Die Räumung der Flüchtlingsunterkunft in Calais

Vertreiben und verteilen

Die französische Polizei hat eine Flüchtlingsunterkunft in Calais geräumt. Zuvor hatte eine rechtextreme Miliz die Migranten bedroht, bei der Europawahl im Mai hatte in der Stadt fast ein Drittel der Wähler für den Front National gestimmt.

Mehrfach wurden Migranten in Calais bereits aus ihren Unterkünften vertrieben, immer haben sie sich in der Nähe wieder angesiedelt. Doch die französische Regierung hält an ihrer Politik fest. Am Mittwoch vergangener Woche räumte ein Großaufgebot von Polizisten und Gendarmen um sechs Uhr die Essenausgabestelle, die Ehrenamt­liche und mehrere Initiativen für Flüchtlinge eingerichtet hatten. 610 Flüchtlinge wurden vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen, drei vorläufig festgenommene Initiativenmitglieder nicht mitgerechnet, und auf Polizeiwachen in der gesamten Region verteilt. In ihrer Mehrheit handelt es sich um Eritreer und Sudanesen, die zwei der schlimmsten Diktaturen in Afrika entflohen sind, sowie um Menschen aus den Bürgerkriegsländern Syrien und Afghanistan.
An der Küste des Ärmelkanals hoffen sie auf eine Gelegenheit, nach Großbritannien überzusetzen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Mehrheitlich streben sie nicht danach, einen Flüchtlings- oder sonstigen Aufenthaltsstatus in Kontinentaleuropa zu erlangen. Aus sprachlichen Gründen – Englisch ist unter ihnen verbreiteter als andere europäischen Sprachen – und weil viele dort bereits Familie oder Bekannte haben, wollen sie nach Großbritannien. Dort ist auch der wirtschaftsliberal umstrukturierte Arbeitsmarkt durchlässiger. Das bedeutet zwar mehr Ausbeutung, oft überlange Arbeitszeiten und wenig Sicherheit für die Beschäftigten. Aber eben auch oft Möglichkeiten für Migranten, sogar ohne Aufenthaltsdokumente irgendwo eine bezahlte Arbeit zu finden.

Die britischen Behörden tolerierten dies zunächst. Doch unter dem Druck der öffentlichen Meinung im eigenen Land haben auch sie sich dem Kampf gegen »illegale Migration« verschrieben. Schließlich ist deren demonstrative Bekämpfung einfacher, als sich mit Armut und Arbeitslosigkeit zu befassen.
Im Jahr 2002 vereinbarten die damaligen Innenminister Großbritanniens und Frankreichs, Jack Straw und Nicolas Sarkozy, die Schließung des Lagers in Sangatte, zwölf Kilometer von Calais entfernt. Dort hatte das Rote Kreuz eine Notunterkunft eingerichtet, die für 800 Personen geplant, jedoch in jenem Jahr mit 1 800 Personen belegt war. Bei der Schließung des Lagers wurden sie vertrieben, ohne eine andere Unterkunft zu erhalten. Deswegen bildeten sich neue, nicht mehr von Hilfsorganisationen betreute und mit sanitären Lagern ausgestattete »wilde« Lager. Das wohl bekannteste von ihnen war der »Jungle« in einem Außenviertel von Calais, der 2009 geräumt und abgerissen wurde.
In jüngster Zeit hatten sich zunächst zwei Zeltlager mitten in der Stadt Calais am Rande eines Kanals gebildet, das eine umfasste 85, das andere 120 Zelte. Die dortige Situation wurde immer angespannter, vor allem weil eine rechtsextreme Bürgermiliz seit dem Frühjahr immer wieder versuchte, die Bevölkerung aufzuhetzen. Das Kollektiv Sauvons Calais (Retten wir Calais) bedrohte die Lager, sammelte Unterschriften und rief die Bürger zu sogenannter Selbsthilfe auf. Anführer der Gruppe ist Kévin Rèche, der ein tätowiertes Hakenkreuz trägt.
Am 13. April rief seine Gruppe zusammen mit der Jeunesse identitaire (»Identitäre Jugend«), der Jugendorganisation des Bloc identitaire, einer außerparlamentarischen faschistischen Organisation, zu einer Demonstration in Calais auf. Allerdings gab es von antirassistischen Gruppen sowie Hausbesetzern einen Aufruf zu einer Gegendemonstration und anderen Gegenaktivitäten. Die rechtsextreme Demonstration wurde daraufhin »aufgrund von Sicherheitsbedenken« verboten. Sauvons Calais wird zudem verdächtigt, mit den Schüssen in Verbindung zu stehen, die ein Beschäftigter im Sicherheitsgewerbe in der Nacht vom 12. zum 13. Juni aus einem Schrotgewehr abfeuerte. Zwei Sudanesen wurden im Abstand von zwei Stunden gefährlich verletzt, der Prozess gegen den Schützen hat am Montag begonnen. Seit 2002 verzeichnet der Front National überdurchschnittliche Wahlergebnisse in der Region, bei den diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament erhielt er in Calais 31 Prozent der Stimmen.
Die Migranten wollen lediglich die Möglichkeit erhalten, eine Zeitlang menschenwürdig unterzukommen, bevor sie nach Großbritannien übersetzen. Eine Minderheit von ihnen wagt die Überfahrt auf Flößen treibend oder durchquert den Ärmelkanal sogar mit Schwimmflossen, während die Mehrzahl versucht, an den Einladestellen zu den Fähren oder an der Einfahrt zum Eurotunnel auf die Verladeflächen von LKW zu gelangen. Nur wenigen gelingt dies, viele Fahrer sind inzwischen mit Stöcken bewaffnet. Aber wegen der großen Zahl von gleichzeitig Anstürmenden an den Warteschlangen für LKW entgehen mitunter einige der Aufmerksamkeit von Polizei und Fernfahrern.

Viele geben es aber mit der Zeit auch einfach auf und resignieren, zumal die oft mafiösen Schleuser, deren Geschäftsgrundlage die Prohibitionspolitik gegen Grenzübertritte darstellt, ihr Territorium mit Gewalt behaupten und es auszudehnen versuchen. Konnten Migranten früher oft noch wählen, ob sie es auf eigene Faust versuchen oder aber ihre Chancen zu verbessern trachten, indem sie Schleuser bezahlen, werden nun oft jene zusammengeschlagen, die nicht zahlen wollen. Das hat die Lebensverhältnisse in den Durchgangslagern noch verschlechtert und viele weiter entmutigt. Jene, die es immer wieder versuchen, brauchen angeblich im Durchschnitt zwischen einem und fünf Monaten, um nach Großbritannien zu gelangen.
Am 27. Mai wurden die beiden Zeltlager in Calais geräumt, unter dem Vorwand, eine dort grassierende Krätzeepidemie zu bekämpfen. Da die Migranten keine andere Unterkunft hatten, überquerten sie einfach die Straße und ließen sich in der Essenausgabestelle der Initiative »Salam« zum Schlafen nieder. Rund 300 Personen übernachteten dort. Die neuerliche Räumung geht nun allerdings mit dem Versuch einher, die Personen für längere Zeit aus dem Raum Calais zu entfernen. Zwei Drittel der Festgenommenen wurden nach kurzer Zeit wieder freigelassen, 210 Personen jedoch in Abschiebezentren gesteckt. Niemand wurde aber im das Abschiebegefängnis Coquelles untergebracht, das nur sechs Kilometer von Calais entfernt liegt. Stattdessen wurden die Menschen nach Lille, aber auch ins westfranzösische Rennes, nach Rouen sowie in den Raum Paris gebracht und auf mehrere Abschiebzentren verteilt.

Dort blieb aber nur eine kleine Minderheit. Eine Gruppe von Afghanen wurde nach Italien abgeschoben, wo sie in die EU eingereist waren und einen Asylantrag gestellt hatten, um nicht sofort beim Grenzübertritt abgeschoben zu werden. Die Eritreer in den Abschiebehaftanstalten rund um Paris wurden am Montag wieder freigelassen, was die Behörden den Solidaritätsinitiativen bereits am Wochenende angekündigt hatten. Ebenso kamen 44 Afghanen aus Palaiseau in der Nähe von Paris frei.
Sie werden bald wieder auf den Migrantenrouten unterwegs sein und aller Wahrscheinlichkeit nach in Kürze auch wieder im Raum Calais auftauchen. Die Räumung und Zwangsverschickung in andere Teile Frankreichs sollte sie davon abschrecken. Aber wer etwa vor dem Terrorregime Eritreas fliehen musste und zwei Dutzend Länder durchquert hat, wird sich davon kaum abhalten lassen. Am Samstag wird in Calais eine Demonstration für das Bleiberecht und gegen die polizeiliche Repression stattfinden.