Flüchtlingsproteste in Nürnberg

Nur das Leben zu verlieren

In Nürnberg eskaliert der Protest von Flüchtlingen, denen der deutsche Staat kein Bleiberecht geben will. Die baye­rischen Aufnahmeeinrichtungen sind ­zudem hoffnungslos überfüllt.

Flüchtlinge drangsalieren den deutschen Staat, diese Auffassung wird derzeit von vielen vertreten. Nachdem Ende Juni Flüchtlinge in Berlin ihre »Halsstarrigkeit« (Berliner Morgenpost) unter Beweis stellten, indem sie sich auf das Dach einer von ihnen besetzten Schule in Kreuzberg zurückzogen und damit drohten, bei einer Räumung herunterzuspringen, werteten das Lorenz Maroldt, der Chefredakteur des Tagesspiegel, und Cem Özdemir, der Bundesvorsitzende der Grünen, als »Erpressung« der deutschen Behörden. Am 5. Juli begannen Flüchtlinge in Nürnberg einen Hungerstreik, den sie drei Tage später dadurch verschärften, dass sie auch keine Flüssigkeit mehr zu sich nahmen. Ihre Forderungen lauten: Abschaffung der Residenzpflicht, der Essenspakete, der Flüchtlingsheime und der Dublin-Gesetze, die eine Ausweisung von Flüchtlingen in das Land vorsehen, in dem sie in Europa ankamen.
Der kleine Hallplatz liegt in der Nürnberger Fußgängerzone, umgeben ist er vor allem von Geschäften, an einem Gebäude prangen die Lettern FDP. Neben dem mittelalterlich wirkenden Zeughaus, in dem die Polizei eine Opferberatungsstelle unterhält, steht ein Zelt, dessen eine Querseite offen ist. Eine kleine Fläche davor ist mit Absperrband abgetrennt, ein Tisch und ein Aufsteller halten ein paar Informationsblätter bereit. Im Zelt liegt ein knappes Dutzend Menschen in Schlafsäcken. Am Info-Tisch stehen am 8. Juli zwei bis drei Personen und beantworten die Fragen der wenigen Passanten.

Einer von ihnen ist Naqib Hakimi, der Sprecher der Gruppe. Er sei 21 Jahre alt, komme aus Afghanistan und sei schon seit über vier Jahren in Nürnberg, sagt Hakimi. Die anderen in der Gruppe kämen vor allem aus Äthiopien, dem Iran und ebenfalls Afghanistan, zum Teil seien sie ebenso lange wie er in Deutschland. Hakimis Gesicht wirkt nicht wie das eines 21jährigen hierzulande, sicherlich auch, weil es so einen grundsätzlichen Ernst ausstrahlt. »Wir haben alles versucht, wir haben geklagt«, berichtet er in fließendem Deutsch von der Ablehnung ihrer Asylanträge. »Aber es geht nicht. Wir wollen jetzt den Leuten zeigen: Wir brauchen unser Recht.« Hakimi und, nach seinen Angaben, 17 andere Flüchtlinge wollen ein Zeichen mit dem Hungerstreik setzen, den sie drei Tage zuvor begonnen und den 16 von ihnen am 8. Juli zu einem trockenen Hungerstreik ausgeweitet haben. Das Ordnungsamt erließ die Auflage, dass sich die Flüchtlinge ärzt­liche Betreuung verschaffen müssen. Das Protestzelt in Nürnberg gibt es schon seit Anfang Mai. Auch Flüchtlinge aus anderen bayerischen Städten beteiligen sich daran. Am 3. Juli besetzten sie das Gelände des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Dort gab es ein Gespräch mit leitendem Personal, man habe die Namen aller Beteiligten in Erfahrung bringen wollen und ihnen zugesagt, dass alle Fälle noch einmal geprüft würden, sagt Hakimi. Daraufhin hätten rund 20 Flüchtlinge das Gelände verlassen. Rund 40 weitere Flüchtlinge hingegen hätten den Worten der Mitarbeiter des BAMF nicht vertraut. Sie blieben über Nacht auf dem Gelände, am folgenden Morgen wurde polizeilich geräumt. Es folgte der Hungerstreik. »Die meisten von uns haben nur eine Duldung und können jederzeit abgeschoben werden«, beschreibt Hakimi die Situation der Hungerstreikenden. Auch sein eigener Asylantrag sei abgelehnt worden. Dass er nicht abgeschoben wird, erklärt er mit der schwierigen Situation in Afghanistan und Uneinigkeiten zwischen dem deutschen und dem afghanischen Staat. Am folgenden Tag werden Hakimi zufolge sechs Hunger- und Durststreikende ins Krankenhaus gebracht, von denen fünf über Nacht dort bleiben. Später am selben Tag erhalten die Flüchtlinge ein Schreiben, in dem ihnen ein Gespräch mit Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) und Manfred Schmidt, dem Präsidenten des BAMF, versprochen wird, wenn sie den Streik einstellen. Das Gespräch findet drei Tage später in einer nahegelegenen christlichen Einrichtung statt. Es dauert drei Stunden, Hakimis Fazit lautet: »Wir haben keine Lösung gefunden.« Maly und Schmidt hätten nur auf die Gesetzeslage verwiesen und gesagt, Einzelfallprüfungen würden nicht von Ak­tionen wie dem Hungerstreik beeinflusst werden. »Herr Schmidt und Herr Maly haben uns gebeten, nicht wieder auf die Straße zu gehen«, sagt der Sprecher der Flüchtlinge. »Aber wir haben nichts zu verlieren.«

Der Protest geht also weiter, auch wenn zunächst noch nicht klar war, wie. Einige wollten den Hungerstreik wieder aufnehmen, das werde aber noch diskutiert, sagte Hakimi am Dienstag. Klar sei nur: »Wir erwarten jetzt nichts mehr von Herrn Schmidt.« Mit Hilfe des Bayerischen Flüchtlingsrats wollen sich die Flüchtlinge nun an die Landesregierung wenden. Alexander Thal von der Nürnberger Außenstelle des Bayerischen Flüchtlingsrats sagt im Gespräch mit der Jungle World, er werde beim Landtag und bei der bayerischen Regierung anrufen und darum bitten, dass sie jemanden nach Nürnberg schicken, damit die protestierenden Flüchtlinge mit jemandem von dieser Ebene sprechen könnten. Maly habe bereits im Oktober vorigen Jahres in einem Brief an Bayerns Innenminister gefordert, keine Abschiebungen nach Afghanistan durchzuführen, wie ein Sprecher Malys gegenüber der Jungle World erklärt. Der Protest wurde parallel zum Hungerstreik in Nürnberg auch in Berlin fortgeführt. Am 9. Juli besetzten dort knapp 40 Flüchtlinge, die zuvor in Bayern gelebt hatten, die Aussichtsplattform des Fernsehturms für mehrere Stunden. Nachdem die Räumung durch die Polizei bereits begonnen hatte, gingen sie freiwillig. Sie kamen »in Wohnungen und Büros von Unterstützern« unter, wie Hakan Taş, der für die Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt, der Nachrichtenagentur DPA mitteilte. Am 11. Juli folgte eine Solidaritätsaktion vor dem Museum am Checkpoint Charlie. Vom Dach und auf der Straße wurden Flugblätter verteilt, an der Fassade wurden zwei Transparente angebracht. In einer Erklärung im Internetportal »Indymedia Linksunten« hieß es dazu: »In diesem Museum wird die Flucht von DDR-Bürger_innen gefeiert. Gleichzeitig werden Geflüchtete aus den Krisenregionen dieser Welt kriminalisiert.«

Dass gerade Flüchtlinge aus Bayern so aktiv sind,erklärt der Bayerische Flüchtlingsrat mit der dortigen Praxis der Flüchtlingsverwaltung. »Flüchtlinge im Asylverfahren und mit Duldung müssen in Lagern leben«, schreibt der Flüchtlingsrat in einer aktuellen Pressemitteilung. Nun seien sowohl die Lager als auch die Erstaufnahmeeinrichtungen überfüllt. Bayerns Sozialministerin Emilia Müller (CSU) sagte Ende Juni: »Die Zahlen explodieren. Der Zustrom übersteigt all das, was wir bisher an Prognosen haben.« Alleine in München seien bis zu 200 Flüchtlinge am Tag angekommen, vor allem aus Afrika und Syrien. Rund eine Woche später besuchte der Bamberger Erz­bischof Ludwig Schick Bayerns zweites und ebenfalls überfülltes Erstaufnahmelager im Fürther Stadtteil Zirndorf. Den Nürnberger Nachrichten zufolge sagte Schick nach seinen dortigen Gesprächen: »Keiner ist freiwillig hier. Sie sind geflohen, weil sie nicht bleiben konnten.« Die bayerische Regierung will demnach nun zwei weitere Erstaufnahmeeinrichtungen schaffen, in Deggendorf soll eine Flüchtlingsunterkunft noch Ende des Jahres den Betrieb aufnehmen. Der Flüchtlingsrat prognostiziert jedoch, dass auch diese Einrichtungen bald überfüllt sein werden und fordert eine Abschaffung der Lagerpflicht.