Brasiliens neuer Nationaltrainer

Zurück zu Dunga

Der ehemalige Bundesligaprofi Dunga wird neuer brasilianischer Trainer.

Schon jetzt könne man diese Entscheidung als größtes Versagen in der Geschichte des brasilianischen Fußballverbandes CBF bezeichnen, schreibt der Kolumnist Robson Morelli in der großen brasilianischen Tageszeitung Estado de S. Paulo. Sein Kollege Amir Leite nannte die Ernennung von Dunga zum neuen Trainer der Seleção, der brasilianischen Nationalmannschaft, im selben Blatt eine »Hochrisikowette«. Die Folha de S. Paulo titelte »Rückschritt im Ex-Land des Fußballs« und selbst die Tageszeitung La Nación aus dem Nachbarland Argentinien meinte: »Brasilien lernt nicht dazu: Dunga der Favorit, um Scolari abzulösen«.
Dunga und der versprochene Neuanfang im brasilianischen Fußball – das passt für die meisten einfach nicht zusammen. Die Zeitungen präsentieren Umfragen, in denen 80 Prozent der Befragten den neuen alten Nationaltrainer ablehnen.
Am Dienstag voriger Woche war Carlos Caetano Bledorn Verri, genannt Dunga und hierzulande vor allem als Profi des VfB Stuttgart Mitte der Neunziger Jahre in Erinnerung, offiziell als Nachfolger von Luiz Felipe Scolari vorgestellt worden. Es ist jener Dunga, der nach der WM-Niederlage 2010 im Viertelfinale gegen die Niederlande noch mit Schimpf und Schande davongejagt worden war; dem seine Kritiker immer vorhielten, er lasse zu »deutsch« und zu »unattraktiv« spielen und habe dem brasilianischen Fußball die Schönheit und damit die Seele geraubt. Ausgerechnet er, der Inbegriff des Defensivspiels, soll nun den Neuaufbau der brasilianischen Auswahl – weg vom Ergebnisfußball, zurück zum jogo bonito, dem schönen Spiel – bewerkstelligen. Dunga sei es schon einmal gelungen, ohne Stars ein schlagkräftiges Team zu formen, argumentieren seine Unterstützer – viele sind es nicht. In seiner ersten Amtszeit von 2006 bis 2010 habe er immerhin die Copa América (2007) und zwei Jahre später den Confed-Cup gewonnen, von der WM-Niederlage mal abgesehen könne er also durchaus eine positive Bilanz vorweisen.
Verglichen mit der 1:7-Niederlage gegen Deutschland im WM-Halbfinale im eigenen Land wirkt das Ausscheiden in Südafrika ohnehin wie ein kleinerer Betriebsunfall. Die Niederlage in Belo Horizonte hat das Selbstverständnis des brasilianischen Fußballs in seinen Grundfesten erschüttert. Der Nachfolger von Felipe Scolari »sollte jemand sein mit einer neuen Mentalität und in der Lage, strukturelle Veränderungen im brasilianischen Fußball anzustoßen«, umriss Antonio Lopes, Technischer Koordinator der brasilianischen Weltmeisterauswahl von 2002, die Anforderungen an den neuen Nationaltrainer, um Dunga die geforderten Eigenschaften sogleich abzusprechen. Dieser wiederum hat bereits eine Vorstellung, an wem es sich zu orientieren gelte. »Wir müssen von der Organisation des deutschen Fußballs lernen«, sagte er bei seiner Vorstellung. Talentförderung und »moderner Fußball« waren weitere Schlagworte. Konkrete Maßnahmen nannte er aber noch nicht.
Er werde keinen Traum verkaufen, sagte er noch. Wahrscheinlich wurde er von seiner neuerlichen Ernennung selbst am meisten überrascht. Einige Beobachter meinen, Dunga habe den Job nur seinem alten Freund Gilmar Rinaldi zu verdanken. Die beiden kennen sich seit mehr als 30 Jahren. In den Achtzigern spielten sie gemeinsam bei Internacional Porto Alegre. Rinaldo gehörte zudem als dritter Torwart zu jener brasilianischen Auswahl, die 1994 in den USA mit Dunga als Kapitän den Weltmeistertitel holte. Rinaldi war selbst erst vorige Woche zum Teammanager der Seleção berufen worden. Davor war er Spielerberater, was wiederum Fragen danach aufwarf, ob Dunga künftig unabhängig arbeiten könne. Frühere Kollegen Rinaldis könnten versuchen, Einfluss zu nehmen, so die Befürchtung. Berufungen in die Nationalmannschaft steigern bekanntlich den Marktwert von Spielern.
Die Intransparenz im Verband aber ist das eigentliche Hindernis für einen Neubeginn. Übervolle Spielpläne – Hauptsache, die Fernsehgelder und Werbeeinnahmen stimmen; Länderspiele, die an den Meistbietenden verkauft werden; Gelder, die in die eigenen Taschen fließen und für eine strukturierte Nachwuchsarbeit fehlen – an Korruption und Vetternwirtschaft hat sich auch nach dem Rücktritt des unter Korruptionsverdacht stehenden selbstherrlichen Verbandspräsidenten und langjährigen Präsidenten des Fifa-Exekutivkomitees, Ricardo Teixeira, im März 2012 nicht viel geändert. Teixeira und der frühere Fifa-Chef João Havelange sollen von 1992 bis 2000 beim Verkauf von WM-Vermarktungsrechten mehr als 40 Millionen Schweizer Franken Bestechungsgeld kassiert haben. Teixeira floh nach seinem Rücktritt nach Miami. Aber statt eines radikalen Schnitts folgte auf ihn sein Vize, der mittlerweile 82jährige José Maria Marín. Der hatte in den achtziger Jahren den Verband des Bundesstaates São Paulos ins Chaos gestürzt und macht nun dasselbe mit dem nationalen Verband. Unvergessen, wie ihn Fernsehkameras dabei ertappten, wie er sich die Siegermedaille eines Juniorenwettbewerbs heimlich in die eigene Tasche steckte. Ein Bild mit Symbolwert. Marín und sein designierter Nachfolger Marco Polo Del Nero – er soll ab 2015 den Posten des CBF-Präsidenten übernehmen – gelten bis heute als Marionetten des Systems Teixeiras. Ohne ihre Zustimmung aber hätte Dunga kaum berufen werden können. Es gibt nicht wenige Insider, die behaupten, Dunga diene als Schutzschild für die Verbandsspitze. Die Führungsriege von in die Jahre gekommenen Funktionären wolle sich mit seiner Ernennung selbst schützen. Denn einer der schärfsten und medienwirksamsten Kritiker des korrupten Verbandes ist der ehemalige Fußballer Romário, der mittlerweile für die Sozialistische Partei Brasiliens (PSB) als Abgeordneter im Kongress sitzt. Auch die Suche nach einem Nachfolger von Nationaltrainer Felipe Scolari hatte Romário mit bissigen Kommentaren begleitet. Damit könnte nun zunächst einmal Schluss sein – zusammen mit Dunga und Rinaldi hatte Romário 1994 die Weltmeisterschaft errungen. Die vernichtende Niederlage im Halbfinale sei ein Beispiel für eine Tendenz, die nicht auf das Sportliche begrenzt sei, schreibt der Schriftsteller Mario Vargas Llosa in der spanischen Tageszeitung El País: »Eine Fiktion zu leben, die brutal von der Realität widerlegt wird.« Wie das Wirtschaftswunder unter der Präsidentschaft Lula da Silvas vor allem auf riesigen staatlichen Infrastruktur- und Sozialprogrammen basierte und nun an seine Grenzen stößt, wurde die Gleichsetzung von brasilianischem Fußball mit der Schönheit des Spiels bei der WM entzaubert. Insofern ist die Ernennung Dungas eine Rückkehr zur Realität. Auch wenn die damit verbundene Botschaft nicht gerade das ist, was die Brasilianer erwartet haben. Plötzlich nämlich sieht die Zukunft – auch die im Fußball – gar nicht mehr so vielversprechend aus.