Die Eskalation zwischen Israel und der Hamas

Öl in die Flammen

Der Streit über das Vorgehen nach der ­Ermordung von drei israelischen Jugend­lichen spaltet Benjamin Netanyahus Ko­alitionsregierung.

Kommt es zur militärischen Eskalation zwischen Israel und der Hamas? Nach dem Fund der Leichen der drei entführten israelischen Jugendlichen trafen sich die wichtigsten Minister von Benjamin Netanyahus Regierung im Sicherheitskabinett, um über ein mögliches Vorgehen gegen die Hamas zu beraten. Doch auf der Straße entwickelte sich bereits eine eigene Dynamik. Während die Nachricht vom Fund der Leichen durch die israelischen Medien zirkulierte, zogen Mobs rechter Jugendlicher auf der Suche nach Arabern durch die zentralen Stadtviertel Jerusalems, zahlreiche Araber wurden zusammengeschlagen. Am Tag darauf wurde der 16jährige Mohammed Abu Khdeir auf der Hauptstraße des Ostjerusalemer Stadtteils Shuafat in ein Auto gezerrt. Seine verbrannte Leiche wurde wenig später in einem Waldstück am anderen Ende der Stadt gefunden. Nach Angaben des palästinensischen Generalstaatsanwalts ist der Jugendliche bei lebendigem Leib verbrannt worden.
Die israelische Polizei nahm sechs Tatverdächtige fest, von denen einige selbst noch minderjährig sind. Mittlerweile gestanden drei von ihnen die Tat. Die Polizei veröffentlichte wegen der Minderjährigkeit der Verdächtigen noch keine Namen. Doch es wird vermutet, dass die Verdächtigen aus dem rechtsnationalen Milieu kommen. In den Internetforen der Ultrarechten wurde nach dem Fund der Leichen zu Vergeltungstaten an Arabern aufgerufen.
Am Wochenende kam es zu gewaltsamen Protesten von Palästinensern gegen den Rachemord. In Ostjerusalem lieferten sich Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei. Auch in arabischen Ortschaften innerhalb Israels kam es zu Ausschreitungen. Nahe einer arabischen Kleinstadt im Norden des Landes wurde ein passierender jüdischer Autofahrer aus seinem Auto gezerrt, das Auto wurde angezündet. Mittlerweile nahm die Polizei über 80 Verdächtige fest, die sich an den Auschreitungen am Wochenende beteiligt haben sollen.
Ministerpräsident Netanyahu verurteilte den Mord an Mohammed Abu Khdeir mit eindeutigen Worten. Es gebe »keinen Unterschied zwischen arabischem und jüdischem Terrorismus«. Die Täter würden mit der vollen Härte des Gesetzes belangt werden, versicherte er dem Vater des Ermordeten in einem Gespräch. In einem Seitenhieb auf die palästinensische Autonomiebehörde sagte Netanyahu jedoch auch: »Wir werden keine Straßen oder Plätze nach den Mördern benennen. Das unterscheidet uns von unseren arabischen Nachbarn, wo Mörder als Helden verehrt werden und in Schulbüchern nach wie vor gegen Israel gehetzt wird.«
Auch Persönlichkeiten aus dem israelischen Sicherheitsestablishment zeigten sich schockiert über den Mord. Der ehemalige Chef des militärischen Geheimdienstes, Amos Yadlin, der heute das National Institute for Security Studies leitet, nannte den Mord einen »moralischen Albtraum«. Hoffentlich werde dieser Mord als Weckruf verstanden, um das Sicherheitsestablishment für die Existenz von ultrarechtem jüdischem Terror zu sensibilisieren, so Yadlin.
Eine Reihe von israelischen Politikern aus zentristischen und linken Parteien besuchte das Trauerzelt der Familie von Abu Khdeir in Shuafat, darunter die Vorsitzende der Arbeitspartei, Shelly Yachimovich, und Michal Rosin von der linken Partei Meretz. Auch Präsident Shimon Peres hatte der israelischen Zeitung Haaretz zufolge die Absicht, das Trauerzelt zu besuchen, doch der Inlandsgeheimdienst Shin Beth riet ihm davon ab. Einige Mitglieder der Familie Abu Khdeir protestierten gegen Trauerbesuche israelischer Politiker.

Im Gaza-Streifen und im Süden Israels wurde die Lage in den vergangenen Tagen immer angespannter. Vieles deutet darauf hin, dass die Führung der israelischen Armee anfangs versuchte, eine militärische Eskalation zu vermeiden. »Ruhe wird mit Ruhe erwidert«, sagte ein hoher Offizier Ende vergangener Woche in Sderot, das nur einen Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt liegt. Trotz dieses Angebots an die Hamas, die Ruhe zu wahren, stieg in den Folgetagen die Anzahl der auf den Süden Israels abgefeuerten Raketen beständig an. Das israelische Militär reagierte mit Luftschlägen gegen Ziele der Hamas, beschränkte sich zunächst jedoch vor allem auf leere Gebäude.
Im Laufe des Sonntags stieg die Anzahl der auf Israel abgefeuerten Raketen auf 30 an. In der Folgenacht kam es zu den ersten Toten bei israelischen Luftangriffen auf den Gaza-Streifen: Sechs Mitglieder des militärischen Flügels der Hamas wurden getötet und sechs Zivilisten verletzt. Am Dienstag wurden nach Angaben der Hamas erneut vier Mitglieder der islamistischen Organisation durch die israelische Luftwaffe getötet. Dabei handelt es sich um die größte Anzahl an Toten durch israelische Luftschläge im Gaza-Streifen seit der großen Eskalation zwischen Israel und der Hamas im November 2012.
Hamas-Führer im Gaza-Streifen sprachen nach den israelischen Luftschlägen von einem »Überschreiten der roten Linie« und kündigten Vergeltungsschäge bis ins zentrale Israel an. Am Montag schlugen ungefähr 85 Raketen im Süden Israels ein, einige Menschen wurden verletzt. Zu Raketenalarm kam es nicht nur im Umkreis des Gaza-Streifens, sondern selbst in Ortschaften im über 50 Kilometer entfernten Zentralisrael und im Raum Jerusalem.
Am Dienstag rief das israelische Sicherheitskabinett die Militäraktion »Protective Edge« aus. Verteidigungsminister Moshe Ya’alon sprach von dem Beginn einer Militäraktion, die nicht in einigen Tagen vorüber sein werde. Bereits in den Tagen zuvor hatte die Armee 1 500 Reservisten eingezogen. Zudem ließ das Verteidigungsministerium in allen Ortschaften, die in einem Umkreis von 40 Kilometern um den Gaza-Streifen liegen, den Ausnahmezustand ausrufen. Schulen wurden geschlossen und Versammlungen von über 500 Menschen abgesagt, in Be’er Sheva stellte die Ben-Gurion-Universität ihren Lehrbetrieb vorübergehend ein. Am Dienstag wurde der Zugverkehr zwischen den beiden Küstenstädten Ashdod und Ashkelon wegen Raketenfeuer angehalten. Auch in den ungefähr 40 Kilometer vom Gaza-Streifen entfernten Großstädten Ashdod und Be’er Sheva wurden die Schutzräume geöffnet. Bürger, die in Ortschaften in unmittelbarer Nähe zum Gaza-Streifen wohnen, sollten sich nicht mehr als 15 Laufsekunden von Schutzräumen entfernt zu halten, so die Aufforderung der Armee.

Die geplante Militäraktion im Gaza-Streifen spaltet Netanyahus Kabinett. Einige Politiker aus dem rechten Lager wie Wirtschaftsminister Naftali Bennett und Außenminister Avigdor Lieberman forderten seit dem Fund der Leichen eine groß­angelegte Militäraktion gegen die Hamas im Gaza-Streifen. Ministerpräsident Netanyahu und Verteidigungsminister Ya’alon hingegen halten das für zu gefährlich und nicht sinnvoll. Die Zeitung Haaretz spricht von harten verbalen Schlagabtäuschen zwischen Ya’alon und Netanyahu auf der ­einen und Bennett und Lieberman auf der anderen Seite. Netanyahu warf den Hardlinern in seinem Kabinett vor, »Öl in die Flammen zu gießen« und aus eigensinnigem, taktischem Kalkül harte Forderungen zu stellen. »In der aktuellen Situation müssen wir uns klarsichtig und verantwortlich verhalten. Aufpeitschende Rhetorik und harte Worte führen uns nirgendwo hin«, sagte Netan­yahu in einer Sitzung des Sicherheitskabinetts. Doch zugleich versicherte er, alles zu tun, um »im Süden wieder Ruhe herzustellen«.
Mit dieser moderaten Haltung kann Netanyahu in der Frage der Gaza-Eskalation die Zentristen in seinem Kabinett hinter sich versammeln, vor allem Justizministerin Tzipi Livni und Finanzminister Yair Lapid. Doch das rechte Lager um Lieberman und Bennett stellt sich immer offener gegen den Ministerpräsidenten. Kurz nach dem Fund der Leichen forderte Lieberman, die isra­elische Armee solle eine Aktion »Defense Shield II« gegen die Hamas im Gaza-Streifen starten – eine Referenz an die großangelegte Militäraktion der israelischen Armee im Westjordanland, die »Defense Shield« getauft wurde.
Demonstrativ fuhr der Außenminister in die unmittelbar am Gaza-Streifen gelegene und regelmäßig von Raketen beschossene Kleinstadt Sderot. Dort sagte er, die Regierung tue zu wenig, um den Raketenbeschuss zu unterbinden. Am Montag zog Lieberman seine Rechtspartei Yisrael Beiteinu aus der Parteienvereinigung mit Netanyahus Likud zurück. Die Minister seiner Partei werden zwar nach wie vor ihre Posten behalten, doch er sprach von »fundamentalen Differenzen« zwischen ihm und Netanyahu.
Der Publizist Yossi Verter vermutet hinter den jüngsten Schritten Liebermans vor allem taktisches Kalkül, um verlorene Wähler zurückzugewinnen. Verter zufolge hat Lieberman große Teile der rechten Wählerschaft bereits an Naftali Bennett von der nationalreligiösen Partei Jüdisches Heim verloren. Dieser trat in den vergangenen Monaten wiederholt mit radikalen Vorschlägen an die Öffentlichkeit. So forderte er beispielsweise während der jüngsten Friedensoffensive John Kerrys, Israel solle die Area C des Westjordanlands (60 Prozent der Fläche) kurzerhand annektieren. Diese radikalen Forderungen haben Bennett die Unterstützung weiter Teile des ideologischen rechten Lagers – jene, die weiterhin an einem Großisrael festhalten – eingebracht. Die weniger ideologisch motivierten Rechten, die eher aus Sicherheitserwägungen rechte Parteien wählen, versuche Lieberman gerade wiederzu­gewinnen.

Der Verlierer bei Liebermans Rückzug ist Verter zufolge Netanyahu – und dies gleich in doppelter Hinsicht: Einerseits schrumpft Netanyahus Fraktion von 31 auf 20 Sitze in der Knesset, sie hat nur noch einen Sitz mehr als die säkulare Fraktion Yesh Atid des bei der vorigen Wahl zweitplatzierten Yair Lapid. Andererseits komme Netanyahu durch den politischen Druck von Rechtsaußen in Zugzwang. Das Aufrechterhalten der Sicherheit während seiner Amtszeit sei stets Netanyahus wichtigstes politisches Kapital gewesen. Bei anhaltendem Raketenbeschuss im Süden drohe der Ministerpräsident dieses Kapital zu verlieren. Halte zudem der Druck von rechts an, könnte Netanyahu letztlich doch einer großen Offensive im Gaza-Streifen zustimmen – die weder er noch Benny Gantz, der Generalstabschef der Armee, wirklich wollen.