Müssen Menschen schwimmen?

Menschen müssen nicht schwimmen

Menschen sind von ihrer Verhaltenstendenz her keine Schwimmer, sondern Flachwassertreter. Das besagt eine wissenschaftliche Theorie namens »Uferhypothese«.

Kaum einer der Wikinger, der bretonischen Walfänger und der wilden Segler, mit denen die maritime Existenz der vorher ans Land gebundenen Menschheit begann, konnte schwimmen. Das Gleiche gilt für die Korsaren, Seehandel treibenden Abenteurer und Piraten, mit denen im 16. und 17. Jahrhundert der Aufbruch zur Eroberung des Meeres begann. Man wird im britischen »The Pirate’s Who’s Who« die kühnsten Segler und Plünderer finden, aber keine Schwimmer. Und das ist kein Wunder, sondern nur natürlich. Denn die besten Schwimmer – Eisbären, Elefanten und Fischotter – unter den Landsäugetieren sind alle Vierbeiner.
Die zweibeinige Lebensform hingegen widerspricht den zum Schwimmen notwendigen Bewegungen elementar. Der ehemalige Schwimmstar Michael Groß bringt das auf den Punkt, wenn er immer wieder betont, dass seine Art des Schwimmens nichts mit natürlichen Bewegungen zu tun habe, sondern im Gegenteil eine Technik sei. Eine Tatsache, der auch die von Esoterikern und Wassergeburtsfanatikern gern wiederholte Feststellung nicht widerspricht, das neugeborenen Babys, wenn man sie gleich nach der Geburt ins Wasser wirft, in der Regel schwimmen können. Wobei schon dieses meist hingehauchte »in der Regel« eine eigene Betrachtung wert wäre. Aber dazu ist hier nicht der Platz.
Jedenfalls ist es nicht erstaunlich, dass Babys, wenn sie unter Wasser geraten, versuchen, so schnell wie möglich, sich irgendwie bewegend, an die Wasseroberfläche zu kommen. Geboren wurden sie schließlich zum Atmen und Leben und nicht zum Ertrinken. Ob ihre Bewegungen im Wasser tatsächlich etwas mit dem zu tun haben, was man allgemein unter »schwimmen können« versteht, bleibt fraglich. Dafür spricht unter anderem die Tatsache, dass sie, sobald sie laufen können, ihr Verhältnis zum Wasser ändern.

Untersuchungen in Schwimmbädern haben ergeben, dass die Besucher dort, unabhängig vom Alter, nur ein Prozent der Beobachtungszeit tatsächlich schwammen. Erwachsene bewegten sich in den Studien acht Prozent der Zeit, watend und plantschend, im Wasser, Kinder hielten sich fast 40 Prozent der Zeit im Wasser auf. Kinder mögen Wasser also lieber als Erwachsene, kann man daraus folgern. Entscheidend ist aber ein anderer Schluss, den die Forscher dann auch zogen: Die Daten weisen daraufhin, dass Menschen von ihrer Verhaltenstendenz her keine Schwimmer sind, sondern Flachwassertreter.
Interessant ist der Zusammenhang, in dem die Daten zum Wasserverhalten erhoben wurden. Viele der Untersuchungen wurden von der Arbeitsgruppe des Berliner Humanbiologen Carsten Niemitz durchgeführt. Niemitz hat die derzeit am meisten diskutierte Theorie zur Entstehung des aufrechten Gangs vorgelegt, im Rahmen derer er und seine Mitarbeiter auch Studien zum Verhalten der Menschen an Flussufern, Bagger- und Parkseen sowie Schwimmbädern durchgeführt haben. Niemitz’ Theorie, die unter dem Begriff »Uferhypothese« bekannt ist, geht davon aus, dass sich der aufrechte Gang auf dem Weg aus den Regenwäldern Afrikas in die Fluss­savannen entwickelt hat.
Es war schon vielen Anthropologen aufgefallen, dass die meisten Fossilienfunde der vor fünf bis sechs Millionen Jahren lebenden frühen Hominiden aus Kenia, Äthiopien und dem Tschad stammten. Landschaften, die damals am Rand eines Regenwaldes lagen und von Flüssen, Seen und kleinen Teichen durchzogen war. Nach Niemitz’ Hypothese hat sich der aufrechte Gang in genau diesen Flachwassern entwickelt. Unter ­anderem deahalb, weil es im Wasser mit Fischen, Muscheln und Krebsen die wesentlich reichhal­tigere und gesündere Nahrung gab. Und wer einmal das Glück hatte, Zwergschimpansen oder Bonobos, wie sie veraltet auch heißen, beobachten zu können, wie sie im afrikanischen Dschungel auf zwei Beinen bis zum Bauch im Flusswasser versinken, dem kann Niemitz’ These unmittelbar einleuchten. Ganz ruhig gehen sie da und manch einer sammelt mit den Händen Blätter von der Wasseroberfläche ein und verschiebt sie zu immer neuen Mustern, um sie versonnen zu betrachten. Was dafür spricht, dass nicht nur die Nahrung, sondern auch der Spaß die frühen Menschen zum Flachwasserspaziergang animierte.
Niemitz konnte auch die erste anatomisch einleuchtende Theorie für den aufrechten Gang liefern. Denn vom Orthopäden bis zu Rheumaspezialisten sind sich eigentlich alle Kenner der menschlichen Anatomie einig, dass es keinen kinetisch plausiblen Grund gibt, an Land aufrecht zu gehen. Der Vorteil des aufrechten Gangs im Wasser an Fluss- und anderen Wasserufern könnte aber so groß gewesen sein, dass die frühen Menschen ihn auch beibehielten, als sie sich, aus welchen Gründen auch immer, vom Wasser entfernten. Der hier entscheidende Punkt von Niemitz’ Theorie ist, dass die bis heute anhaltende Freude der Menschen an der Nähe zum Wasser nichts mit dem Schwimmen zu tun hat, sondern mit dem Gehen im Flachwasser.

Eine Bewegung, die sich in der modernen Hinwendung zum Meer im 19. Jahrhundert noch einmal wiederholt. Das Schwimmen wird im 19. Jahrhundert vor allem von britischen Adeligen und wohlhabenden bürgerlichen Müßiggängern entwickelt, parallel zum Bergsteigen. Aus diesen Milieus dringt es dann in das Militär und den Sport ein und wird so in die verschiedensten Körperdisziplinierungstechniken und -institutionen wie Schulen eingespeist.
Dagegen ist der erste Biograph des Meeres, Jules Michelet, weder ein Schwimmer noch ein Müßiggänger. Michelet war, als er 1861 seine naturphilosophische Studie »La mer« veröffentlichte, der Historiker der französischen Revolution und Herzenssozialist. Das Meer hatte ihn fasziniert, als er, am Strand stehend, nichts anderes tat als auf die Wellen zu schauen. Während es in seinem Buch lange Passagen darüber gibt, wie das Meer von der Küste aus gesehen ausschaut, und Strände ausführlich beschrieben werden, gibt es keinen Hinweis auf menschliches Schwimmen.

Ähnlich verhält es sich in der wohl eindringlichsten Beschreibung eines Blickes auf das Meer in der Philosophiegeschichte. Gilles Deleuze gibt sie in seinem mehr als siebenstündigen Fernsehinterview »Das ABC des Gilles Deleuze«, das seine Schülerin Claire Parnet mit ihm führte. Deleuze berichtet darin zuerst über die sozialen Verwerfungen im Bürgertum, nachdem die Volksfrontregierung unter Leon Blum 1938 den bezahlten Urlaub eingeführt hatte. In Deauville, dem Strandbad der französischen Eliten überhaupt, tauchten von da an Zimmermädchen aus Paris auf, um dort Urlaub zu machen. Das gefiel den Bürgern nun gar nicht. Deleuze aber schon, denn so konnte er jene Beobachtungen machen, die es ihm ermöglichten, die affektive Kraft des Meeres zu beschreiben. Deleuze erzählt von einem kleinen Mädchen, das an den Strand kommt und zum ersten Mal das Meer sieht. Das Kind erzittert dabei, bleibt stehen und starrt fünf Stunden auf das Meer, ohne sich zu bewegen. Das erste Mal das Meer sehen, sagte Deleuze darauf, ist eine der schönsten Folgen des bezahlten Urlaubs für die Menschen. Das französische Bürgertum habe sie aber dazu gebracht, Kommunisten und Sozialisten tief zu verachten, weil die Bürger jetzt neben ihren Hausmädchen baden mussten. Wobei auch dieses Baden nichts mit dem Schwimmen zu tun hat. Das Meer oder ein anderes Wasser sehen und im flachen Wasser spazieren gehen, sind die affektiven Genüsse, die viel zu vielen Menschen vorenthalten werden.
Denn mehr Meer für mehr Menschen ist nur gut. Während die aktuellen Klagen darüber, dass immer weniger Menschen schwimmen können, nichts anderes sind als die Angst vor dem Verlust der Disziplinierungsmacht über die Masse der Körper.