Die Offensive in der Ostukraine geht weiter

Wahlkampf im Krieg

Die ukrainische Regierungsoalition hat sich aufgelöst, die Offensive in der Ost­ukraine geht weiter.

Es war nur eine Frage des Zeitpunkts. Innerhalb weniger Tage erfolgte vorige Woche im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, erst die Auflösung der Fraktion der Kommunistischen Partei, dann erklärten die Parteien der Regierungskoalition Udar, Swoboda und Batkiwschtschina der Reihe nach ihren Austritt und am Freitag verkündete schließlich Ministerpräsident Arsenij Jatsenjuk seinen Rücktritt. Damit ist der Weg frei für vorgezogene Parlamentswahlen, die aller ­Voraussicht nach am 26. Oktober stattfinden werden. Allerdings darf nach ukrainischer Gesetz­gebung erst nach Ablauf eines Monats eine neue Regierungskoalition gebildet werden, nach dieser Frist erst kann Präsident Petro Poroschenko, der diesen Schritt schon nach seinem Wahlsieg angekündigt hatte, die Rada vollständig auflösen. Dass sich die Partei der Regionen bis dahin mit anderen Fraktionen zusammenschließt, um die nötige Regierungsmehrheit zusamenzubringen, ist mehr als unwahrscheinlich. Demnach ist der Wahlkampf eröffnet.
Der ukrainischen Rada muss keine Träne nachgeweint werden. In ihrer bisherigen Form stellt sie kaum mehr als eine Lobbyvertretung diverser ukrainischer Business-Clans dar. Als der Maidan noch als politisch bedeutende Größe existierte, ertönte von dort lautstark die Forderung nach Neuwahlen. Schließlich stimmten die jetzigen Abgeordneten Mitte Januar für das vom damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch initiierte Gesetzesvorhaben, das die Einschränkung des Versammlungsrechts und diverse andere repressive Maßnahmen vorsah. Die Kommunistische Partei (KPU) hielt bei der späteren Abstimmung über die Rücknahme einiger der Gesetze als einzige an der Verschärfung der Gesetzgebung fest.
Bei aller Kritik an der KPU erscheint das offiziell angekündigte Verbotsverfahren gegen die Partei wegen der Unterstützung Aufständischer in der Ostukraine durch Geld und Waffen eher als Racheakt, der der Abschreckung dienen soll. Zu offensichtlich ist die machtpolitische Dimension des Verbots, das Petroschenko in der neuen Rada einen größeren Rückhalt verschaffen könnte als das gute Drittel der Abgeordneten, auf das er sich bisher stützen kann. Andererseits verfügte die KPU bislang hauptsächlich auf der Krim und in der Ostukraine über eine starke Wählerbasis, eine ernsthafte Konkurrenz ist die Partei also nicht. Außerdem stellt die für die Auflösung festgelegte Mindestanzahl an Abgeordneten für eine Fraktionsbildung auch für andere Parteien ein Risiko dar.
Jatsenjuk begründete seinen Rücktritt mit der Unmöglichkeit, politische Reformen zu beschließen, die dem Staatshaushalt zu Einnahmen verhelfen sollen. Durch die Auflösung der Koalition, die Jatsenjuk ins Amt gebracht hat, bietet sich ihm nun eine günstige Gelegenheit für eine Pause. Dabei stehen mangels relevanter Konkurrenz seine Chancen nicht schlecht, über kurz oder lang seinen Posten wiederzuerlangen. Hinzu kommt, dass das Parlament einem Rücktrittsantrag des Ministerpräsidenten zustimmen muss, und es ist nicht sicher, dass die Abgeordneten Jatsenjuks taktischen Rückzug befür­worten.
Offenbar ist Jatsenjuk nicht gewillt, ohne entsprechenden Rückhalt in der Rada die Verantwortung für einschneidende Reformen zu übernehmen. Oder aber er ist nicht bereit, seine jüngste Niederlage einzugestehen, denn am selben Tag fand der teilweise Verkauf des ukrainischen Gastransportsystems an ausländische Investoren keine Mehrheit in der Rada. Zu den weiteren Regierungsplänen gehören die Abschaffung von Steuervergünstigungen für Großunternehmen und starke Kürzungen bei den Sozialausgaben. In seiner jetzigen Zusammensetzung wird das Parlament derartige Vorhaben, die zu einer Schmälerung der Gewinnrate der repräsentierten Oligarchen beitrügen, zu verhindern wissen. Gleichzeitig kann sich die Bevölkerung jetzt schon auf ungemütliche Zeiten nach den Wahlen einstellen. Zumal der als »Antiterroroperation« geführte Krieg im Osten zusätzliche Ressourcen verschlingt.
Der immer noch unaufgeklärte Abschuss der malaysischen Passagiermaschine mit der Flugnummer MH17 belastet die Beziehungen der Ukraine zu Russland zusätzlich. Vertreter der USA und der Europäischen Union äußerten über das bisherige Maß hinausreichende heftige Kritik an der russischen Regierung, die mit erneuten Sanktionen einhergeht. Die USA suchen mit allen Kräften nach einem Beweis für die Schuld Russlands, bleiben damit bislang jedoch weitgehend erfolglos. Dokumentiert ist hingegen der Beschuss ukrainischer Militäreinheiten von russischem Territorium aus.
Es dauerte mehrere Tage, bis sich der russische Präsident Wladimir Putin zu einer öffentlichen Stellungnahme durchrang, die weit weniger angriffslustig als gewöhnlich, ja fast schon defensiv klang. Er wolle sich verstärkt um eine Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt bemühen und seine Autorität gegenüber den aufständischen Kräften in den »Volksrepubliken« von Donezk und Luhansk geltend machen. Von Putins Auftritt im russischen Sicherheitsrat in der vergangenen Woche erwarteten Beobachter eine richtungsweisende Geste, zumal als wichtigstes Thema die äußere Bedrohung Russlands auf der Tagesordnung stand. Aber der Abschuss der Boeing und der Tod von 298 an den bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ostukraine völlig unbeteiligten Menschen scheint den Präsidenten zur Mäßigung genötigt zu haben. Wider Erwarten sagte Putin, es existiere derzeit gar keine militärische Bedrohung der Souveränität und territorialen Integrität Russlands. Streitfragen müssten ausschließlich auf diplomatischem Wege beigelegt werden.

Allerdings gebe es ernst zu nehmende Versuche, Russland von innen heraus zu destabilisieren, so Putin, ähnlich wie durch die »farbigen Revolutionen« in anderen Ländern. Dafür würden neben Geheimdienstaktivitäten insbesondere »handzahme Nichtregierungsorganisationen« genutzt, worauf in »angemessener Weise reagiert« werden müsse. Anders als in der Ukraine trügen diese Versuche, so der Präsident, in Russland jedoch keine Früchte.
Dafür sorgen die russischen Strafverfolgungsbehörden und der Verwaltungsapparat. Am Donnerstag vergangener Woche verurteilte ein Moskauer Gericht die sogenannten Rädelsführer der Ausschreitungen vom 6. Mai 2012, denen die Organisation von Massenunruhen vorgeworfen wurde. Sergej Udaltsow, einer der führenden Vertreter der Linksfront, und Leonid Razwozzhajew, ebenfalls in dem linken Zusammenschluss aktiv, wurden nach einem monatelangen Prozess, der mit einem rechtsstaatlichen Justizverfahren nicht das Geringste gemein hatte, zu vier Jahren und sechs Monaten Lagerhaft verurteilt.
Gleichzeitig nutzte das Justizministerium seine unlängst erweiterten Vollmachten und trug kurzerhand fünf weitere missliebige Menschenrechtsorganisationen in das Register für sogenannte ausländische Agenten ein. Dabei kann Putin bei der Bevölkerung auf weitreichendes Verständnis bauen. Bislang schweißen die Ereignisse in der Ukraine die russische Gesellschaft gegenüber wie auch immer identifizierten Bedrohungen auf eine Art und Weise zusammen, von der eine Regierung in Zeiten ökonomischer Krisen nur träumen kann. Um diesen Korpsgeist aufrechtzuerhalten, sind allerdings immense Anstrengungen vonnöten – und ein faktisches Staatsmonopol im Medienbereich, das die öffentliche Meinung weitgehend steuern kann. Hinsichtlich des Flugzeugabschusses in der Ostukraine absolvierten die Staatsmedien ihre Aufgabe mit Bravour: Die Behauptung, es handle sich um eine gezielte Provokation der ukrainischen Regierung gegen Russland bedarf keiner weiteren Erklärung, so plausibel scheint sie.

Widersprüchlich äußerten sich hingegen die aufständischen Kräfte im Donbass. Bislang hatten alle Anführer den Vorwurf von sich gewiesen, über die Waffentechnik zu verfügen, die für einen Abschuss in mehr als 10 000 Meter Höhe nötig ist. Dann ließ sich einer ihrer einflussreichsten militärischen Kader, Alexander Chodakowskij vom Bataillon Wostok, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters zu der Aussage verleiten, im Besitz der »Volksverteidigung« befinde sich mindestens ein Flugabwehrraketensystem. In dem Interview wies er zudem auf die unzureichende Koordination zwischen den unterschiedlichen separatistischen Kampfverbänden hin. Die Kommunikation erfolge sporadisch, weshalb man über das Vorgehen anderer Einheiten und insbesondere deren Waffenausstattung jeweils nur unzureichend informiert sei. Die ukrainische Armee habe im Übrigen Kenntnis von dem Flug­abwehrraketensystem gehabt und prorussische Aufständische zu einem Einsatz provoziert.
Alexander Borodaj, Moskauer Polittechnologe und Ministerpräsident der Donezker »Volksrepublik«, dementierte gegenüber der BBC Chodakowskijs eigenmächtiges Eingeständnis. Veröffentlichte Mitschnitte eines Telefongesprächs deuten zudem auf zunehmende Probleme im separatistischen Lager hin. Borodaj beklagt sich darin bei seinem Moskauer Ansprechpartner, Aleksej Tschesnakow – bis zu seinem Austritt im vergangenen Jahr zählte er zu den führenden Kadern der Partei Einiges Russland –, über hohe Ausgaben, die dieser mit einer Zahlung über »den üblichen Kanal« zu tragen verspricht. Abstrus muten Tschesnakows Anweisungen an, Borodaj habe dafür zu sorgen, dass der militärische Anführer der Separatisten, Igor Strelkow, Putin öffentlich als »Oberbefehlshaber« seine »Hochachtung« bezeugt.
Derweil nimmt die Heftigkeit der Kämpfe am Stadtrand von Donezk zu. Ein Erfolg wäre es für die »Volksrepubliken« bereits, wenn sie bis zu den Parlamentswahlen durchhalten könnten. Aber der Preis für den Krieg wird höher. Je länger die ukrainische Regierung auf einer Militärstrategie beharrt, die unweigerlich zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führt, desto größer die Abneigung in den abtrünnigen Regionen. Der Hass auf die Zentralregierung übersteigt die ebenfalls weit verbreitete Ablehnung der »Volksrepubliken«. Diese können mit einem Zuspruch von höchstens einem Drittel der lokalen Bevölkerung rechnen, dieses Drittel aber steht fest hinter der bunt zusammengewürfelten Truppe.