Der Roman »Ewiger Sabbat« von Grigori Kanowitsch

Über dem Abgrund

Das Motiv des »Luftmenschen« findet sich in den Werken zahlreicher jüdischer Autoren. Auch in dem jetzt wiederveröffentlichten Roman »Ewiger Sabbat« von Grigori Kanowitsch spielt es eine wichtige Rolle.

Mir träumte, ich bin ein Vogel, ich fliege am wolkenlosen Himmel über den Markt und den Kramladen, über die Synagoge und den Friedhof, und die Jungen aus dem Ort schießen mit Katapulten nach mir, und der lange Pessach, Lehrling beim Schaubudenbesitzer Zaddik, ruft: ›Daniel! Nicht so hoch! Sonst werden wir’s dir zeigen. Wohin fliegst du, du Dummer?‹«
Sich in die Luft zu erheben und die Enge des litauischen Schtetls hinter sich zu lassen, ist der Traum des jungen Daniel Kleinas’ in Grigori Kanowitschs 1979 auf Russisch erschienenem Debütroman »Ewiger Sabbat«. Die Verwandlung in einen Vogel, der dem elendigen Alltag eines jüdischen Halbwaisen und der am Horizont aufscheinenden Bedrohung durch Nazideutschland entfliehen kann, wird zum Traum des Protagonisten.
»Der Mensch«, pflegt seine Großmutter zu sagen, »kommt auf die Welt, um zu leiden. Wer nicht leidet, der ist kein Mensch.« Von diesem Leid ist Daniel Kleinas' Jugend in den dreißiger Jahren geprägt, und diesem Leid versucht er im Verlauf des 600seitigen, nun auf Deutsch vorliegenden Romans zu entkommen. Dabei bewahrt er sich seinen Optimismus, seinen melancholischen Humor und seinen Glauben daran, dass alles schon irgendwie gut enden, er irgendwann seine Liebe finden werde und die litauischen Juden ein glückliches Leben führen könnten.
Daniel Kleinas wächst bei den Großeltern auf, einem melancholischen Uhrmacher und seiner dominanten Ehefrau. Die Mutter ist früh verstorben, der Vater sitzt im Gefängnis und fällt nach seiner Entlassung als Mitglied der internationalen Brigaden im Kampf gegen Franco im Spanischen Bürgerkrieg. Mitte der dreißiger Jahre, als der Roman zeitlich einsetzt, ist Hitler für die Schtetl-Bewohner nicht mehr als ein fernes Gerücht, ebenso wie der Zionismus. Die fast 200 000 litauischen Juden lebten in der Zwischenkriegszeit, nachdem das Land 1918 zur unabhängigen Republik erklärt worden war, in mehr oder weniger friedlicher Nachbarschaft mit der nicht-jüdischen Bevölkerung; die antijüdische, sich in Pogromen entladende Stimmung im russischen Zarenreich, in Polen, Bessarabien und der Ukraine existierte in der Weise in Litauen nicht – was die nicht-jüdische Bevölkerung jedoch nicht davon abhielt, nach dem Einmarsch der Deutschen tatkräftig an der Shoah mitzuwirken. So wird es auch im Roman »Ewiger Sabbat« geschildert: Kaum sind die Deutschen auf dem Vormarsch gen Osten, gelten alte Freundschaften nicht mehr, bricht sich der Antisemitismus Bahn. »Wieder wir!« kommentiert Daniels Großmutter die zunehmenden Anfeindungen durch die litauische Mehrheitsgesellschaft und zählt all jene antisemitischen Stereotype auf, mit denen sie konfrontiert wird: »Wir sind Rebellen, wir sind Aufrührer, wir sind Diebe, wir sind Gauner, wir sind Schmarotzer, wir haben euren Christus gekreuzigt, wir gießen Blut in die Matze, wir verleiten zum Suff, entführen, betrügen, rauben … Wenn es keine Polizei gäbe, würden wir längst die Welt regieren!«
Nach dem Tod der Großeltern wird der Totengräber Josef Daniels Vormund und macht ihn zu seinem Assistenten auf dem jüdischen Friedhof. Während Daniel seine Pubertät durchlebt, seine erste und einzige große Liebe Judith kennenlernt und wieder verliert, rückt die Bedrohung durch die Nazis näher, während gleichzeitig auch die Ideen des Zionismus das kleine litauische Schtetl erreichen. Es entbrennen Diskussionen über die Assimilation und den Kampf um einen jüdischen Staat. Der Müllersohn Schendel Oisermann, der nicht ohne Grund von allen Jabotinsky genannt wird, steht für einen selbstbewussten Zionismus: »Wir dürfen die Hände nicht mehr in den Schoß legen. Wir müssen kämpfen.« Daniel selber hält sich aus politischen Diskussionen heraus, lässt sich aber dennoch dazu überreden, verbotene zionistische Flugblätter zu verstecken, wird ertappt und landet wie zuvor sein Vater im Gefängnis. Kurz zuvor hatte er angesichts des Todes seines Vormunds Josef und des Sterbens im gerade begonnenen Zweiten Weltkrieg traurig Abschied von seiner Jugend und seinem Friedhof genommen: »Ich weinte um alle Toten, um meine Großmutter, um meine Mama, um meinen Vormund Josef, um alle Vergifteten und Erschlagenen, ich beweinte alle Gräber, in denen soviel Gutes und Böses, so viele Hoffnungen und Niederlagen begraben sind.«
Nach Daniels Entlassung aus dem Gefängnis existiert sein Schtetl nicht mehr, von litauischen Helfershelfern der Nazis sind die Juden in einem Ghetto in der nächstgelegenen Stadt, vermutlich Vilnius, zusammengetrieben worden. »Ich schwimme mit dem Strom wie Treibholz, schwebe wie ein Vogel zwischen Himmel und Erde, derselben Erde, auf der jeden Tag etwas geschieht, und demselben Himmel, an dem nicht nur Engel, sondern auch Flugzeuge fliegen«, reformuliert er seine Utopie des freien Lebens als Vogel angesichts der politischen Realität. Daniels Hilflosigkeit gegenüber der Situation im Ghetto, in das auch er gebracht wird, verwandelt sich in eine imaginäre Rache, nachdem er mit ansehen muss, wie eine Jüdin von den Posten am Eingang des Ghettos gedemütigt wird: »Ich hob das Kleid auf. Ich hielt es in den Händen und schwor Rache: für sie, für mich, für den lachenden Deutschen und für jene Frau (…) der gemischte Chor der Lebenden und der Toten sang am Ghettotor ein Wiegenlied für unseren Mut.« Dieser Mut treibt Daniel an, bei dem waghalsigen Versuch mitzuarbeiten, jüdische Waisenkinder in einem Güllewagen aus dem Ghetto zu schmuggeln, bevor sie bei einer Selektion ausgewählt und deportiert werden. Die Aktion gelingt, das Schicksal Daniels und der anderen Ghettobewohner jedoch bleibt im Ungewissen.
Grigori Kanowitschs Roman endet mit der leisen Hoffnung Daniels, seine geliebte Judith noch einmal wiederzusehen, die Gerüchten zufolge unter falschem Namen in der Stadt wohnen soll. Ein letzter Hoffnungsschimmer, der das folgende, von Kanowitsch nicht mehr erzählte tragische Ende der jüdischen Schtetlbewohner umso beklemmender erscheinen lässt: Das Ghetto in Vilnius wurde im September 1943 aufgelöst, die nicht bereits vorher exekutierten oder an Hunger und Krankheiten verstobenen Juden wurden in verschiedene Konzentrationslager deportiert. Von den 200 000 litauischen Juden überlebten nur knapp zehn Prozent, darunter auch prominente wie Menachim Begin und Grigori Kanowitsch.
Der 1929 als Sohn eines jüdischen Schneiders in einem Schtetl bei der Stadt Kaunas geborene Kanowitsch konnte nach Kasachstan fliehen, kehrte nach Ende des Krieges nach Vilnius zurück und lebt heute in Israel. »Ich bin kein jüdischer Schriftsteller, weil ich Russisch schreibe, kein russischer Schriftsteller, weil ich über Juden schreibe, und kein litauischer Schriftsteller, weil ich nicht Litauisch schreibe«, beschreibt Kanowitsch sein künstlerisches Leben zwischen allen Stühlen. Dem litauischen Judentum hat er mit seinem Werk, insbesondere mit »Ewiger Sabbat«, ein Denkmal gesetzt, er schildert das Leben im Schtetl wie auch den grausamen Alltag im Ghetto. Dass sich in diesem Werk unzählige Verweise auf die Verwandlung in Vögel, auf die Utopie des Schwebens finden, ist dabei kein Zufall. Das Bild des »Luftmenschen« ist eines der zentralen literarischen und künstlerischen Motive des osteuropäischen Judentums. »Ewiger Sabbat« reiht sich in eine lange Motivgeschichte ein, die erst mit der Shoah und Paul Celans »Grab in den Lüften« ihren literarischen Abschluss fand.
»›Ich will kein Uhrmacher werden, sondern ein Vogel‹, sagte ich. ›Du bist meschugge, Daniel. Der erste Meschuggene in unserer Familie‹, erwiderte Großvater gutmütig.« Daniels Traum, als Vogel den Zwängen, dem ärmlichen Leben im Schtetl und der zunehmenden Bedrohung durch den anwachsenden Antisemitismus zu entschweben, mag meschugge sein, geteilt haben ihn jedoch unzählige jüdische Autoren Osteuropas. Theodor Herzl sprach vom Judentum als »schwebendem Proletariat«, in Franz Kafkas Fabelfragment »Forschungen eines Hundes« geht das Gerücht um, es gebe Hunde, die des Fliegens mächtig sind, was den Neid des Hunde-Erzählers hervorruft, in den »Zimtläden« des galizisch-jüdischen Autoren Bruno Schulz versucht der Vaters des Erzählers, sich durch die Verwandlung in einen Vogel von den gesellschaftlichen und körperlichen Zwängen zu befreien, und Paul Celan schreibt in einem Gedicht seines Bandes »Atemwende«: »In der Luft, da bleibt deine Wurzel, da,/in der Luft«. Luftwurzeln statt Blut und Boden; auch Autoren wie Joseph Roth oder Isaak Babel und Künstler wie Marc Chagall oder Chaim Soutine griffen dieses Bild des Luftmenschen auf, und Max Nordau schreibt in seinen »Zionistischen Schriften«: »Viele Luftmenschen geben zusammen ein Luftvolk. In der Tat, das jüdische Volk ist ein Luftvolk. Buchstäblich, denn es hat keinen Fußbreit eigenen Bodens und hängt vollständig in der Luft.« In der Utopie des nicht-verwurzelten Menschen, in dessen vermeintlicher Freiheit von den Zwängen einer heimatlichen Verwurzelung, schwang jedoch immer auch eine Gefahr mit: Jederzeit war die antisemitische Realität in der Lage, Juden den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Die Metapher des Luftmenschen ist im 19. Jahrhundert entstanden und hat viele Bedeutungen: Sie ist einerseits eine jüdische Selbstbeschreibung der eigenen prekären ökonomischen Situation, eines Lebens »von der Hand in den Mund«, von nicht-jüdischer Seite ein antisemitischer Vorwurf der Wurzellosigkeit. Gleichzeitig steckt in dem Bild auch eine Hoffnung auf die Veränderung der Verhältnisse – die Hoffnung, der Armut durch ein Wunder oder einen Zufall zu entkommen, zu entschweben. Das Schweben, Nicht-Verwurzeltsein birgt die Möglichkeit einer Unabhängigkeit von religiösen wie gesellschaftlichen Zwängen.
Daniel Kleinas kommt in »Ewiger Sabbat« immer wieder auf dieses Bild zurück. »Auf einmal entsann ich mich meines fernen Kindertraumes – ein Vogel zu werden. Und dieser Traum schien mir nicht mehr so töricht wie früher. Wenn Gott wirklich existierte, so sollte er uns doch in Gefiederte verwandeln, jedem von uns einen Schnabel und ein Paar Flügel verleihen, und wir würden davonfliegen«, malt er sich aus, als die Deutschen auf Litauen zumarschieren. Doch selbst diese Utopie eines Lebens als Vogel, als Luftmensch, wird von den Nazis gestört. »Wird nicht auch auf Vögel geschossen? Vielleicht gibt es auf der Welt jüdische und nichtjüdische Vögel? Die einen haben Flügel mit gelbem Kennzeichen, die anderen einfach Flügel«, denkt Daniel.
»Die Juden haben nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof«, schreibt Joseph Roth. Die Sehnsucht nach einer Heimat lässt auch Daniel nicht los. Irgendwann beginnt er an der Utopie des wurzellosen Schwebens zu zweifeln und überlegt: »Früher wollte ich immer ein Vogel werden, aber jetzt möchte ich gern ein Baum werden. Und alle, die mir nahestehen, müssten auch Bäume werden. Vielleicht hörte dann unser Umherwandern und Getriebensein auf.« Eine nachvollziehbarer Wunsch angesichts des real erfahrenen Getriebenseins. Der Autor Grigori Kanowitsch hat seine Luftwurzeln mit seiner Frau Olga in Israel geschlagen, für den Protagonisten Daniel bleibt nur die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner Jugendliebe Judith, die einst den gleichen Traum teilte wie er: Schwebend den Zwängen, der antisemitischen Realität und der Enge des Schtetls zu entkommen: »›Wir beide gehen arm wie die Bettler fort‹, sagte sie. ›Wir stehen beizeiten auf und gehen zu Fuß los. Dann nimmt uns ein Fuhrwerk mit. Und dann fliegen wir!‹ ›Fliegen – wie denn?‹ ›Ganz einfach. Mit Flügeln. Die Liebe verleiht doch Flügel‹, sagte Judith und bewegte die Arme wie Flügel.«

Grigori Kanowitsch: Ewiger Sabbat. Aus dem Russischen von Waltraud Ahndt. Die Andere Bibliothek, Berlin 2014, 603 Seiten, 38 Euro