Die Strategie der Hamas

Hinter den Raketen

Am Dienstag wurde ein Waffenstillstand vorgeschlagen. Doch die Raketen aus Gaza flogen weiter. Welche Ziele die Hamas mit ihren Raketenangriffen auf Israel verfolgt und warum sie damit scheitern könnte.

Vor dem Hintergrund einer von Ägypten vorgeschlagenen Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel lohnt es sich zu analysieren, welche Zwecke die islamistische Terrororganisation mit ihren Angriffen überhaupt verfolgt. Oder, wie Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas es mit Blick auf die Hamas formulierte: »Was wollt ihr mit dem Abschießen von Raketen erreichen?«
Immerhin hatte sich der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde und Chef der Fatah-Organisation kürzlich auf eine sogenannte Regierung der Nationalen Einheit mit der Hamas verständigt. Nach der gewaltsamen Vertreibung der Fatah-Milizen aus Gaza durch die Hamas im Sommer 2007 und der damit einhergehenden politischen Spaltung zwischen dem Küstenstreifen und dem von der Fatah dominierten Westjordanland hofften viele Palästinenser nun auf eine Versöhnung beider Lager. Für Israel hingegen bedeutete es das Ende der sich ohnehin seit Monaten zäh dahinschleppenden Friedensverhandlungen mit Abbas.
Doch schnell wurde klar, dass auch die formell gemeinsame Regierung nichts an den unterschiedlichen Machtverhältnissen in den beiden palästinensischen Gebieten ändern würde. Die Hamas war nicht bereit, die militärische Kontrolle des Gaza-Streifens mit der Fatah zu teilen, während letztere keinen Grund sah, die dortige Administration finanziell zu unterstützen.

Denn die Hamas hat vor allem ein Problem: Die Wirtschaft in Gaza ist am Boden und Finanzhilfen kommen kaum noch an, seit die verbündeten Muslimbrüder in Ägypten im Juli 2013 von der Armee abgesetzt wurden. Unter dem neuen Machthaber Abd al-Fattah al-Sisi hat Ägypten seitdem nicht nur begonnen, die Grenze zum Gaza-Streifen scharf zu kontrollieren, sondern auch eine militärische Kampagne gegen Terrorzellen auf der benachbarten Sinai-Halbinsel zu führen.
Beides hat die Hamas noch stärker in die Isola­tion getrieben, nachdem die Islamisten-Organisation im Zuge des syrischen Bürgerkrieges bereits ihren wichtigsten Verbündeten, Bashar al-Assad, verloren hatte. Durch die stärkere Kontrolle der ägyptischen Zentralregierung über den Sinai, die Zerstörung zahlreicher Schmuggeltunnel sowie die zeitweilige Schließung des Grenzübergangs zum Gaza-Streifen hat die Hamas den größten Teil ihrer Einkünfte verloren. Medienberichten zufolge konnte sie bereits seit April die Gehälter ihrer 40 000 Beamten nicht mehr bezahlen. Die Erwerbslosenquote liegt inzwischen über 40 Prozent. Entsprechend groß war inzwischen auch der Unmut in der Bevölkerung des Gaza-Streifens über ihre Regierung.
So musste die Hamas inzwischen nicht mehr nur ihre immer stärkere politische Isolierung fürchten, sondern auch den Verlust der Kontrolle über ihre Hochburg Gaza. Da ist zum einen die Terrororganisation Islamischer Jihad, die von der Hamas zumeist geduldet wurde, sich aber in den vergangenen Jahren auf eine immer stärkere Unterstützung durch den Iran verlassen konnte. Und es gibt noch andere Gruppen, die ihrem Selbstverständnis nach radikaler als die Hamas sind, darunter lokale Isis- beziehungsweise al-Qaida-Ableger, die bislang allerdings eher auf ideologischer Ebene Anhänger sammeln, als dass sie tatsächlich als organisierte Gruppen schon einen Machtfaktor bilden würden.
Als im Juni im Zuge der Suche nach den drei entführten israelischen Jugendlichen die israelische Armee im Westjordanland praktisch die gesamte dortige Führungsebene der Hamas verhaftete, darunter auch Personen, die erst im Zuge des Austauschs mit dem seinerzeit entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit freigekommen waren, sah die Islamisten-Organisation das »Tor zur Hölle« aufgestoßen. Mitte Juni begann sie, mit Unterstützung des Islamischen Jihad und auch einzelner Zellen der al-Aqsa-Brigaden der Fatah, den massiven Beschuss des israelischen Staatsgebiets mit Raketen.

Dabei offenbarte die Hamas eine weitere Ursache für den zunehmenden Verfall der zivilen Infrastruktur im Gaza-Streifen. Augenscheinlich hat sie alle verfügbaren Ressourcen in den Ausbau ihres Waffenarsenals gesteckt. Die Anzahl der Raketen, mit denen Israel beschossen wurde, war jedenfalls beispiellos. Und aus israelischer Sicht noch beunruhigender war die Tatsache, dass man in Gaza inzwischen auch massenhaft über Raketen verfügt, die praktisch jeden Punkt in Israel erreichen können. Es sollen zudem noch Tausende Raketen in Gaza auf ihren Einsatz warten.
Sorgen macht Israel auch der immer stärkere Ausbau des Tunnelsystems unter dem Gaza-Streifen. Es ermöglicht der Hamas die vor Luftangriffen geschützte Lagerung ihrer Waffen, die Fortsetzung der Raketenangriffe auch unter Feuer und schließlich auch die Infiltration Israels durch Kommandoeinheiten für Terroranschläge und Entführungen. Schutzbunker für Zivilisten gibt es hingegen praktisch keine. Sie wären auch gegen die militärische Logik der Hamas. Einer ihrer Sprecher hatte im Fernsehen Palästinenser gelobt, die kurz vor einem israelischen Angriff auf die Dächer ihrer Häuser stiegen: »Wir rufen dazu auf, diese Praxis zu übernehmen.« Die Bevölkerung des Gaza-Streifens soll sich also als lebende Schutzschilde vor die Raketenabschussanlagen stellen, um so entweder die Infrastruktur der Hamas zu schützen oder die Opferzahlen zu erhöhen, die wiederum als Legitimation für die Raketenangriffe dienen.
Dennoch könnte sich die Hamas diesmal erheblich verkalkuliert haben. Zum einen ist der angerichtete Schaden auf israelischer Seite wesentlich geringer als von den Islamisten erhofft. Denn ein Großteil der auf dichtbesiedeltes Gebiet abgefeuerten Raketen konnte durch das israelische Abfangsystem »Iron Dome« eliminiert werden.
Zum anderen nutzte Abbas zwar die Gunst der Stunde, um einen Antrag an den UN-Sicherheitsrat anzukündigen, nach dem der »Staat Palästina offiziell dem internationalen UN-Schutzprogramm« unterstellt werden solle. Außerdem forderte er, der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung solle Israel zum »Apartheidstaat« erklären. Dennoch haben sowohl die PA-Administration in Ramallah als auch die ägyptische Regierung die Hamas ziemlich im Regen stehen gelassen. Schon länger soll deshalb die Hamas-Führung Ägypten angefleht haben, sich für einen Waffenstillstand einzusetzen – nach ihren Bedingungen allerdings. Ganz oben auf der Wunschliste stehen dabei die Freilassung der in der Westbank verhafteten Hamas-Leute und die Öffnung des Grenzübergangs nach Ägypten.

Doch der am Dienstag von der Regierung in Kairo angeregte Waffenstillstandsplan sieht zuallererst eine bedingungslose Waffenruhe vor. Die Arabische Liga hat, ebenso wie die US-amerikanische Regierung und der Sondergesandte des Nahost-Quartetts Tony Blair, die ägyptische Initiative begrüßt. Auch Mahmoud Abbas äußerte sich entsprechend. Das israelische Sicherheitskabinett akzeptierte den Plan, doch die Hamas lehnte ihn zunächst ab, erklärte jedoch später, noch darüber beraten zu wollen. Derweil setzte sie den Raketenbeschuss fort. Wenn es wegen einer Ablehnung der Hamas nun doch noch eine Weile dauern sollte, bis die Waffen ruhen, wären darüber auch auf israelischer Seite nicht alle unglücklich.
Auch wenn Israels Ministerpräsident Benjamin Netan­yahu einer großen Bodenoffensive ablehnend gegenübersteht, ist er sich mit seiner Armeeführung doch einig darüber, dass durch weitere Luftangriffe und gezielte Kommandoaktionen eine militärische Schwächung der Hamas erreicht werden kann und soll. Dagegen hätte auch ägyp­tische Regierung nichts einzuwenden. Für die Hamas, die den Konflikt bewusst geschürt hat, käme eine Waffenruhe ohne Vorbedingungen einer militärischen Niederlage und einem politischen Gesichtsverlust gleich. »Unsere Schlacht mit dem Feind geht weiter und wird an Heftigkeit und Intensität zunehmen«, erklärten die Kassam-Brigaden der Hamas in Reaktion auf den Waffenstillstandsplan. Netanyahu sagte daraufhin bei ­einer Pressekonferenz in Tel Aviv: »Wenn Hamas die Vorschläge ablehnt und der Raketenbeschuss nicht endet, sind wir darauf vorbereitet, unsere Angriffe fortzusetzen und zu verstärken.« Bei Redaktionsschluss war nicht abzusehen, ob die Hamas nicht doch noch dem Druck nachgibt und dem ägyptischen Plan zustimmt.
Allerdings kann die Hamas es sich leisten, noch eine ganze Weile weiter mit dem Leben ihrer Bürger und dem der israelischen zu spielen. Ein regime change in Gaza, wie von einigen israelischen Konservativen gefordert, stellt selbst bei einer massiven Bodenoffensive des israelischen Militärs keine Option dar. Eine palästinensische Zivilgesellschaft gibt es in Gaza praktisch nicht und sowohl salafistisch-jihadistische Gruppen (deren Machtübernahme ohnehin nicht in Israels Sinne wäre) als auch die Fatah sind schlicht zu schwach, um derzeit die Hamas zu beerben.
Je länger aber geschossen wird, je mehr zivile Opfer es gibt, desto eher könnte das Kalkül der Hamas doch noch aufgehen, dass internationaler Druck auf Israel zumindest für partielle Zugeständnisse an sie sorgt. Aber auch hier könnte sie sich getäuscht haben: Viele Araber in der Region sehen inzwischen den Islamismus als größeres Problem als den Staat Israel und selbst die Erdoğan-Regierung in der Türkei, die seit Jahren einen strikten Anti-Israel-Kurs fährt, scheint sich inzwischen eher vom Iran bedroht zu fühlen.