Beatet Bestes. Folge 252.

Eklat im Swing-Camp Berlin

Das 1982 erstmalig mit einer Handvoll Leuten veranstaltete Swing-Camp im schwedischen Küstendorf Herräng hat sich zum weltweit größten seiner Art gemausert und damit maßgeblich zur Wiedererweckung des LindyHops und anderer Jazztänze beigetragen. Insbesondere die Initiative von Mitbegründer Lennart Westerlund, der Anfang der achtziger Jahre nach New York reiste, um die völlig in Vergessenheit geratenen ehemaligen LindyHop-Profitänzer Al Minns und Frankie Manning als Tanzlehrer zu gewinnen, führte dazu, dass sich der akrobatische Showtanz zum Social Dance entwickelte.
Mittlerweile tanzen Tausende von Swingtänzern aus aller Welt jeden Sommer fünf Wochen lang bis in die frühen Morgenstunden im Herräng Dance Camp. Allerlei kuriose Spiele und Kostümfeste machen das Camp zu einer exzentrischen Veranstaltung innerhalb der mitunter biederen Swingtanzszene. Auf jedem Rockfestival dieser Größenordung gibt es Schlägereien und Übergriffe, in Herräng hingegen sind Frauen in der Überzahl, es wird nur wenig Alkohol getrunken und alle sind bemüht, Spaß zu haben. Es fehlt an Drama. Bis gestern Abend.
Auf dem täglich um neun Uhr stattfindenden Meeting, einer Mischung aus Show- und Informationsveranstaltung, betrat der 56jährige Lennart Westerlund in seiner Eigenschaft als Moderator die Bühne und setzte sich wie üblich auf seinen kleinen Schemel. Statt eines Second-Hand-Anzugs trug Lennart Straßenkleidung. Er begann, die Geschichte des Camps und des LindyHop-Revivals zu erzählen, die mit seiner Person so untrennbar verbunden ist. Und dann zeigte er einen Flyer, den jemand an einigen Stellen des Camp ausgelegt hatte. Auf dem Flyer wird behauptet: Lennart Westerlund sei ein Unterstützer der rechtspopulistischen schwedischen Sverigedemokraterna Partei und der schwedischen Nazis. Dann verkündete er seinen Rücktritt von allen Ämtern und verließ die Bühne. Es ist ein schlechter Scherz, ausgerechnet den Mann, der sich mehr als 30 Jahre für afroamerikanische Kultur eingesetzt hat, zu verdächtigen, ein Rassist zu sein. Trotzdem machte sich Verunsicherung breit, kaum dass er das Swing-Dorf verlassen hatte. Intern wird vermutet, dass Westerlund sowieso schon länger keine Lust mehr auf das Camp gehabt und nur einen Anlass gesucht habe, um den Job hinzuwerfen. Die Denunziation, er sei ein Rechter, habe das Fass zum Überlaufen gebracht.
Mich und meine Freundin erreichte die Nachricht von Westerlunds Abgang während einer Grillparty auf der Terrasse des Ferienhauses. Spontan gingen wir zum Folkets Huset, dem Gemeindehaus von Herräng und dem Zentrum des Camps. Im Stillen hatten wir erwartet, dass die Zeit stehen bleiben würde. Oder dass es zumindest einen Moment des Innehaltens geben würde, jetzt da der Kapitän das Schiff verlassen hatte. Stattddessen spazierten Gruppen von aufgebrezelten Tänzern an uns vorbei, um zu tanzen. Demonstrativ verharrten wir auf unserem Platz, bis uns ein Tanzlehrer aggressiv anwies, wir sollten gefälligst auch tanzen oder ins Bett gehen. Es gebe keinen Platz für Politik in Herräng. The party must go on. Wir ließen uns nicht vertreiben, aber anschließen wollte sich uns auch niemand. Die anderen gingen tanzen. Wir gingen nach Hause. Eine Diskussion fand nicht statt.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.