Ein Porträt von Bodo Ramelow

Boss der Genossen

Bodo Ramelow könnte nach der Thüringer Landtagswahl im Herbst der erste Ministerpräsident der Linkspartei werden. Bei einigen SPD-Mitgliedern sorgt das für Panik.

Bodo Ramelow hat sich gut vorbereitet. Der Brilli im linken Ohrläppchen ist längst verschwunden, die spitz nach oben gegelte Haartolle hat er gegen einen braven Seitenscheitel ausgetauscht und auch ansonsten ist der 58jährige um ein Höchstmaß an Seriosität bemüht. »Keiner im Land gibt sich so präsidial wie er, der Fraktionschef der Linken im Landtag«, bescheinigte ihm unlängst die Zeit. Denn Ramelow will hoch hinaus. Am 14. September ist Landtagswahl in Thüringen. Wenn ­alles nach seinem Plan läuft, wird er der erste Ministerpräsident der Linkspartei sein. Es ist seine letzte Chance.

Seit der Wiedervereinigung wird Thüringen ununterbrochen von der CDU regiert, mal alleine, mal in Koalitionen mit der FDP oder der SPD. Die PDS, die heutige Linkspartei, hat in dieser Zeit ihren Stimmenanteil von Wahl zu Wahl steigern können, von 9,7 Prozent 1990 auf 27,4 Prozent 2009, als sich Ramelow auch schon fast in der Staatskanzlei sah. Doch die mit 18,5 Prozent wesentlich kleinere SPD wollte auf keinen Fall ein Mitglied der Linkspartei zum Ministerpräsidenten wählen und entschied sich für die Koalition mit der Union. Dabei hatte Ramelow zum Schluss der Sondierungsgespräche sogar auf seinen Anspruch auf das Ministerpräsidentenamt verzichtet und einen gemeinsamen Personalvorschlag angeboten.
Nach der jüngsten Meinungsumfrage von Infratest dimap liegt die CDU zwar mit 36 Prozent deutlich vorne. Aber bei 27 Prozent für die Linkspartei, 19 Prozent für die SPD und sechs Prozent für die Grünen könnte es rechnerisch wieder für eine rot-rote oder eine rot-rot-grüne Koalition reichen. Diesmal scheinen allerdings die Aussichten besser zu sein, um das »reformorientierte Lager«, wie Ramelow es nennt, in einem Bündnis zusammenzuführen. Zum einen ist die schwarz-rote Regierung tief zerstritten. Zum anderen schließt die SPD einen Regierungschef von der Linkspartei nicht mehr grundsätzlich aus, auch wenn Spitzenkandidatin Heike Taubert unablässig betont, sich selbst für die bessere Alternative zu halten. Die Grünen könnten ebenfalls dazu bereit sein. »Ein vertrauensvolles Klima ist seit längerer Zeit von allen dreien vorbereitet worden«, gibt sich Ramelow zuversichtlich. Da es um Landes- und nicht die große Weltpolitik geht, sind die programmatischen Ähnlichkeiten ohnehin groß. Außerdem lässt Ramelow keinen Zweifel daran, dass er zur Erfüllung seines Traums zu allerlei Konzessionen bereit ist. Nur zu einer nicht: Er werde der SPD »kein zweites Mal das Amt des Ministerpräsidenten anbieten, wenn wir mehr Wählerstimmen einbringen«.
Auf ideologische Abgrenzungen hat Ramelow noch nie großen Wert gelegt. Er ist zwar überaus selbstbewusst, kann aufbrausend und herrisch sein. Auch dass er besonders gut mit Kritik umgehen könne, wäre eine Unterstellung. Gleichwohl ist er Pragmatiker durch und durch. Selbst mit der CDU könne er »bei bestimmten Themen wunderbar zusammenarbeiten«, sagt er. Mit der CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht duzt er sich. Die Spitzen der drei großen Parteien, die Anspruch auf das Ministerpräsidentenamt erheben, gehören einer Generation an. Ramelow ist rund zwei Jahre älter als Lieberknecht und Taubert. Alle drei sind verheiratet, haben jeweils zwei Kinder und sind evangelisch. Wobei vieles dafür spricht, dass Ramelow in Sachen Frömmigkeit die studierte Theologin Lieberknecht über­flügelt. Repräsentativ sind sie mit ihrer Gläubigkeit nicht. Wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern bekennen sich in Thüringen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung zu keiner Religionsgemeinschaft.
Ein großer Unterschied besteht zu seinen Konkurrentinnen: Ramelow ist gebürtiger Westdeutscher, was an seinem Auftreten und seinem Politikstil bis heute unschwer zu erkennen ist. Das unterscheidet ihn auch von den Spitzenkandidaten der Linkspartei in Sachsen und Brandenburg, wo dieses Jahr ebenfalls gewählt wird. Rico Gebhardt und Christian Görke stammen aus der SED, Ramelow aus der gewerkschaftlichen Linken der alten Bundesrepublik.
Als jüngstes von vier Kindern wurde Ramelow 1956 im niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck in ein protestantisches Elternhaus geboren. Die Mutter studierte Hauswirtschaftsleiterin, der Vater stammte aus einer alten Kaufmannsfamilie. Er verstarb früh an den Folgen einer Kriegsverletzung. Nach dem Tod des Vaters zog die Familie erst nach Rheinhessen, dann an die Lahn zwischen Gießen und Marburg. Ramelows schulische Laufbahn war kompliziert. Die Hauptschule schloss er nach der neunten Klasse mit einem nicht gerade überragenden Zeugnis ab. Besonders seine schriftlichen Noten waren lausig. Woran das liegen könnte, dafür hatten seine Lehrer eine schlichte Erklärung: Er sei »hoch intelligent, aber stinkend faul«, attestierten sie ihm. Es folgte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann bei Karstadt, mit einer Fachausbildung Wild und Geflügel. Wie es sich damals gehörte, trat er als Lehrling in die Gewerkschaft ein. Ab 1974 drückte Ramelow wieder die Schulbank. Auf einer Berufsaufbauschule in Marburg schaffte er die Mittlere Reife. Inzwischen hatte ein Schulpsychologe erkannt, was der Grund für die großen Schreibprobleme war: Ramelow ist Legastheniker. Zu kämpfen hat er damit bis heute, weshalb er auch das Tagebuch auf seiner Website schreiben lässt.
Mit 17 Jahren begann bei Ramelow eine, wie er es nennt, »schleichende Politisierung«. Sie führte ihn in den Dunstkreis der DKP. Was in Marburg nicht ganz so exotisch war wie im Rest der alten BRD. Schließlich galt die kleine hessische Universitätsstadt seinerzeit als westdeutsche Hochburg der Apologeten des »real existierenden Sozialismus«. Die durchaus ausstrahlungskräftige orthodox-marxistische »Marburger Schule« um den 1961 aus der SPD ausgeschlossenen linkssozialistischen Politologen und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth sowie seine mit der DKP-verbandelten Schüler Frank Deppe, Reinhard Kühnl und Georg Fülberth hatte den Ruf einer »roten Kaderschmiede« und verstand sich als intellektuelle Speerspitze der Arbeiterbewegung im Kampf gegen den staatsmonopolistischen Kapitalismus. Im Stadtparlament war die DKP trotz damals noch existierender Fünf-Prozent-Hürde von 1972 bis 1993 kontinuierlich vertreten. Ihr bestes Ergebnis erzielte sie 1977: stolze 10,3 Prozent. Im selben Jahr erwarb Ramelow an der Fachoberschule Marburg die kaufmännische Fachhochschulreife.
Nach einem vierjährigen Ausflug in die berufliche Praxis wurde Ramelow 1981 Sekretär bei der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) in Mittelhessen. Trotz fehlender SPD-Mitgliedschaft, was zur damaligen Zeit höchst ungewöhnlich war. Er habe »immer freundlich den SPD-Aufnahmeschein hingelegt« bekommen, erzählte Ramelow vorige Woche im ZDF von »dieser seltsamen westdeutschen Unart«. Er sei jedoch »ein ziemlich sturer Mensch: Wenn ich etwas tun soll, was ich absolut nicht will, dann tue ich’s nicht.« SPD-Mitglied wollte er jedenfalls auf keinen Fall werden. Er blieb lieber parteilos.
Ein Jahr nach seiner Bestellung zum Gewerkschaftssekretär heiratete Ramelow das erste Mal. Die Hochzeitanzeige veröffentlichte er im DKP-Zentralorgan Unsere Zeit. Sie wird sich später in den Akten des Verfassungsschutzes (VS) wiederfinden. Auch ein Gastkommentar im örtlichen DKP-Blättchen Marburger Echo entging den Spürnasen des Inlandsgeheimdienstes nicht, ebenso wenig wie mehrfache Solidaritätsbekundungen für das Berufsverbotsopfer Herbert Bastian. Der Posthauptschaffner war »aus dem Dienst entfernt« worden, weil er für die DKP im Stadtparlament saß. Aus Empörung über den Umgang mit Bastian unterzeichnete Ramelow 1985 sogar einen Aufruf zur Wahl der Marburger DKP-Liste. Parteimitglied wurde er jedoch nie: Die DKP war ihm zu dogmatisch. Trotzdem legte der VS eine Personenakte an – ein rechtswidriger Vorgang, wie das Verwaltungsgericht Köln 2009 rechtsgültig feststellte. Die Erhebung personenbezogener Informationen in einer Personenakte ausschließlich »wegen seiner Nähe zur DKP« sei unverhältnismäßig.

In seiner politischen Sozialisation unterscheidet sich Ramelow nicht besonders von anderen Westdeutschen in der Linkspartei – zumindest bis 1990. In diesem Jahr ging er als gewerkschaftlicher Aufbauhelfer gen Osten. Er wurde HBV-Landesvorsitzender in Thüringen. Damit begann seine zweite, seine ostdeutsche Karriere. Während er sich für den Erhalt von Arbeitsplätzen, bessere Löhne und gegen Rechtsextremismus engagiert, sammelt der VS weiter Material. Als Ramelow 1999 das Angebot der PDS annimmt, auf Platz 2 ihrer Liste für die Landtagswahl zu kandidieren, veröffentlicht die CDU-Vereinigung Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) in Thüringen ein abenteuerliches Pamphlet über die »PDS-Arbeit gegen den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB)«, das insbesondere in den Passagen über Ramelow so klingt, als hätte es der VS dem Autor in den Block diktiert. Unter dem Pseudonym »Peter Christian Segall« wurde die 30seitige Broschüre vom »Extremismusforscher« Patrick Moreau verfasst, der auf Honorbasis mehrfach für den VS tätig war und auf dessen treue antilinken Dienste sowohl die Konrad-Adenauer- als auch die Hanns-Seidel-Stiftung jahrelang immer wieder gerne zurückgriff.
Mit seiner Kandidatur für den Thüringer Landtag endete Ramelows parteilose Zeit. Die Bespitzelung durch den VS jedoch nicht, wie 2003 herauskam. Ramelow wehrte sich dagegen durch alle juristischen Instanzen. Letztlich mit Erfolg, in einer Grundsatzentscheidung erklärte das Bundesverfassungsgericht im September 2013 die Überwachung für unzulässig. »Die langjäh­rige Beobachtung des Beschwerdeführers einschließlich der Sammlung und Speicherung der gewonnenen Informationen genügt den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht«, befanden die Richter. »Ich gebe zu, dass ich heute geweint habe«, kommentierte Ramelow das Urteil.

Sollte es ihm gelingen, tatsächlich erster Ministerpräsident der Linkspartei zu werden, würde er »daraus keine große Sache machen«, hat Ramelow angekündigt. Das ist auch nicht nötig, das übernehmen schon andere. In einem am Wochenende veröffentlichten Brandbrief beschwören mehrere frühere SPD-Bundestagsabgeordnete den Untergang des Abendlands, falls es so weit kommen sollte. Thüringen könne und dürfe »nicht das Labor für dramatische politische Experimente in Deutschland sein«, warnen Stephan Hilsberg, Gunter Weißgerber, Rainer Fornahl, Ernst Bahr und Sabine Kaspereit ihre Thüringer Parteifreunde vor einer Wahl Ramelows. »Soll ein linker Ministerpräsident tatsächlich die Hoheit über die thüringische Polizei, über die Bildung der Thüringer Schülerinnen bekommen und großen Einfluss über den Bundesrat auf die Außenpolitik erhalten?« Eine Koalition der SPD mit der Linkspartei wäre »eine Breitseite gegen die Intention des Grundgesetzes«, fabulieren die fünf Genossen: »Ihr verwischt um eines fragwürdigen Vorteiles willen die Grenzen zwischen freiheitlich-demokratischen und restaurativ-systemverändernden Parteien.« So gefährlich hatte selbst der Verfassungsschutz Ramelow nie gemacht. Dessen knappe Reaktion: »Offenbar ist der Kalte Krieg noch nicht überall zu Ende.«