe produziert, die ex­trem billige Kleidung dagegen kommt häufig wieder aus Bangladesh, Pakistan oder Vietnam. Der Grund dafür liegt nicht nur in der techno­logischen Entwicklung Chinas, sondern auch in den zahlreichen Arbeitskämpfen und den Lohnsteigerungen der vergangenen Jahre. Kaum eine Modemarke oder Handelskette arbeitet langfristig mit festen Zulieferern zusammen. Mit Hilfe von Agenturen oder Internetplattformen wird geschaut, wer am billigsten und schnellsten produziert.

Oft ist den Auftraggebern gar nicht bekannt, woher die einzelnen Kleidungsstücke kommen. Als die Marke Puma kürzlich wegen Arbeitsrechtsverletzungen bei einem Zulieferer in El Salvador in die Kritik geriet, erwies sich die Fabrik als »Subzulieferer« und fiel somit nicht unter den kon­zern­eigenen »Verhaltenskodex«. Der eigent­liche Produzent hatte den Auftrag an eine andere Fabrik weitergegeben. Nach Angaben von Puma, ohne dafür autorisiert zu sein.
Dieses Beispiel zeigt, dass viele Unternehmen weder wissen, woher die verwendeten Rohstoffe kommen, noch in welchen Fabriken die Kleidung genäht wird. Ein System, das mit Agenten, Lieferanten, Sublieferanten, Zulieferern der Sublieferanten und so weiter arbeitet, wirklich zu verändern, ist eine fast unlösbare Aufgabe. Ernstzunehmende und erfolgversprechende Versuche, sub­stantiell an den Lieferketten zu arbeiten und Ausbeutungsstrukturen zu beseitigen, sind daher ­extrem schwierig und selten.
Dass es heutzutage trotzdem fast kein Unternehmen ohne eine Abteilung für »Soziale Unternehmensverantwortung« gibt, ist vor allem das Verdienst von sozialen Bewegungen und zahlreichen NGO-Kampagnen. Verhaltenskodizes dienen allerdings auch dazu, die eigene Verantwortung nur die schwächeren Glieder der Kette ab­zuwälzen. Per Vertrag müssen die Zulieferer einem Verhaltenskodex zustimmen, den sie oft gar nicht einhalten können. Extrem kurze Produktionszeiten und unglaublich niedrige Preise setzen die Produzenten unter Druck. Die Folgen sind allseits bekannt. Obwohl gesetzliche Mindestlöhne oft so niedrig sind, dass sie zum Überleben kaum ausreichen, werden sie umgangen. Der Lohn orientiert sich zumeist nicht an der Arbeitszeit, sondern an der Stückzahl. Diese ist wiederum oft so hoch, dass (unbezahlte) Überstunden notwendig sind, um den gesetzlich vorgeschriebenen Lohn zu erreichen.

Obwohl die Unternehmen lautstark betonen, verantwortungsvoll zu handeln, ist die alltägliche Praxis der Einkaufsabteilungen eine ganz andere. Daher müssen sie ständig damit rechnen, Ziel von NGO-Kampagnen zu werden. Die sozialen und ökologischen Folgen von transnationalen Wertschöpfungsketten, Deregulierung und Freihandel waren immerhin zentrale Themen der globalisierungskritischen Bewegungen und sind von diesen seit Mitte der neunziger Jahre ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt worden. Durch Bücher wie »No Logo« von Naomi Klein oder das »Schwarzbuch Markenfirmen« von Klaus Werner-Lobo und Hans Weiss gerieten die multinationalen Konzerne in den Fokus der Kritik. Der eigene Konsum wurde erfolgreich ins Verhältnis zu den Lebensbedingungen im globalen Süden gesetzt, so dass auch »Fashion-Victims« über die Ausbeutung in den Weltmarkfabriken Bescheid wissen.
Mittlerweile hat sich daher auch im Bekleidungshandel eine Nische entwickelt, die alles besser machen will. Die Lieferketten sind so fair und transparent wie möglich. Biozertifikate und »Multi-Stakeholder-Initiativen«, die Fabriken überprüfen und in deren Aufsichtsrat auch Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen sitzen, sollen sicherstellen, dass die ökologischen und sozialen Verwerfungen möglichst gering sind. Im Zuge der Bio-Bewegung ist diese Nische in den vergangenen Jahren zwar gewachsen, aber immer noch marginal.
So gut und wichtig solche Entwicklungen auch sind, das Beispiel Primark zeigt: Das Problem sind nicht einzelne Unternehmen oder deren Lieferketten, es geht nicht mal um die Textilindus­trie. Das grundlegende Problem ist ein ausbeuterisches Wirtschaftssystem. Oder um es mit den Worten von Barbieloveslipsticks zu sagen: »Bedenkt die Konsequenzen, die ein Nein zur Globalisierung und freien Marktwirtschaft für unser aller Dasein hätte!« Denn was wäre unser Leben im Kapitalismus ohne Shopping überhaupt noch wert?