Serbischen Nationalisten im Kosovo

Führer gesucht

Viele Serben im Nordkosovo fühlen sich von der Regierung in Belgrad im Stich gelassen. Sie werfen ihr vor, den Kosovo »geopfert« zu haben, um eine proeuropäische Politik zu verfolgen, und plädieren für eine Annährung an Russland.

»Tomo, du Ustascha-Faschist, du Albaner, du Verräter, du hast den Kosovo verkauft«, und: »Wir stehen für Serbien und Russland, wir brauchen keine EU«, skandierten serbische Demonstranten am 28. Juni auf dem Amselfeld. Der serbische Staatspräsident Tomislav Nikolić versucht, zum 625. Jubiläum der Schlacht auf dem Amselfeld im heutigen Kosovo eine Rede zu halten, wird jedoch immer wieder ausgebuht, ausgepfiffen und mit Kieselsteinen beworfen. Unweit der koso­varischen Hauptstadt Priština steht eine Gruppe Jugendlicher mit serbischen Flaggen und schwarzen T-Shirts am Fuße des Gazimestan-Monuments. Sie protestieren gegen die serbische Regierung und werfen ihr vor, sich nicht ausreichend um die Interessen der im Kosovo lebenden Serben zu kümmern. Die Studenten gehören der Gruppe Zavetnici aus Belgrad an. »Wir wissen, wie schwierig die Lebensbedingungen für die Serben sind, die den Kosovo aus Liebe zu ihrem Land nicht aufgegeben haben. Sogar eine Fahrt nach Gazimestan ist für einige ein Luxus«, sagt Milica Djurdjević, 24 Jahre alt, Politikwissenschaftsstudentin aus Belgrad. Sie ist Mitglied von Zavetnici und sagt: »Jedes Jahr kommen mehr junge Menschen hierher, das gibt uns Hoffnung.«
Die Serbinnen und Serben versammeln sich um den Turm, der zu Ehren der »Helden der Schlacht auf dem Amselfeld 1389« errichtet wurde. Dieser Ort spielt für das serbische Nationalbewusstsein nicht nur wegen der historischen Schlacht eine entscheidende Rolle. Vor 25 Jahren, am 28. Juni 1989, hielt Slobodan Milošević hier eine Rede. Genau 600 Jahre nach der historischen Schlacht zwischen den Truppen des christlichen Fürsten Lazar und dem osmanischen Heer besuchten über eine Million Serbinnen und Serben den Kosovo und wohnten einem Schauspiel bei, das eine wichtige Rolle bei der Renaissance des serbischen Nationalismus spielte. Vielen ist dieses Spektakel auf dem Amselfeld als Einstimmung auf den Krieg in Erinnerung geblieben.
»Hier brach Milošević mit der jugoslawischen Erinnerungskultur und dem Leninschen Diktum der kommunistischen Partei Jugoslawiens: Kommunisten bekämpfen den eigenen Nationalismus, Chauvinisten den der anderen«, erklärt der Belgrader Soziologieprofessor Todor Kuljić, der sich mit Erinnerungskultur im postjugoslawischen Raum befasst. 25 Jahre später scheinen sich die Umstände in eine andere Richtung bewegt zu haben. Milošević ist tot und Jugoslawien gibt es nicht mehr. Der Kosovo-Krieg, die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens durch die Nato und die kosovarische Unabhängigkeitserklärung von 2008 haben ihren Beitrag dazu geleistet, die politischen und sozialen Gräben zwischen albanischer Mehrheitsbevölkerung und serbischer Minderheit zu vertiefen.
Nun steht hier Tomislav Nikolić, doch im Gegensatz zu Slobodan Milošević erntet er keinen Applaus, sondern Buhrufe. Plötzlich explodiert ein Feuerwerkskörper direkt vor den Füßen des serbischen Präsidenten. Nikolić beendet seine Rede sichtlich zitternd und eingeschüchtert. Er appelliert noch an die wütende Menge: »Ihr jungen Menschen, die ihr dort pfeift und buht, ich möchte euch daran erinnern, dass keiner von uns heute hier wäre, wenn die Menschen gebuht hätten, als Fürst Lazar sein Volk einte.« Miroljub Adjencić, der zu der Gruppe gehört, die Nikolić begleitete, kritisiert die Demonstranten: »Diese Leute, die da protestieren, verstehen doch gar nicht, was wir hier durchmachen. Ich bin mir sicher, die meisten kommen nicht mal aus dem Kosovo.«
Die Beziehungen zwischen Serben und Albanern im Kosovo sind derzeit wieder extrem angespannt. Die Stadtverwaltung von Nord-Mitrovica ließ kürzlich die Sand- und Schuttbarikaden auf der Brücke über die Ibar entfernen, die dort seit 2011 die Stadt in einen serbischen nördlichen und einen albanischen südlichen Teil trennten (Jungle World 21/2012). Dieser Schritt wurde von allen, insbesondere von der EU, begrüßt. Überraschenderweise ließ am darauffolgenden Tag Goran Rakić, der Bürgermeister von Nord-Mitrovica, einen »Park des Friedens« auf der Brücke errichten. Traktoren brachten Erde und große Blumentöpfe zu der Brücke, die erst ein paar Stunden zuvor freigemacht worden war. Die Blumentöpfe wurden in die Brücke einbetoniert und versperren seitdem wieder den Durchgang. Albaner in Süd-Mitrovica protestierten gegen diesen Schritt. Im Zuge dieser Ausschreitungen wurden Zivilisten und Journalisten verletzt und Autos der internationalen Truppen im Kosovo angezündet. Der »Park des Friedens« und die Ausschreitungen von albanischer Seite eröffnen ein neues Kapitel im schwierigen Verhältnis der beiden größten Bevölkerungsgruppen im Kosovo.
Viele Serben im Nordkosovo fühlen sich von der Regierung in Belgrad im Stich gelassen. Die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) hat sich im Zuge der EU-Integration Serbiens von der Serbischen Radikalen Partei (SRS) abgespalten, um eine proeuropäische Politik zu verfolgen. Dafür wurden auch Zugeständnisse bezüglich des Kosovo gemacht. In Folge dieser Spaltung hat sich die SNS sowohl rhetorisch als auch politisch gemäßigt.
Die Demonstrierenden auf dem Gazimestan haben die serbischen Politiker als ihre Verbündeten angesehen und fühlen sich nun von ihnen verraten. Sie haben das Gefühl, die Rechte in Serbien habe den Kosovo für die EU-Integration geopfert. Viele sind der Meinung, man solle aufhören mit der EU-Integration und sich stattdessen an Russland orientieren. Sie verehren Wladimir Putin als »starken Führer« und wünschen sich einen solchen auch für Serbien. Wegen des Kurswechsels werfen viele Serben im Kosovo den serbischen Politikern vor, die »heilige serbische Erde« verkauft und verraten zu haben.
Bei den Wahlen im vergangenen März erhielt die SNS die absolute Mehrheit der Wählerstimmen und der neue Ministerpräsident Aleksandar Vučić erfreut sich bei seinen europäischen Partnern großer Beliebtheit. Der Status des Kosovo war einst das wichtigste Thema im Wahlkampf der serbischen Rechten, doch bei den Wahlen im vergangenen März spielte dies keine Rolle mehr.
»Nicht mal an unserem heiligen Feiertag können wir den Kopf voller Stolz erheben. Dieses Jahr ist schlimmer als das Jahr, in dem wir Slobodan Milošević an Den Haag ausliefern mussten. Wenn Vojislav Šešelj zurückkehrt, dann gibt es Hoffnung für uns«, sagt Budimir Spasić aus Novo Brdo. Er beschuldigt die heutigen serbischen Politiker, nichts anderes als »Schachfiguren der Großmächte« zu sein.
Wie für ihn heißt für viele serbische Nationalisten die Hoffnung Vojislav Šešelj. Sie sehen den rechtsextremen Ultranationalisten als kompromisslosen Führer, im Gegensatz zu denen, die Serbien und die Serben heute vertreten. Šešelj fordert auch heute noch ein Großserbien und muss sich seit dem Februar 2003 vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wegen Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegshetze verantworten. In Serbien hat er in den vergangenen Jahren an Relevanz und Popularität eingebüßt, aber bei vielen Serben im Kosovo kommt er mit seinen Hassreden weiterhin gut an, da sich dort viele nicht mit der neuen Realität abfinden möchten.
Sie beschweren sich, weil sie im Kosovo kaum Möglichkeiten haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und fühlen sich diskriminiert. Viele sind zudem weiterhin auf Subventionen aus Belgrad angewiesen und es wird schwieriger, die Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben zu erhalten. Diese Situation ist ein ständiger Katalysator des serbischen Nationalismus und unter diesen Bedingungen werden sich die meisten Serben wohl niemals bereit erklären, sich in den Kosovo zu integrieren. Da kann die Regierung in Belgrad noch so viele Zugeständnisse machen. Der Umgang mit Tomislav Nikolić zeigt, dass die serbische Regierung sich nicht mehr anmaßen kann, für die Serben im Kosovo zu sprechen. »Seit sich Kosovo und Serbien in Brüssel geeinigt haben, ist unser Leben deutlich schwieriger geworden. Immer mehr Serben verlassen den Kosovo. Wir brauchen Šešelj als Kopf unserer Regierung. Er steht für wahre serbische Werte und will die Situation im Kosovo verändern«, meint Milomir Vasić aus dem Städtchen Plementina.
Tomislav Nikolić besuchte auch die serbische Enklave im Kosovo, Gracanica, die das gleichnamige Kloster beherbergt. Die Stimmung hier ist besser als am Gazimestan-Monument auf dem Amselfeld. Seit dem Untergang Jugoslawiens gehen nationalistische Politik und serbische Orthodoxie Hand in Hand und sind aufs engste miteinander verbunden. Vielen Serben gilt das Kloster als ein wichtiges Symbol für die Nation und Religion.
Zivojin Rakočević, Direktor des »Hauses der Kultur« in Gracanica, war der Leiter des einmonatigen Programms im Juni zur Feier des 625jährigen Vidovdan. »Wir Serben leben in einem Ghetto. Trotz dieses Umstandes versuchen wir, den Menschen ein wenig Hoffnung zu geben, indem wir diese Veranstaltungen organisieren. Dadurch erlangen die Menschen ihre verloren gegangenen Freiheiten wieder und wir schaffen einen Raum, in dem sie ihre Identität zurückerobern können«, sagt er. Das Programm der einmonatigen Feierlichkeiten umfasste Konzerte, Lesungen, Theateraufführungen sowie eine Ausstellung im Haus der Kultur. Bestandteil der Ausstellung waren auch zwei kontroverse Gemälde. Das erste zeigt Gavrilo Princip, den Attentäter des Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie, und das andere zeigt Slobodan Milošević 1989 bei seiner Rede auf dem Amselfeld.
Die Darstellung der kosovarischen Serben als Ultranationalisten wird aber bei weitem nicht allen Serben gerecht, die dort leben. In Albanien herrscht ein antiserbischer Nationalismus und den Kosovo-Serben wurden bislang kaum annehmbare Angebote für eine Integration in den jungen Staat gemacht. Da kann auf dem Papier stehen was will, die Serben möchten nicht Teil dieser Republik sein, und neben dem Nationalismus gibt es dafür auch durchaus nachvollziehbare Gründe. Niemand hat die Serben gefragt, ob sie Teil des am Reißbrett entworfenen kosovarischen Staats sein wollen. Seit der völkerrechtswidrigen Bombardierung Serbiens durch die Nato 1999 und der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung von 2008 wurde die Integration der Serben im Kosovo in jedem Dokument, dass der junge Staat unterzeichnet hat, bekräftigt, doch die antiserbische Rhetorik der neunziger Jahre ist nach wie vor weit verbreitet und prägt die Beziehung zwischen der albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit.
Einige Bewohner erinnern sich nostalgisch an die Zeiten Jugoslawiens, als Serben und Albaner friedlich miteinander gelebt haben. »Ich habe im Zentrum Prištinas gelebt und fühlte mich sehr viel wohler mit dem Leben, das ich dort geführt habe«, erzählt der 66jährige Nikola Stosović. »Als Kind lernte ich Albanisch und hatte viele albanische Freunde. Heute lebe ich in den Baracken von Gracanica, eine Spende aus Russland.« Seine Baracke ist fünf Quadratmeter groß und nur eine von vielen in den serbischen Siedlungen an der Peripherie Gracanicas. Die Probleme, die den Kosovo heute heimsuchen, führt Stosović allerdings auf den serbischen Nationalismus zurück: »1989 befand sich Jugoslawien in einer Krise, und die nationalistischen Kräfte in Serbien übernahmen die Machtpositionen, was viele Serben gut fanden. Sie riskierten das freundliche und nachbarschaftliche Verhältnis zu den Albanern im Kosovo wegen des Versprechens von großem Ruhm durch nationalistische Politik.«
Stosović ist etwas nostalgisch, aber er beschwert sich nicht über seine schwierige Situation: »Ich erinnere mich an Zeiten, als mein Leben besser war, und das gibt mir die Kraft weiterzumachen«, sagt er nur, warnt aber auch: »Die junge Gene­ration heute sollte jedoch sehr vorsichtig sein, in welche Richtung sie geht.«
Auch Azem Vllasi musste mit der harten Realität im Kosovo fertig werden. Als ehemaliger­jugoslawischer Politiker kosovarischer Herkunft hatte er sich 1989 gegen die Verfassungsänderungen des Milošević-Regimes gewehrt, das den Autonomiestatus des Kosovo de facto aufhob. Dafür wurde er ins Gefängnis geworfen, von wo aus er die Rede von Milošević im Jahre 1989 verfolgte. Heute sagt er: »Die serbischen Politiker sollten sich lieber mit konkreten Reformvorhaben befassen und den Problemen in ihrem Land ins Auge sehen, statt jedes Mal den Kosovo-Mythos heraufzubeschwören, wenn eine Krise ausbricht.« Vllasi betont, dass dies noch niemandem etwas gebracht hat: »Nikolić 2014 und Milošević 1989 haben sich auf ein jahrhundertealtes Ereignis bezogen, wenn sie mögliche Gefahren für ihren Machterhalt zu erkennen glaubten. Es hat ihnen nicht geholfen, sondern ihnen nur Niederlagen eingebracht. Und es wird weiterhin Niederlagen einbringen.«