Die Straßenfußball-WM in Brasilien

Ein anderer Fußball ist möglich

Während in den Rasentempeln Brasiliens nach Fifa-Standards gekickt wurde, spielten Jugendliche auf dem Asphalt São Paulos die Straßenfußball-WM. Ein Experiment voller Widersprüche, das eine Debatte darüber ausgelöst hat, was Fußball ist, was er kann und was er sein könnte.

»Also, fassen wir es noch mal zusammen. Wir spielen zehn Minuten, ohne Seitenwechsel, der Ball kann eingeworfen oder eingerollt werden. Es müssen mindestens immer zwei weibliche Spielerinnen auf dem Platz stehen, Fouls werden mit erhobenem Arm angezeigt, das Spiel wird in diesem Fall direkt unterbrochen. Grätschen nach dem Ball ist nur dann erlaubt, wenn kein anderer Spieler oder Spielerin in der Nähe ist. Noch Fragen?«

Sport ist Mord? Von wegen. Zumindest Fußball hat sich in zu einem gesellschaftlichen Allheilmittel gemausert. Die Fifa preist »Fußball für Hoffnung« an, die Vereinten Nationen teilen sich mit Prinz Albert II. von Monaco die Schirmherrschaft über »Fußball für den Frieden« und in Costa Rica wird »Fußball für das Leben« gespielt. Gemeinsam ist all diesen Projekten, dass sie sich des globalen Ballsports bedienen als eines Mittels, Menschen zusammenzubringen und gesellschaftlichen Wandel anzuregen. Doch so harmonisch sich das Mantra »die Welt durch Fußball verändern« zunächst anhört, der globale Wettbewerb der unterschiedlichen Organisatoren um Teilnehmende, Sponsoren und mediale Aufmerksamkeit hat wenig mit Fair Play zu tun – erst recht in Zeiten der Fußball-WM der Herren.

»Und wenn wir festlegten, dass nur die Mädchen im Team Tore schießen können? Das würde für mehr Gleichheit und mehr Spielzeit für uns auf dem Platz sorgen. Kann das mal jemand übersetzen?« »Nein, abgelehnt, aber wie wäre es damit: Unser Team stellt eine Feldspielerin ins Tor, ihr habt eine gute Torfrau. Dass schafft auch einen Kräfteausgleich. Was sagt ihr?«

WM-Touristen und -Touristinnen, die in Brasilien auch eine Fußballkultur außerhalb der offiziellen Stadien kennenlernen wollten, hatten im vergangenen Monat die Qual der Wahl. In Rio organisierten die Fifa und das Netzwerk »Streetfootballworld« (streetfootballworld.org) ein halbes Duzend Fußballveranstaltungen für sogenannte young leaders aus aller Welt, inklusive eines Turniers mit Teams aus 32 Ländern.
In São Paulo fand in der ersten Julihälfte gleichzeitig mit der Fifa-Weltmeisterschaft die Straßenfußball-WM statt. »Fußball ist nun einmal ein mächtiges Mittel und alle Organisationen, die damit arbeiten, haben ihre Berechtigung«, sagt Fabián Ferraro, ein ehemaliger argentinischer Fußballprofi und Gründer der Stiftung Fútbol para el Desarollo (Fußball für die Entwicklung). »Was mir dagegen nicht gefällt, ist, dass einige Organisationen schamlos bei uns abgekupfert haben«, braust der sonst sanfte Mann im braunen Pullunder auf. »Alle Welt redet derzeit von fútbol tres, doch wenn du dir diese Methode anschaust, dann ist sie identisch mit der unseren.« Dabei handelt es sich um ein System, bei dem die Regeln vor Spielbeginn zwischen den Mannschaften ausgehandelt werden.

»Spiel ab, spiel endlich ab! Hier rüber. Hey, das war ein Foul, das gibt Freistoß. Zähl die Schritte bis zur Mauer ab. Moment, das waren nur zwei Schritte, aber wir haben drei Schritte ausgemacht.« »Nein, zwei.« »Dann frag doch den Mediator, der war dabei.« »Nein, ich kann während des Spiels nichts dazu sagen, das diskutieren wir später zusammen. Ihr müsst euch einig werden.« »Dann schieß einfach, auch egal.«

Die Methodenfrage hört sich nach Haarspalterei an, denn Fußball wird seit mindestens 30 Jahren in der Bildungsarbeit eingesetzt. Andererseits ist Ferraros Ärger darüber, in kaum einer Fußnote Erwähnung zu finden, verständlich. Anfang der neunziger Jahre begann er in seinem Viertel Chaco Chico, einer Favela von Buenos Aires, mit jugendlichen Bandenmitgliedern zu arbeiten. »Ich hab sie aufwachsen sehen und wusste, dass sie andere Sachen drauf haben als dumm mit Waffen rumzumachen.« Fußball wurde das verbindende Element und Chaco Chico das Labor für eine neue Fußballformel.

»Jetzt noch mal für alle, die neu hier sind: Straßenfußball wird in gemischten Teams gespielt, mit mindestens jeweils einem Mädchen und einem Jungen. Statt zwei Halbzeiten gibt es drei Spielzeiten. Spielzeit 1: Die Regeln werden vor dem Spielbeginn gemeinsam festgelegt, und wer sie besser einhält gewinnt bis zu drei Fair-play-Punkte für Respekt, Solidarität und Kooperation, die zum Spielergebnis dazugezählt werden. Für einen Sieg gibt es drei, für ein Unentschieden einen Punkt. Spielzeit 2: Es wird 20 Minuten gekickt. Es gibt keine Schiedsrichter, nur Mediatoren, also uns. Wir unterstützen nur den reibungslosen Spielablauf, interpretieren keine Regeln und treffen keine Entscheidungen, okay? Spielzeit 3: Wir reden über das Spiel, über alles, was gut und nicht so gut gelaufen ist. Und dann vergeben wir dafür wie gesagt Punkte. Alles klar? Na dann los.«

So oder so ähnlich funktionieren alle gegenwärtigen sozialpädagogischen Fußball-Konzepte. Auch heute in São Paulo, bei der inzwischen dritten Straßenfußball-WM. 24 Teams aus 21 Ländern mischen mit. Die mehr als 300 Jugendlichen haben zehn Tage Zeit, sich kennenzulernen und bei täglich bis zu 22 Partien Gewinner zu ermitteln. Doch was heißt hier gewinnen? Jeder definiert das hier ein bisschen anders. Leroy, der für das argentinische Bariloche antritt, schaut eigentlich nur auf die Fair-play-Punkte. Einer seiner Team-kollegen hat Down-Syndrom und ist nicht immer auf Ballhöhe. Doch selbst wenn das Team zurückliegt, wird er konsequent angespielt. »Wenn wir die Idee, alle einzubeziehen, ernst nehmen, dann ist für uns die Herausforderung, nicht in ein Gewinnenwollen um jeden Preis zurückzufallen«, sagt Leroy.

»Die anderen haben immer geschubst und sich nie dafür entschuldigt. Körpereinsatz gehört nun mal zum Fußball dazu, das ist ganz normal. Aber wir spielen hier keinen normalen Fußball.«

Außerhalb Lateinamerikas ist das Straßenfußball-System weitgehend unbekannt. Bei manchen Teilnehmenden, wie dem Fanladen St. Pauli und dem katalanischen Team, springt der Funke schnell über. »Von uns spielen wenige regelmäßig Fußball«, sagt Albert aus Barcelona, »und wir hatten wirklich Bedenken, ob wir uns bei einem Turnier zwölf Tage lang motivieren könnten. Jetzt würden wir gern einen Monat länger bleiben.« Dass in der Selecció Catalana gleich fünf Kickerinnen am Start sind, ist auffällig. Vor allem wettbewerbsorientierte Teams wie Ghana und Sierra Leone setzten auf man power. Meist kommt nur eine Feldspielerin zum Einsatz.

»Jetzt pass doch mal auf hier hinten. Oh Mann, da können wir noch so viele Tore schießen, wenn ihr nicht verteidigt. Los, kommt jetzt, es sind noch fünf Minuten.«

Doch auch in Peru, wo fútbol callejero schon länger bekannt ist, werde zu wenig auf die gleichberechtigte Teilnahme aller geachtet, beschwert sich die 13jährige Liz aus Manchay, einem der ärmsten Viertel Limas. »Von den fünf Mädchen, die bei uns trainieren, wurden nur zwei mit nach Brasilien genommen«, sagt die jüngste Spielerin des Turniers. »Ich werde das ansprechen, wenn wir zurück sind. Es wird immer von Werten geredet, aber wir müssen auch danach handeln.«

»Was ist jetzt?« »Luciano kann nicht mehr weiterspielen, er hat sich wohl den Arm gebrochen, als er ausgerutscht ist.« »Das tut mir leid, aber wir sollten trotzdem langsam weiterspielen.« »Aber siehst du denn nicht, wie fertig sein Team ist, die weinen. Es war ihr bester Spieler. Der Vorschlag ist, morgen die fehlende Zeit nachzuspielen.« »Aber das ist doch ein Widerspruch, es geht hier um team play und dann redest du hier plötzlich vom Starspieler. Verletzungen gehören dazu beim Sport, sie haben doch immer noch genug Leute zum Einwechseln.« »Das ist nicht der Punkt. Es geht darum, dass ein Team weint und ihr darauf Rücksicht nehmen solltet.« »Nein, es geht darum, dass ihr nicht alle wirklich gleich behandelt. Habt ihr was gegen uns, oder wie?«

Zwischen den Spielern und Spielerinnen zu vermitteln, ist nicht immer einfach. Nicht alle Mediatoren und Mediatorinnen schaffen es, kontroverse Diskussionen anzuregen und zu lenken. Von ihrem Fingerspitzengefühl, Übersetzungen und Gesprächsführung hängt es jedoch vorrangig ab, ob die Jugendlichen wirklich etwas lernen. Marcelo Trautmann, Erlebnispädagoge und Fachkraft der NGO Brot für die Welt auf den Philippinen, fragt sich zudem, ob die Methode als globale Blaupause wirklich funktioniert. »Dieses ›Kommt, reden wir drüber‹ ist eine ziemlich europäische Idee. Aber auch in Lateinamerika scheint es möglich, die Jugendlichen vor und nach dem Spiel dazu zu bringen, ganz offen zu diskutieren«, sagt Trautmann. »In afrikanischen und südostasiatischen Ländern stößt dieser Ansatz dagegen an seine Grenzen. Da weiter zu experimentieren ist nicht nur spannend, sondern wichtig, wenn man es ernst meint.«

»Ihr habt so gut mitgespielt, auch nachdem wir den Ausgleich gemacht haben. Und auch nach unserer Führung. Respekt.« »Ja und ihr, warum habt ihr uns dann angeschrien? Wo war denn euer Respekt? Was hast du da gerufen, ich versteh ja kein Englisch?« »Ach nichts, nicht so wichtig. Das war einfach emotional.« »Ja, das war es und es hat sich nicht gut angefühlt.«

Ferraro weiß, dass jedes Turnier eine Herausforderung ist. Während beim Fifa-Festival »Football for Hope« um die young leaders immer ein kleiner Heiligenschein, vier Sponsorenlogos und ein wenig lächelnde Fußballprominenz schweben, geht es bei der Straßenfußball-WM darum, die Konflikte während des Turniers zu analysieren. »Auch deshalb haben wir unsere strategische Partnerschaft mit der Fifa nach der WM in Südafrika beendet. Blatter und Kollegen nutzen den Straßenfußball als ein soziales Alibi im Rahmen einer Marketinglogik. Alles ist Show«, resümiert Ferraro seine Erfahrungen. »Wir dagegen kümmern uns vor allem um das Spielen, das wesentliche Miteinander. Welche Botschaft von Leadership vermittelt man den Jugendlichen, wenn Lionel Messi auf einem solchen Event wie ein Messias auftritt, jemand, der stets von Leibwächtern abgeschirmt wird, zurückgezogen in irgendeiner Villa lebt? Wir wollen andere Identifikationsfiguren schaffen. Die Jugendlichen, die hier spielen, sind bereits Referenzen in ihrem Viertel, sie haben eine reale Bedeutung.«
»Jetzt sagt doch bitte mal was dazu. Geben wir Ghana den Punkt für Solidarität, sie sagen, es war kein Handspiel. Ist das ein Nicken da hinten? Ja, nein, vielleicht? Ja?« »Okay, aber nur, wenn sie uns auch einen geben. Wir haben nicht gesehen, dass ihre Spielerin den Schuh verloren hat. Und aus dem Angriff danach ist ja noch nicht mal ein Tor geworden.«

»Fußball allein verändert erst einmal gar nichts, außer dass Kinder zusammen spielen«, findet Gabriela Aranda Torey, Koordinatorin der chilenischen Auswahl. »Aber der Sport öffnet ein Fenster für weitere Aktivitäten, die Jugendlichen fühlen sich wohl und fassen Vertrauen, denn wenn man versuchen würde, ihnen direkt Werte einzubläuen, würden die meisten gleich dicht machen.« Im Community Center in Cerro Navia, einem Randbezirk von Santiago, arbeitet ihre Organisation Chigol mit mehr als 100 Jugendlichen zusammen. »Über das regelmäßige Fußballspielen kommen sie auch auf den Geschmack, am Nachhilfeunterricht teilzunehmen, oder lassen sich mit ihren Familien beraten«, schildert Gabriela ihre Arbeit und fügt hinzu: »Klar, viele dieser Aufgaben sollte eigentlich der Staat übernehmen und dafür lohnt es sich zu kämpfen. Aber wenn wir uns nur darauf konzentrieren, dann ändert sich kurzfristig gar nichts.

»Leute, Leute, was für ein spannendes Match, wir Kommentatoren kommen kaum mit dem Zählen nach, hier bei der Straßenfußball-WM 2014, und jetzt erst mal Applaus für die Schiedsrichter, ach nein, die gibt es ja gar nicht, für die Mediatoren, klar, also kommt, macht Lärm!«

Fußball als Sprung ins Leben. Im kolumbianischen Barranquilla werden die jugendlichen Kicker und Kickerinnen als Frisöre und Tätowierer ausgebildet, in der argentinischen Kleinstadt General Rodríguez erwuchs aus dem Treffen zum Ballspielen ein selbstorganisiertes Kulturzentrum und in Ghana wird versucht, bei gemeinsamen Spielen ethnische und religiöse Konflikte zu lindern. Im brasilianischen Porto Alegre finden Mädchen und Jungen über die regelmäßigen Begegnungen auf dem Hartplatz zurück in die Schule. »Bei uns in Südafrika, wo es an öffentlichen Schulen keinen Sportunterricht gibt, öffnet das Fußballspielen schwarzen Jugendlichen aus den Townships den Weg zu Stipendien an ehemals ausschließlich weißen Schulen«, sagt Nick Moud über die Arbeit seiner NGO United through Sport. »Aber wir vermitteln keine Sportstars, sondern Jugendliche, die es gelernt haben, sich sozial zu engagieren und eben auch Fußball zu spielen.«

»Warum so tun, als wollten wir nicht gewinnen? Klar wollen wir das. Die Lokalpresse hat uns interviewt. Uns, einen bunten Haufen Bandenmitglieder: Die Chamacos, die Diablos, Calle 58, die Cangrejos, da kann doch nichts Gutes dabei herauskommen. Na und nun haben wir plötzlich das Finale hier in São Paulo gewonnen. Hoppla. Das wird unserer Bürgermeisterin ordentlich Rückenwind geben, noch mehr Fußballprojekte zu fördern.«

Auch wenn das Finale hart umkämpft und plötzlich wieder wie ein ganz normales, verbissenes Fußballspiel aussah, auf dem Weg dorthin ist er oft da gewesen, dieser andere Fußball, von dem Ferraro und seine Freunde träumen. »Man weiß vorher nie, was passiert. Als wir hier in São Paulo in eine Favela gefahren sind, um eine Nachbarschaftsinitiative zu besuchen, da merkte ich, dass einige der Jugendlichen nervös waren«, erzählt Ferraro. »Und dann waren alle einfach überwältigt. Die Familien haben für uns Essen gekocht, wir schauten zusammen den Viertelfinalsieg von Brasilien und am Ende tanzten alle auf der Straße. So etwas bewegt mich einfach, es zeigt, dass die Dinge anders laufen können.«

»Und dann waren wir dran, uns im Kulturprogramm vorzustellen. Bevor ich noch erklären konnte, was wir mit unserer Performance überhaupt darstellen wollten, machten plötzlich alle mit, die vor ein paar Sekunden noch zugeschaut hatten. Einfach irre. Der ganze Stress, Pässe und Visa zu organisieren, hatte sich spätestens dann gelohnt. Und jetzt, wo wir einmal wissen, wie es läuft, machen wir natürlich weiter. Uns bleiben drei Jahre Vorbereitungszeit bis zur nächsten WM. Wir werden wieder dabei sein.«