Der Kampf der Flüchtlinge der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«

Wartestadt Hamburg

Seit März 2013 kämpft die Gruppe »Lampedusa in Hamburg« für ein humanitäres Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis in Deutschland. Die gesellschaftliche Unterstützung für die rund 300 Flüchtlinge ist groß, doch der Senat zeigt sich uneinsichtig – trotz durchaus vorhandener Möglichkeiten.

»Einen Augenblick«, sagt Asuquo Okono Udo und ist gleich wieder weg, um eine junge Frau mit Kinderwagen herzlich zu begrüßen. Sie steht direkt gegenüber vom gläsernen Busbahnhof und hält ein Schwätzchen im Schatten an diesem heißen Juli-Tag. Seit April 2013 vergeht kaum ein Tag, an dem Udo nicht an dem kleinen Platz am U-Bahn-Ausgang Steindamm vorbeischaut. Dort steht das geräumige weiße Zelt der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«. Ein Transparent hängt auf der Zeltbahn: »Lampedusa in Hamburg. Victims of Nato War 2011 in Lybia«, ist darauf zu lesen – darunter steht der Satz, der die Gruppe in der Stadt sowie in ganz Deutschland bekannt gemacht hat: »We are here to stay.« Udo ist einer der drei Sprecher der 300köpfigen Gruppe, die im März und April 2013 aus Italien in Hamburg ankam. »Mit Fahrkarten, etwas Reisegeld und der Hoffnung auf einen Neuanfang«, sagt der 49jährige Journalist aus Nigeria.
Asuquo Okono Udo, ein Mann mit sorgsam rasierter Glatze und optimistisch blickenden Augen, kämpft immer noch für den Neuanfang. »Wir wollen uns einbringen, wollen arbeiten und unseren Teil beitragen«, sagt er. Gerne würde er wieder als Journalist arbeiten. Ein paar Artikel, vier um genau zu sein, hat er als Referenz dabei. Einer beschäftigt sich mit Menschenhandel in Nigeria, ein anderer mit Kindern, für die erst gar keine Papiere ausgestellt wurden. Brisante Themen, mit denen sich der Lokaljournalist beschäftigt hatte, bevor er nach Libyen ging, um dort als Handwerker zu arbeiten. Acht Jahre lang, dann kamen die Bomben und in Tripolis begannen die Massaker. Udo floh, wie viele andere Gastarbeiter in Muammar al-Gaddafis Diensten, nach Norden – über das Mittelmeer nach Italien. 55 000 afrikanische Migranten sollen diesen Weg genommen haben – Flüchtlinge eines Kriegs, in dem die Nato Luftangriffe auf Tripolis flog.
Asuquo Okono Udo hat den Krieg in der Hauptstadt erlebt und erzählt diese Geschichte, aber auch die der Odyssee durch mehrere italienische Flüchtlingsunterkünfte, immer wieder. Erzählen, Erinnern, Planen und Organisieren sind seine Aufgaben. Damit die Menschen in Hamburg auch beim nächsten Mal wieder auf die Straße gehen und sich für die Gruppe »Lampedusa in Hamburg« engagieren. Bei der letzten Demonstration am 5. Juli, gingen rund 1 000 Menschen auf die Straße, um der Forderung der Gruppe nach einer Arbeitserlaubnis Nachdruck zu verleihen.
Christina Babafemi will arbeiten, sich wieder selbst versorgen und eine Zukunft haben. Sie gehört zu den wenigen Frauen der Gruppe, stammt aus Nigeria und hat in Lagos im Hotel Excelsior als Köchin gearbeitet. »Dort habe ich meine dreijährige Ausbildung gemacht und hier in Hamburg gibt es Arbeit für mich«, sagt die 38jährige. In einer Tapas-Bar habe sie zur Probe in der Küche gestanden, »aber ohne Arbeitserlaubnis läuft nichts«. Eine harte Erkenntnis für die Mutter zweier Kinder, denen sie so gerne etwas Geld schicken würde. »Das geht vielen aus der Gruppe so. Wir haben Familie in Nigeria, in Mali oder wo auch immer, und müssen sie unterstützen. Das geht aber nicht, weil man uns nicht erlaubt, Perspektiven aufzubauen«, klagt sie. Christina Babafemi hat während des Kriegs in Libyen ihren Mann verloren und ist allein über das Mittelmeer nach Italien geflohen. Nun ist sie seit 16 Monaten in Hamburg zum Warten verdammt. Warten, dass andere für sie entscheiden. Dass die Politiker ein Einsehen haben.

Besonders dramatisch ist die Situation für die Jüngeren wie Omar, einen sportlichen 24jährigen, der in der Elfenbeinküste geboren wurde und in Mali aufwuchs. Nur zu gerne würde er eine Ausbildung machen. Sein Deutsch ist nach den all den Monaten in Hamburg schon ganz passabel.
Viele der »Lampedusen«, wie die Mitglieder der Gruppe in den Kreisen der Unterstützer genannt werden, lernen die Sprache des Landes, in dem sie nach ihren seit März 2011 währenden Odysseen neue Möglichkeiten erhoffen. Auch Sprecher Asuquo Okono Udo büffelt Vokabeln, aber noch greift er im Interview auf Englisch zurück. Lernen und sich weiterbilden wollen etliche aus der Gruppe. Viele sind bereits qualifiziert, wie Jeano Mbodiam Elong aus Kamerun, der für das US-Unternehmen Schlumberger als Schweißer gearbeitet hat – erst in Yaoundé und dann in Libyen. Dort war Schlumberger als Dienstleister im Erdölsektor tätig. Elong ist nicht der einzige Schweißer aus der Gruppe, der außerdem Schneider, KFZ-Mechaniker oder medizinische Laborassistenten angehören. Sie sind Facharbeiter, die in Hamburg durchaus Arbeit finden könnten, denn der Handelskammer zufolge ist der Bedarf größer als das Angebot.
Doch eine Arbeitserlaubnis machte Innensenator Michael Neumann (SPD) bereits im November 2013 auf seinem Blog deutlich, könne es nur nach einer Einzelfallprüfung geben. Dies schreibe das Ausländer- und Asylrecht zwingend vor, so der Senator. Doch ganz so einfach scheint der Fall der Gruppe dann doch nicht zu sein, wie ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juni bestätigte. »Ein Ausländer, der in einem anderen Staat bereits als Flüchtling anerkannt worden ist, kann in Deutschland nicht erneut Flüchtlingsschutz oder den Status eines subsidiär Schutzberechtigten beanspruchen. Ein erneuter Asylantrag ist unzulässig«, steht in einer Pressemitteilung des Gerichts zum Urteil.
Diese Einschätzung teilt Asuquo Okono Udo. »Ich habe nie verstanden, weshalb man uns hier in ein neues Verfahren pressen will. Wir haben Papiere, die Dokumente aus Italien wurden bei meinen Reisen innerhalb Europas nie in Frage gestellt. Was wir wollen, ist das Recht zu arbeiten und ein humanitäres Bleiberecht, um endlich unser Leben neu aufbauen zu können«, sagt bestimmt.
Auch Anne Harms von »Fluchtpunkt«, der Hilfsstelle der evangelischen Kirche für Flüchtlinge sieht das so. Für sie sind die Mitglieder der Gruppe zweimal vertrieben worden – erst aus Libyen durch den Krieg, dann aus Italien. Dort wurden viele wie Udo fast zwei Jahre lang von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager geschickt. Daran änderte sich erst Ende 2012 etwas. Da erhielten die ersten Papiere und ein Reisegeld, um in ein anderes Land Europas zu gehen. Warum? Weil sie in Italien keine Chance auf Arbeit hätten, so die italienischen Beamten. Sie stellten befristete italienische Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen aus. Mit denen haben die Mitglieder der Gruppe, von denen die meisten ein Asylverfahren in Italien durchlaufen haben, den Status von Schutzbedürftigen in der EU und genießen innerhalb der EU Freizügigkeit.
Diese Einschätzung vertritt auch Peter Bremme von Verdi. Viele der rund 300 Mitglieder der Gruppe wurden im vergangenen Jahr in die Gewerkschaft aufgenommen. Und die Gewerkschaft machte erneut Druck. Mitte Juli appellierte der neue Landesvorsitzende von Verdi, Berthold Bose, an den Senat, etwas zu tun: »Wir brauchen dringend eine wertschätzende Lösung für Menschen, die hier stranden, wir dürfen nicht bis zum Winter warten.«

Einen weiteren Winter ohne Perspektive in Hamburg will sich Udo nicht vorstellen, doch er ist sich sicher, dass die Gruppe ihn überstehen würde. »Die Unterstützer sind unsere Energiequelle«, sagt er und appelliert an den Senat, direkt mit der Gruppe zu sprechen. Doch der reagiert seit Monaten nicht.
Auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtsstellt für die zuständige Behörde für Inneres und Sport keinen Anlass dar, ihr Vorgehen zu ändern. »Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ich Ihnen sagen, dass das angeführte Urteil – nach allem, was wir über die aus Libyen und Italien gekommenen Männer wissen beziehungsweise zu wissen glauben – nicht zu einer Veränderung der Rechtslage führt«, schreibt Swantje Glismann vom Büro des Senators Neumann auf Anfrage. Wegducken, Aussitzen, auf die eigene Position pochen – das scheint die Leitlinie in der Behörde.
Diese Position hat Senator Neumann mehrfach in Interviews klar umrissen und auch gleich deutlich gemacht, »dass es keine Perspektive für diese Menschen hier gibt«. Selbst wenn sie, wie Neumann im Interview mit der Welt sagte, einen Antrag »auf Asyl oder aber auf humanitäre Aufnahme« stellen. Dagegen wehrt sich die Gruppe. »Warum sollen wir unseren von Italien anerkannten Flüchtlingsstatus gegen eine Duldung eintauschen«, fragt Udo. Er hat von Beginn an ein Aufenthalts- und Arbeitsrecht nach Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes gefordert. Dieser Paragraph ermöglicht es dem Senat, Kriterien für eine Gruppe von Menschen zu erstellen, denen aus humanitären Gründen ein Bleiberecht gewährt wird. Das lehnt der Senat ab.
»Eine pauschale Gewährung eines Bleiberechts gibt das Bundesrecht auch weiterhin nicht her, auch nicht über § 23 Aufenthaltsgesetz«, heißt es dazu aus dem Büro von Senator Neumann. Was theoretisch durchaus möglich wäre, wie 111 Fachanwälte im November 2011 öffentlichkeitswirksam bestätigen, ist praktisch nicht erwünscht. De facto stellt die Gruppe »Lampedusa in Hamburg« das fixierte Procedere und obendrein Europas Grenzpolitik in Frage. »Wir sind keine Bittsteller, wir haben Papiere, wir wollen arbeiten und wir sind eine Gruppe, die auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam macht – den Umgang mit Flüchtlingen in Europa«, erklärt Udo. Diese klare Haltung hat der Gruppe in den vergangenen Monaten viel Unterstützung eingebracht. Auch aus gesellschaftlichen Milieus, von denen man es nicht vermutet hätte, wie die Unterschriften unter dem »Manifest für Lampedusa in Hamburg« zeigen. Schorsch Kamerun, der Sänger der Band »Die Goldenen Zitronen«, hat es ebenso unterzeichnet wie die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und der Pianist und Gründer des Schleswig-Holstein-Musikfestivals, Justus Frantz. »Sich für die Flüchtlinge einzusetzen, ist ein Akt der Menschlichkeit«, sagte Bela B., der Schlagzeuger der Band »Die Ärzte«, Mitte Juni bei der Vorstellung des Manifests vor dem weißen Lampedusa-Zelt gegenüber vom gläsernen Busbahnhof.
Das von mittlerweile knapp 4 000 Menschen unterzeichnete Manifest tritt für eine Zukunft der Gruppe in Hamburg ein. Der Ort dafür ist längst gefunden: eine alte Schule im Karolinenviertel. Das Gründerzeitgebäude in der Laeiszstraße ist groß genug, um Anlaufstelle, Informationszentrum, aber auch Arbeitsort und Schlafplatz für die rund 300 Flüchtlinge zu sein. Diese leben derzeit entweder auf der Straße oder sind wie Udo und Christina Babafemi bei Unterstützern untergebracht – bei Initiativen, in Wohnprojekten und Wohngemeinschaften. Ein wesentlicher Grund, weshalb sich Udo längst integriert fühlt in der Gesellschaft der Hansestadt, die sich in den vergangenen 16 Monaten immer wieder für die Gruppe engagiert hat. Unzählige Demonstrationen mit bis zu 14 000 Teilnehmern hat es gegeben, am 1. Mai endete eine mit der Besetzung der Schule in der Laeiszstraße. Die ist kurzerhand zum »Lampedusa in Hamburg«-Haus umgewidmet worden, wo im Mai und Juni jeden Freitagabend Treffen zum Singen, Diskutieren, Tanzen oder Studieren stattfanden – immer unter den wachsamen Blicken der Polizei. Die ist angewiesen, das Gebäude zu schützen, denn ein Zentrum, um zu arbeiten, zu lernen und zu leben, will die Politik der Gruppe nicht zubilligen. So bleibt Asuquo Okono Udo nichts anderes übrig, als vor dem weißen Zelt gegenüber vom Busbahnhof seine Geschichte zu erzählen und neue Aktionen für die eigene Zukunft in Hamburg zu organisieren. An der Parole »We are here to stay« hat sich nichts geändert.

Lampedusa in Hamburg.
Eine Chronologie
Februar 2011. Im Zuge des »arabischen Frühlings«, der mit Protesten gegen autokratische Regime in Tunesien und Ägypten begann, bricht ein Bürgerkrieg in Libyen aus. Vor der Gewalt fliehen rund 1,5 Millionen afrikanische Migranten aus Libyen – rund 55 000 davon nach Italien.

Februar 2013. Eine Gruppe von über 300 Flüchtlingen, viele davon aus Mali, Nigeria, der Elfenbeinküste und Ghana, erhält von den italienischen Behörden Papiere, teilweise Fahrkarten und etwas Reisegeld, um nach Nordeuropa zu reisen.

März 2013. Die Gruppe erreicht Hamburg und kommt ins Winternotprogramm der Stadt, bis dieses Mitte April 2013 ausläuft und die Menschen auf der Straße sitzen.

Mai 2013. Die Gruppe wendet sich die Öffentlichkeit und fordert Gespräche mit Olaf Scholz, dem Ersten Bürgermeister. Der verweist sie an eine Flüchtlingsberatungsstelle.

Juni 2013. Die Kirchengemeinde St. Pauli nimmt einen Teil der Gruppe auf, die mit Spenden aus der Bevölkerung über Monate versorgt wird.

September 2013. Der Hamburger Senat lehnt es ab, die Flüchtlinge aus dem Kirchenasyl erneut im Winternotprogramm der Stadt unterzubringen. Senator Neumann von der Innenbehörde sagt, wer Schutz suche, müsse den Behörden seinen Namen nennen und seine Fluchtgeschichte erzählen. Dann sorge man für eine Unterkunft.

29. Oktober 2013. Die Gruppe »Lampedusa in Hamburg« gibt bekannt, dass sie es ablehnt, die Identitäten ihrer Mitglieder in Einzelfallprüfungen den Behörden preiszugeben. Stattdessen schlägt sie vor, eine Kommission aus der Gruppe, Senatsvertretern, Politik und Zivilgesellschaft zu bilden, denen die Identitäten der Gruppenmitglieder übermittelt werden könnten.

2. November 2013. Großdemonstration mit rund 15 000 Teilnehmern für ein Bleiberecht der Gruppe.
22. November 2013. Die Ausländerbehörde verkündet, dass sie Daten von 73 Flüchtlingen gesammelt habe. Am gleichen Tag beginnen Hamburger Künstler, darunter Fatih Akin und Jan Delay, die Plakataktion »Wir sind Lampedusa«.

12. Dezember 2013. 3 500 Hamburger Schülerinnen und Schüler führen einen Schulstreik durch.

18. Januar 2014. Protestdemonstration von mehreren tausend Menschen gegen die Politik des Hamburger Senats bezüglich der Gefahrengebiete und für ein Bleiberecht der Gruppe »Lampedusa in Hamburg«. Behördensprecher Frank Reschreiter sagt, dass alle Personen der Lampedusa-Gruppe versorgt seien. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit, denn zahlreiche Mitglieder der Gruppe sind im »solidarischen Winternotprogramm« von rund 40 privaten Gruppen und Wohnprojekten untergebracht.

27. Februar 2014. Ein Sprecher der Gruppe fordert direkte Verhandlungen mit dem Hamburger Senat.

1. März 2014. Mehr als 4 000 Menschen demonstrieren für ein Aufenthaltsrecht der Gruppe.

9. April 2014. Der Antrag der Partei »Die Linke« auf eine Gruppenlösung aus humanitären Gründen nach dem Paragraphen 23 des Aufenthaltsgesetzes wird von der Bürgerschaft abgelehnt.

1. Mai 2014. Unter dem Motto »Recht auf Stadt kennt keine Grenzen« wird im Karolinenviertel die leerstehende ehemalige Grundschule in der Laeiszstraße besetzt und als »Refugee Welcome Center« wiedereröffnet.

16. Juni 2014. Das »Manifest für Lampedusa in Hamburg« wird vorgestellt, worin auch ein »Lampedusa in Hamburg«-Haus gefordert wird – die ehemalige Grundschule in der Laeiszstraße.

30. Juni 2014. 92 Flüchtlinge der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« haben der Ausländerbehörde zufolge einen Antrag auf Bleiberecht aus humanitären Gründen gestellt.

5. Juli 2014. Demonstration für die Arbeitserlaubnis für die Mitglieder der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« und ein kollektives Bleiberecht