Postpolitik und das Scheitern des »Piraten«-Projekts

Weder Steuerbord noch Backbord

Was kommt nach der Postpolitik?

In den Jahren nach 2006 ging nach der Gründung der ersten Piratenpartei in Schweden einer der sprichwörtlichen neuen Sterne am Himmel der politischen Parteien auf. Hervorgegangen aus der Anti-Copyright-Bewegung und damit den digital natives und Netzaktivisten pragmatisch nahe, versuchten sich die Piratenparteien in Europa – in Deutschland wurde die Partei noch 2006 ­gegründet und war bis 2011 relativ stetig erfolgreich –, mehr und mehr an einem umfassenderen politischen Programm. Was die derzeitige Entwicklung anbelangt, so scheint dieses Projekt, wie es gern heißt, »an sich selbst« gescheitert zu sein. Das enttäuschende Ergebnis von 2,2 Prozent bei der Bundestagswahl 2013 in Deutschland gilt dafür als Symptom, ebenso wie eine gelegentlich durchaus hämisch kommentierte Abfolge interner Streitigkeiten, Spaltungen, Parteiausschlüsse gewählter Abgeordneter – wie etwa bei der Tiroler Piratenpartei – und Rücktritte. Der Niedergang, so will es diese Geschichte, vollzieht sich so rasch wie der Aufstieg. Ob dem so ist oder doch nur eine Phase der Transformation eingeleitet wird, sei dahingestellt. Was hier zur Debatte steht, ist eine Konzeption des Politischen. Oder eben: des Postpolitischen.
Die Programme der Piratenparteien in Europa, besonders der Piratenpartei in Deutschland, zeichnen sich zunächst einmal durch eine durchaus widersprüchliche Mischung von demokratischen, linken, liberalen und libertären Positionen aus, die möglicherweise schließlich doch auf einen Nenner zu bringen sind: die Forderung nach Stärkung der Rechte des einzelnen Bürgers und der einzelnen Bürgerin gegenüber dem Staat, der Gesellschaft, den Konzernmächten schließlich, und zwar in Form der direkten Mitbestimmung, der Bürgerrechte, des freien Zugangs zu Wissen und Information, der Transparenz der politischen und ökonomischen Macht. Zwangsläufig gibt es darin Elemente, die aus einer eher linken Tradition stammen, und solche, die der Tea-Party-Bewegung gefallen könnten. Es ist, wenn man so will, ein verzweifelter Versuch, in einer unübersichtlichen und nun eben postpolitisch geprägten Welt noch einmal ein demokratisches, bürgerrechtliches und aufklärerisches Projekt zu verwirklichen. Offensichtlich gibt es bei alledem ­einen Haken, der nicht nur die leidigen Querelen um (Definitions-) Macht, Posten und »Führungsstile« betrifft.

Eine zentrale Forderung ist die Reform des Copyright und des Patentrechts. Das ist ein durchaus wichtiges Feld der Auseinandersetzung um die Zukunft, denn hier wird womöglich die Frage entschieden: Wem gehört die Welt? Auch hier soll nach dem Willen der Piraten vor allem das Recht des Einzelnen gestärkt werden, so sollen, zum Beispiel, die Kopien für den privaten Gebrauch legalisiert sowie die Schutzdauer im Urheberrecht reduziert werden; digitale Rechteverwaltung soll verboten sein. Gleichzeitig wendet man sich gegen Bespitzelung und tritt für den Datenschutz ein. Die Stärkung der Rechte des Einzelnen gegenüber »dem System«, der Regierung oder dem Staat scheint auf den ersten Blick ein sympathischer Gedanke zu sein. Erst auf einen zweiten Blick offenbart sich die, möglicherweise an den Rand der Selbstdestruktion führende Widersprüchlichkeit des Projekts. In der Präambel des Parteiprogramms lautet der erste Punkt: »Im Zuge der Digitalen Revolution aller Lebensbereiche sind trotz aller Lippenbekenntnisse die Würde und die Freiheit des Menschen in bisher ungeahnter Art und Weise gefährdet. Dies geschieht zudem in einem Tempo, das die gesellschaftliche Meinungsbildung und die staatliche Gesetzgebung ebenso überfordert wie den Einzelnen selbst. Gleichzeitig schwinden die Möglichkeiten, diesen Prozess mit demokratisch gewonnenen Regeln auf der Ebene eines einzelnen Staates zu gestalten, dahin.«
Man kann schon in dieser Feststellung, der schwerlich irgendjemand widersprechen könnte, die Konstruktion des politischen Subjektes erkennen, um das es in diesem Diskurs geht: Es ist der Einzelne (groß geschrieben wie bei Max Stirner). An anderer Stelle des Programms heißt es noch deutlicher: »Wir Piraten sind überzeugt, dass die Gemeinschaft einzelne Mitbürger nicht bevormunden darf.«
Das ist definitiv ein Schlüsselsatz für eine, vielleicht noch nicht vollständig von der mehr oder weniger neuen Rechten gekaperte Postpolitik. Ein Satz, den ein berlusconistischer Mafia-Kapitalist, ein Do-it-yourself-Punk und ein kritischer Journalist gleichermaßen unterschreiben könnten, ­allerdings mit vermutlich ziemlich unterschiedlichen Bildern dazu im Kopf. Tatsache ist wohl, dass eine »Gemeinschaft« ihre Mitglieder gar nicht bevormunden kann, da sie nach dem Grundgedanken der Demokratie aus nichts anderem als aus dem freien Zusammenschluss eben jener Mitglieder besteht. Natürlich, das ist das Ideal, die Praxis sieht, wie wir wissen, anders aus: Die Gemeinschaft, die einzelne Mitbürger bevormunden könnte, die gibt es gar nicht. Was es gibt, sind hegemoniale Machtverteilungen, die gerade Einzelnen erlauben, sich über die Belange der Gemeinschaft hinwegzusetzen. Das Konzept Postpolitik verhindert das Austragen von Konflikten, schafft aber einen prinzipiellen Widerspruch zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Davon profitieren einige, und viele leiden darunter.

Mein Freund Aristoteles hat unlängst behauptet, die Polis – was man mehr oder weniger mit Staat übersetzen kann, in einem anderen Sinn aber eben auch »Gemeinschaft« – sei einerseits »von Natur aus« und andererseits vor dem Einzelnen vorhanden. Die Polis kann ohne den einzelnen Menschen leben, der einzelne Mensch aber nicht ohne die Polis. Die Demokratie ändert an diesem Verhältnis erst einmal nichts; sie bestimmt nur, auf welchen Wegen sich die einzelnen mit der Polis verbinden. Im Gegensatz dazu allerdings steht ein libertäres Denken, das dem Recht des Einzelnen den Vorrang gibt, und zwar »von Natur aus« und vor der Polis. Das Piraten-Programm nun sieht freilich vor, dass der Einzelne, »ent-polis-ierte« Mensch als solcher in die Gemeinschaft zurückkehrt: »Wir Piraten streben eine möglichst hohe demokratische Gleichberechtigung aller Menschen an. Deswegen ist es Ziel der Piratenpartei, die direkten und indirekten demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten jedes Einzelnen zu steigern und die Partizipation jedes einzelnen Mitbürgers an der Demokratie zu fördern.«
Im Piraten-Projekt und in einem Denken, das sehr viel weiter verbreitet ist, geht es mithin um die Repolitisierung eines zunächst einmal entpolitisierten Subjekts. Die einzige Möglichkeit, dies zu verwirklichen, wäre freilich eine Neubestimmung des Politischen selbst. In einer aristotelischen Form von Demokratie, aber auch, seien wir ehrlich, in einer aufrecht anarchistischen, wären die Forderungen eines Einzelnen an die Polis, aus der er sich (zu Recht) ausgeschlossen wähnt, undenkbar. Eine Demokratie, die ihren Bürgerinnen und Bürgern Mitbestimmungsmöglichkeiten genommen hat, ist nicht mehr zu retten, auch nicht von einer noch so großen Gruppe von »Einzelnen«. Die Polis, die ihre Mitglieder vernichtet oder sie vor Vernichtung durch andere nicht schützt, hat ihre Legitimation verloren. Denn nur in einer dialektischen Einheit mit dem Einzelnen, nicht in einer dualen »Verhandlung« erfüllt sie ihren Zweck.
Politik, jedenfalls will es die einschlägige Wissenschaft so, besteht aus all den auf Macht und Gewalt basierenden Interaktionen, die Personen und Institutionen zur Verteilung von materiellen (Besitz, Geld) und immateriellen Werten (Pflichten, Freiheiten) untereinander eingehen. Daher wäre alles, was man tut, schon politisch, noch bevor es, zum Beispiel, sexuell, familiär, kulturell oder ökonomisch würde. Politische Freiheit bedeutete mithin, der Polis anzugehören und sie mitzugestalten. Unfreiheit dagegen, von ihr ausgeschlossen zu werden (in die Verbannung, die nicht viel besser als der Tod ist), oder an ihr keinen Anteil zu haben, wie die Sklaven.

Postpolitik löst die Dialektik von Polis und Einzelnem zugunsten eines Konkordats ab, das Sphären der Begegnung und der Nichteinmischung definiert. Postpolitik ist in ihrem Kern konflikthaft, nur werden die Konflikte außerhalb der dafür geschaffenen Foren und Institutionen geführt und sind in ihrer äußeren Erscheinung konsensuell (man könnte fast von einer Gewalt des Konsenses sprechen, die sich, in Sprache und Gestus, als geradezu grotesker Konformitätsdruck zeigt). In einer konsensuellen Gesellschaft muss der äußeren Harmonie zuliebe der »eigentliche« Konflikt verschleiert, transformiert, verdrängt werden. Postpolitik entpolitisiert (und entdemokratisiert damit auch) die zentralen politischen Fragen, nämlich jene um die Verteilung der materiellen und immateriellen Güter. (Der postpolitische Ausdruck des unterdrückten Klassenkampfes ist der geschmackspolizeilich verbotene »Sozialneid«.)
Postpolitik muss also einige Dogmen außer Kraft setzen, wogegen prinzipiell erst einmal nichts zu sagen ist. Das Primat der Polis weicht einem Primat des Einzelnen. Die Kategorien »Freund« und »Feind« sollen nicht mehr erzeugt, sondern eher überwunden werden, was sich nicht zuletzt in der Konsensformel ausdrückt, politische Ideen und Programme ließen sich nicht mehr anhand der Konfliktfronten von links und rechts unterscheiden.
Die Postpolitik ist eine Austragung von Konflikten nahezu überall, nur nicht in den dafür einst vorgesehenen demokratischen Foren und Institutionen. Die eigentlichen Konflikte in einer Gesellschaft werden daher einerseits, hochvirtuell, in den Unterhaltungsmedien, und andererseits, hyperrealistisch, auf der Straße ausgetragen. Eine postpolitische Regierung kann sich daher, da sie ihr eigenes Unterhaltungsprogramm geworden ist, jeglicher Einsicht in reale Konflikte in »ihrer« Gesellschaft verweigern, jedenfalls so lange, wie die Mehrheit der Bevölkerung der postpolitischen Metapher des allumfassenden Kompromisses auf den Leim geht.
Daher wird eine Vertreterin der Postpolitik par excellence wie Angela Merkel so geschätzt, weil sie zu versprechen scheint, dass sie das »Vernünftige« und »Notwendige« (das »Alternativlose«) tut, ohne einen wirklichen politischen Streit, ohne dass die »wirklichen« Parteien in der gesellschaftlichen Praxis und die wirklichen Mächtigen sichtbar würden. Regieren bedeutet im Zusammenhang der Postpolitik also nichts anderes als das System stabil zu halten, und so kann das Programm der Postpolitik nichts anderes sein als eine weitere Postpolitisierung, mithin ein weiteres Unsichtbarmachen beziehungsweise Leugnen von Macht, Konflikt und Verpflichtung. Die Postpolitik gewährt dem Einzelnen eine große Freiheit von Politik, eine bislang nicht gekannte Freiheit, sich und seine Privatsphäre ins Universale auszudehnen, eine Freiheit schließlich, die allerdings begrenzt ist durch das Verbot, »politisch« zu werden, und andererseits durch die Macht der Super-Einzelnen in der ökonomischen und politischen Oligarchie.
Im Postpolitisierungsprozess geht es auch darum, die Sprachen der Politik zu verändern. In der Postpolitik wird, zum Beispiel, aus dem Wahlverfahren eine Art Geschmackstest. Die institu­tionalisierte und schließlich unter das ökonomische Diktat gestellte Demokratie, die zunächst nicht zwischen positiven und negativen Freiheiten unterscheidet, ist demnach ein ideales Transformationsmittel von Politik in Postpolitik.
Die Postpolitik wiederum ist der ideale Nährboden für einen Gramsciismus von rechts, der nach einer kulturellen Hegemonie strebt, oder genauer gesagt, nach dem zum Beispiel vom Chefdenker der Neuen Rechten, Karlheinz Weißmann, in der Zeitschrift Criticón vorgestellten Konzept der »Besetzung von Feldern im vorpolitischen Raum«. Die Postpolitik, die den Kern des Politischen entpolitisiert und das kulturelle, semantische und private Umfeld dagegen massiv politisiert, hat gegen so etwas kaum Abwehrmechanismen, zumal sich jede postpolitische Regierung gegenüber den Kämpfen im vorpolitischen Raum blind und taub stellen muss. Auf dem Boden eines postpolitischen Nationalismus gedeiht das Konzept einer rechten Kulturrevolution besonders prächtig.
In der postpolitischen Projektion werden alle Lebensbereiche vom »Streben nach Macht« und Hegemonie erfasst. Das heißt paradoxerweise, dass es in der Postpolitik zwar keine wirkliche Politik mehr gibt, aber auch gleichzeitig keine wirklich nichtpolitische Region des Lebens. Deswegen eben wird es nicht »unpolitisch«, sondern eben postpolitisch, wenn Fußballspiele, Fernsehmoderationen, Skandalnudeln oder Popstars als nationale, soziale und kulturelle Metaphernschleudern dienen. Denn in den sogenannten vorpolitischen Räumen – den eigentlichen Macht- und Konflikt­räumen der Postpolitik – wird verzweifelt nach dem verlorenen politischen Subjekt gesucht: »Die digitale Revolution ermöglicht der Menschheit eine Weiterentwicklung der Demokratie, bei der die Freiheit, die Grundrechte, vor allem die Meinungsfreiheit sowie die Mitbestimmungsmöglichkeiten jedes Einzelnen gestärkt werden können. Die Piratenpartei sieht es als ihre Aufgabe an, die Anpassung der gelebten Demokratie in der Bundesrepublik an die neuen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu begleiten und zu gestalten«, so geht es weiter im Piraten-Programm.

Der Einzelne hört in diesem Weltmodell nicht auf, nach seinen Mitbestimmungsmöglichkeiten zu verlangen. Wie ein aus der Polis vertriebener Mensch, der um erneuten Einlass bettelt oder gegen die Türen hämmert. Aber auch dieser Mensch, der nach »Mitbestimmung« verlangt, geht dem Konflikt mit der Macht aus dem Weg. Die Konflikte, denen man sich im Äußeren nicht stellen kann, brechen im Inneren wieder auf – als Spektakel der gescheiterten Repolitisierung für die postpolitischen Medien. Die Piraten müssen den Hauptwiderspruch der Postpolitik am eigenen Leib erfahren. Der Einzelne und die Polis lassen sich nicht durch »Mitbestimmung« allein wieder in ein demokratisches und humanistisches Modell zurückverwandeln. Ein politisches Subjekt kommt um die Machtfrage nicht herum.
Wäre also der Versuch einer teils demokratischen, teils libertär-anarchistischen Rückeroberung des politischen Raums durch ein margina­lisiertes politisches Subjekt unter den Bedingungen der Postpolitik gescheitert, wie sähe dann eine Post-Postpolitik aus? Ganz sicher nicht wie eine nostalgische und dogmatische Rückkehr zu einer Idee von Politik, wie sie (vielleicht) vorher einmal war. Die Verflüssigung der Polis ist so wenig rückgängig zu machen, wie die neuen Klassen – darunter jenes Prekariat, das den Kern der Auseinandersetzungen um die Postpolitik und ihre möglichen Grenzen ausmacht – ihren Kampf dort fortsetzen können, wo die alten ihn beenden mussten.
Ein neuer, linker Gramsciismus muss sich der postpolitischen Struktur einer Gesellschaft stellen, ohne ihr auf den Leim zu gehen. Die Postpolitisierung und der Protest dagegen sind nur sehr bedingt im Namen des Einzelnen zu verteidigen. Es ist die Polis selbst, die verändert werden muss. Von den Rändern her, vielleicht, aber auch: von Grund auf.