Rules of Engagement
Die Piloten forderten, vor dem Bombenabwurf mit einem Überflug die Zivilisten zu warnen, doch der kommandierende Oberst lehnte kategorisch ab und befahl den sofortigen Anriff. Es bestehe die unmittelbare Gefahr eines Anschlags und seine Soldaten hätten Feindberührung, behauptete er – Lügen, wie sich später herausstellte. Bei der Bombardierung starben neben einigen Dutzend Jihadisten etwa 100 Zivilisten, vielleicht sogar fast 180. Die genaue Zahl wurde nie bekannt, da die Ermittler sämtliches Belastungsmaterial ignorierten, um dem Oberst, der bald darauf zum General befördert wurde, bescheinigen zu können, er habe alles richtig gemacht.
Da die 2009 von Oberst Georg Klein befohlene Bombardierung nahe der afghanischen Stadt Kunduz nie Anlass für Selbstkritik oder gar eine Militärreform war, erscheinen Mäßigungsappelle deutscher Politiker an die israelische Regierung besonders fragwürdig. Die Palästinenser können jedenfalls froh sein, dass sie es nicht mit der Bundeswehr zu tun haben, denn man kann sich ausmalen, was Kleins Kollegen anrichten würden, wenn sie 8 000 Einsätze in einem dichtbesiedelten Gebiet befehligen würden.
Israel hat die wohl strengsten militärischen Einsatzregeln der Welt, auch im Vergleich zu den rules of engagement anderer Demokratien, abgesehen vielleicht von den USA nach der jüngsten Militärreform. Wie die Israelis auch vorgehen könnten, hat vor anderthalb Jahrzehnten Wladimir Putin vorgeführt. Der russische Präsident hatte es in Tschetschenien ebenfalls mit Jihadisten zu tun, die aber nicht auf die Idee gekommen wären, Zivilisten als Schutzschilde zu benutzen, da dies Putin nicht gekümmert hätte. Die tschetschenische Hauptstadt Grozny wurde umstellt und mit Bombenteppichen und Artilleriebeschuss eingeebnet, bevor Bodentruppen vorrückten. Flüchtende Zivilisten wurden beschossen.
Das israelische Militär könnte jederzeit eine Massenflucht in Richtung Ägypten auslösen. Ariel Sharon wurde eine solche Absicht zur Vertreibung der Palästinenenser in der antiisraelischen Propaganda unermüdlich unterstellt. Aus dem Gaza-Streifen vertrieben hat er 2005 dann die israelischen Siedler. Seinem Nachfolger, Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, wird nun das Gegenteil vorgeworfen, nämlich der Betrieb eines »Freiluftgefängnisses«, aber auch »Völkermord«, obwohl man kein Militärexperte sein muss, um festzustellen, dass eine hochgerüstete Armee in einem dicht besiedelten Gebiet viel mehr Menschen töten könnte, wenn dies die Absicht wäre.
Ist die Kriegführung Israels dennoch rücksichtsloser geworden, wie auch ernst zu nehmende Kritiker meinen? »Zum Teil ist sie exzessiv«, urteilt der Schriftsteller Amos Oz, der den Militäreinsatz im Gaza-Streifen grundsätzlich befürwortet. Der Einsatz von Bomben mit der Sprengkraft von einer Tonne TNT sei früher eine seltene Ausnahme gewesen, nun aber zur Routine geworden, schreibt die ehemalige israelische Luftwaffenpilotin Yuli Novak im Guardian.
Eine unabhängige Untersuchung der meisten Vorwürfe ist nicht möglich, solange die Hamas über den Gaza-Streifen herrscht. Die Kriegsführung der Islamisten beruht auf der Gewissheit, dass Israel nie zu den Mitteln greifen wird, die dem jüdischen Staat in der Propaganda unterstellt werden, die pure Sprengkraft der Bomben und Granaten sowie Fehler und Missachtung der Dienstvorschriften aber unweigerlich zivile Opfer fordern. Überdies wurde die Benutzung von Zivilisten als menschliche Schutzschilde noch nie in so großem Ausmaß praktiziert. Militärische Ziele wie Tunnel, Raketenstellungen und Waffenlager befinden sich in zivilen Gebieten. Als Organisation aber bleibt die Hamas unangreifbar. Deshalb hat Netanyahu lange gezögert, den Einsatz von Bodentruppen zu befehlen. Derartige Operationen verschaffen Israel nur eine Atempause.
Vermeidbar war der Einsatz nicht. Hätte Israel auf die Ermordung dreier Jugendlicher und den Raketenbeschuss nicht reagiert, wäre die nächste Provokation gefolgt. Die Infrastruktur, nach Israel führende Tunnel zur Infiltration terroristischer Gruppen, stand bereits zur Verfügung, wie sich nun herausgestellt hat. Die Hamas brauchte den Krieg, weil ihre Kontrolle über den Gaza-Streifen gefährdet ist. Einer Umfrage des Washington Institute for Near East Policy vom Juni zufolge befürworten 84 Prozent der Bevölkerung im Gaza-Streifen eine Übernahme der Verwaltung durch die palästinensische Autonomiebehörde (PA), nicht einmal zwölf Prozent wünschen sich Ismail Haniyeh, den Kandidaten der Hamas, als Präsidenten und 70 Prozent sprechen sich dafür aus, dass die Hamas einen Waffenstillstand einhalten solle. Nun werden die Zerstörungen als Rechtfertigung dafür dienen, die mit der Fatah vereinbarten Wahlen auf unabsehbare Zeit zu verschieben.
So bestimmt die Hamas die rules of engagement, allerdings dürfte es den Islamisten angesichts der härteren Haltung Ägyptens diesmal schwerer fallen, wieder aufzurüsten. Unklar ist, wie die Bevölkerung des Gaza-Streifens reagieren wird, wenn der Krieg endet. Medienberichten zufolge wurden bereits 20 Palästinenser exekutiert, weil sie gegen den Krieg protestierten. Iyad al-Bozom, ein Sprecher des Innenministeriums der Hamas, warnte, dass »jede verräterische oder feige Tat gegen unser Volk« streng bestraft werde.
Auch hier steht Israel vor einem Dilemma. Zugeständnisse, etwa eine Öffnung der Grenzen, würde die Hamas als Sieg verbuchen, überdies hat sich gezeigt, dass auch zivile Güter wie Baumaterial militärische Verwendung beim Tunnelbau finden. Andererseits könnte ein Ende der Handelsbeschränkungen die Hamas schwächen, die von der Kriegswirtschaft ökonomisch profitiert und die Mangelverwaltung nutzt, um Loyalität zu belohnen und Dissidenz zu bestrafen.
Die israelische Regierung scheint sich entschieden zu haben, den Einsatz unilateral zu beenden. Am Dienstag wurden die israelischen Bodentruppen aus dem Gaza-Streifen abgezogen und Bassam Salhi, ein Mitglied der Hamas-Delegation in Kairo, sagte, ein Waffenstillstand sei nun »im Interesse aller Parteien«. Die Verhandlungen werden wohl nicht zu einem Abkommen führen, möglich ist jedoch, dass die ägyptische Regierung nach Rücksprache mit Netanyahu Vorschläge unterbreitet, die, kämen sie von Israel, die PA kompromittieren würden. So könnte die Aufhebung der Blockade an eine Rückkehr der PA-Verwaltung geknüpft werden. Dies abzulehnen, würde die Popularität der Hamas weiter mindern.
Den islamistischen Terror durch die autoritäre Herrschaft und den Klientelismus der PA zu ersetzen, wäre zwar nur ein erster Schritt zur Demokratisierung, ein regime change im Gaza-Streifen ist aber die Voraussetzung für eine Friedenslösung. Darauf politisch hinzuwirken, kann nicht die Aufgabe Israels sein, solange es als Verrat gilt, dessen Unterstützung anzunehmen. Der Westen hingegen könnte mehr tun, doch nun ist auch in den USA von einer Anerkennung der Hamas die Rede. Die Gelegenheit, deren Herrschaft zu beenden, ist günstiger denn je, und ihre Niederlage wäre auch ein Rückschlag für andere Jihadisten in der Region, die sich derzeit unbesiegbar wähnen. Es ist jedoch bequemer, Israel die Arbeit zu überlassen und diese dann schlecht zu benoten, als selbst eine Rolle bei der Bekämpfung des islamistischen Terrors zu übernehmen.