Die Strategie Wladimir Putins im Ukraine-Konflikt

Die Stunde der Astrologen

Das Ausmaß der Unterstützung für die ostukrainischen Separatisten wird zeigen, welche geopolitischen Ziele der russische Präsident Wladimir Putin verfolgt.

Ein Kalter Krieg herrscht zwischen dem Westen und Russland zwar noch nicht, doch ist eine mit dieser Epoche verbundene analytische Kunst wieder von Bedeutung: die Kreml-Astrologie. Es handelte sich dabei um die Kunst, Feinheiten in den Verlautbarungen der KPdSU wahrzunehmen sowie die Personalpolitik und subtile Signale der Bürokratie zu deuten, um Schlussfolgerungen über die zukünftige sowjetische Politik zu ziehen. Das war nicht immer leicht, aber wenigstens waren die Regeln der Interpretation klar.
Wer die Absichten des russischen Präsidenten Wladimir Putin ergründen will, ist hingegen auf Mutmaßungen angewiesen. Warum sind die 18 hohen Bürokraten aus der Generalstaatsanwaltschaft, dem Innenministerium und dem ­Investigativkomitee (einer einflussreichen Bundespolizeibehörde), die Anfang August entlassen wurden, in Ungnade gefallen? Catherine A. Fitzpatrick vom Online-Journal The Interpreter vermutet angesichts der Aufgabenbereiche der Entlassenen, dass Putin »Verwundbarkeit an seinen Flanken« verhindern und sicherstellen wolle, dass insbesondere gegen demokratische Oppositionelle und Autonomiebestrebungen mit der gebotenen Härte vorgegangen wird.
Bedrohlicher als die noch schwache Opposition ist die wirtschaftliche Lage. Die westlichen Sank­tionen und die russischen Gegensanktionen sind mittlerweile ökonomisch relevant. Dient das letztlich Putins Interessen? Manche Analytiker vermuten, eine Umstrukturierung der Wirtschaft – mehr Abschottung, um die einheimische Produktion zu fördern – sei erwünscht. Zwar sollte man erwarten, dass Vorbereitungen für eine Steigerung der russischen Apfelproduktion getroffen werden, bevor der Import westlicher Äpfel verboten wird. Überdies dürften die Einnahmen aus dem Energieexport für den Aufbau eines staatskapitalistischen Industriesektors und eine aggressive Außenpolitik nicht ausreichen. Ausschließen kann man jedoch nicht, dass Putin die von ihm geschürte nationalistische Hysterie für eine Ausweitung der ökonomischen Kontrolle nutzen will.
Improvisiert Putin oder verfolgt er einen langfristigen Plan? Mehr noch als für polnische Apfelbauern ist die Antwort auf diese Frage für die Ukrainer von Bedeutung. Donezk, die bedeutendste der von den ostukrainischen Separatisten gehaltenen Städte, wurde nach Angaben der ukrainischen Armee umstellt. Deren Erfolgsmeldungen sind nicht immer zuverlässig, die Separatisten sind jedoch politisch und militärisch in die Defensive geraten. Bleibt die russische Unterstützung auf dem derzeitigen Niveau, werden sie den Krieg verlieren.
Bündnispartner in Zentralasien und Osteuropa für vergleichbare Unternehmungen dürfte Putin dann kaum noch finden. Die Rolle des globalen Repräsentanten konservativer Werte kann er allerdings weiter spielen. Ihm bleiben noch die Krim, deren Annexion genügen dürfte, um sich in Russland als Sieger darzustellen, und die stärkere Kontrolle über Institutionen, Medien und Gesellschaft, die er sich im Zuge der Krise verschafft hat. Wenn Putin jedoch tatsächlich ein postsowjetisches Imperium aufbauen will, muss er die Niederlage seiner Verbündeten in der Ost­ukraine verhindern.