Besuch in der einstigen Hochburg der französischen Arbeiterbewegung

Tour de France mit Renault

Das Renault-Werk in Boulogne-Billancourt war einst die Hochburg der Arbeiterbewegung in Frankreich. Heute erinnert man sich dort wehmütig der alten Zeiten.

»Hier war schon morgens vor Schichtbeginn die Hölle los«, sagt Emmanuelle Dupuy. Sie steht auf dem Vorplatz der Fabrik in Boulogne-Billancourt in unmittelbarer Nähe von Paris. Heutzutage kann man aufgrund der dichten Verkehrsverbindungen zur französischen Hauptstadt so dicht, dass man gar nicht mehr erkennen, dass es sich um einen eigenen Ort handelt. Auf den ersten Blick wirkt der Ort mit seinen umweltgerecht gebauten Bungalows, für die viel Glas und Holz verwendet wurde, wie einer jener Orte der Medien- und Kommunikationsindustrie, die in den vergangenen Jahrzehnten am Rande vieler Großstädte der Welt aus dem Boden geschossen sind.
Doch Billancourt war einst das Herz des fordistischen Frankreich. Hier hatte das Renault-Stammwerk seinen Sitz. Vor Schichtbeginn versammelten sich hier jeden Morgen Tausende Beschäftige auf dem Platz. Dupuy war eine von ihnen: »Hier waren überall kleine Cafés, wo wir uns morgens um sechs Uhr erst einmal einen café calva, einen Kaffee mit viel Rum, genehmigten, bevor wir durch das Tor schritten, hinter dem das Fabriksystem mit Fließband und Stechuhr regierte«, erinnert sie sich. »Das war eher Rum mit Kaffee«, berichtigt Robert Kosmann seine frühere Kollegin lachend. Die beiden ehemaligen Renault-Beschäftigten sind längst pensioniert. Heute sind sie nach Billancourt gekommen, weil sie einer Gruppe von Basisgewerkschaftern aus Deutschland etwas von der Zeit vermitteln wollen, als hier noch der Renault vom Band lief.

»Tour de France« nennt sich diese alljährliche einwöchige Erkundungsfahrt ins Paris der sozialen Revolten und Arbeitskämpfe. »Unsere Besuche begannen in den neunziger Jahren«, sagt der Basisgewerkschafter Willi Hajek, der die sozialen Bewegungen Frankreichs gut kennt. 1995 begeisterte der große Streik der Eisenbahner in Frankreich auch in Deutschland viele Gewerkschafter. Schließlich warteten die französischen Kollegen nicht, bis ihnen ein Gewerkschaftsvorstand das Signal zum Kampf gab. Sie gründeten Streikkomitees und entschieden dort gemeinsam über den Ablauf und die Dauer ihres Arbeitskampfes. Damals fragten sich auch manche Gewerkschafter hierzulande, wann sie auch in Deutschland endlich französisch reden lernen, erst einmal mit den eigenen Gewerkschaftsvorständen, die selbstorganisierte Kämpfe behindern, und dann mit den Bossen, wenn es um den Kampf um höhere Löhne und Arbeitszeitverkürzung geht. »Kämpfen wie in Frankreich«, lautete damals eine häufige Parole.
Ohne Zeitzeugen wie Emmanuelle Dupuy und Robert Kosmann wäre von der langen Geschichte von Renault nur das legendäre Tor zu sehen, durch das alle Arbeiter schreiten mussten. Neben einer Werbetafel, auf der die modernsten Lofts und Workspaces für die Arbeit im Internetzeitalter beworben werden, wirkt es wie ein Museumsstück aus einer längst vergangenen Epoche. Und doch bestimmte es jahrzehntelang für Dupuy, Kosmann und viele Tausende Menschen den Alltag. Hinter dem Tor begann für sie nicht nur die Welt der Fließbänder und Stechuhren, die den Takt der Arbeit bestimmten. Für sie war die Fabrik auch verbunden mit aktiven Betriebszellen der Gewerkschaft, die mit roten Fahnen durch das Tor marschierten, wenn sie wieder einmal einen Arbeitskampf beschlossen hatten. Das kam bei Renault sehr häufig vor. Schließlich trug das Werk lange Zeit den Beinamen »rote Festung«. Für die einen war es ein Kompliment, für die anderen eine Drohung.
Auf vielen Fotos sieht man die Arbeiterkollektive, die sich auf dem Vorplatz versammelt hatten. Oft begann der Ausstand mit einer lauten Demonstration über das Fabrikgelände. Kampfparolen wurden gerufen und die noch unentschlossenen Kollegen aufgefordert, sich dem Streik anzuschließen. Am Ende einer solchen Demonstration gab es nur wenige, die sich dem Arbeitskampf verweigerten. Schließlich spielten in der Fabrik nicht nur zu Streikzeiten politische und gewerkschaftliche Themen eine wichtige Rolle.
Lange Zeit war das Renault-Werk eine Hochburg der CGT, der der Kommunistischen Partei Frankreichs nahestehenden Gewerkschaft. Zahlreiche Arbeiter engagierten sich in den Betriebszellen von CGT und FCP. Das war die Welt der kommunistischen Gewerkschafter, deren Tod der Filmemacher Chris Marker in seinem berühmten Film »Rot ist die blaue Luft« eine Sequenz gewidmet hat. Für diese Generation aktiver Arbeiter war das Engagement in der Gewerkschaft und in Parteibetriebszellen ein wichtiger Teil ihres Lebens. Die Fabrik wurde als Gesellschaft im Miniaturformat verstanden.

In den siebziger Jahren, als der Film von Chris Marker die linke Öffentlichkeit beschäftigte, war dieser Arbeitertypus auch bei Renault bereits in die Minderheit geraten. Die durch den gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 sozialisierte Arbeitergeneration war nicht mehr davon überzeugt, dass sich im Betrieb die Gesellschaft im Kleinen abbildet, und sie stellte sich auch die Frage, ob sie in einer Gesellschaft leben will, die wie eine Fabrik organisiert ist. Sie hinterfragte das linke Arbeitsethos und die Hierarchien in den Gewerkschaften. Für diese Menschen war der Feminismus kein Nebenwiderspruch mehr und Ökologie kein Mittelstandsproblem. Sie organisierten sich in linken Gruppen wie der Gauche Prolétarienne, der proletarischen Linken, die nach dem Mai 1968 auch bei Renault Anhänger fand. Schnell geriet diese junge Betriebslinke mit der CGT in Konflikt, die ihre Hegemonie im Werk von links bedroht sah.
Im Film »Reprise« von Hervé Le Roux steht eine junge Arbeiterin im Mittelpunkt, die sich am Ende eines Streiks weigert, die Arbeit wiederaufzunehmen und sich wieder dem Takt der Stechuhr zu unterwerfen. Auf der einen Seite stehen Mitglieder der CGT, die sie zum Betreten der Fabrik bewegen wollen, auf der anderen Seite bestärken Mitglieder verschiedener linker Oppositionsgruppen die Frau in ihren Entschluss, nicht zur Arbeit zurückzukehren. Diese Auseinandersetzung spielte sich vor den Toren der Fabrik Wonder in Saint-Ouen ab. Aber sie steht für ein Muster, das sich in den siebziger Jahren vor vielen Fabrikstandorten wiederholte, auch vor dem Eingang von Renault.
Die beiden Kollegen können sich an viele solcher Situationen erinnern. »Hier standen die CGT-Redner, die die Arbeiter aufforderten, sich nicht von ultralinken Provokateuren beeinflussen zu lassen«, erinnert sich Dupuy an Auseinandersetzung über das Ende eines Arbeitskampfes bei Renault und zeigt auf den großen Platz. »Auf der anderen Seite standen die Redner von verschiedenen linken Gruppen, die an die Kollegen appellierten, sich nicht von den Reformisten der CGT in die Irre führen zu lassen und den Kampf mit einem eigenen Komitee fortzusetzen.« Die Auseinandersetzung wurde per Megaphon und mit großer Lautstärke ausgetragen. Einige Übereifrige auf beiden Seiten sparten dabei auch nicht mit Schimpfwörtern und Verbalinjurien in die Richtung der jeweils anderen Seite.
Gelegentlich blieb es nicht dabei. Der Ordnerdienst der CGT war dafür bekannt, dass er Kritiker der Vorstandslinie auch mit Gewalt von Aktionen abhielt. Aber auch die linken Konkurrenten, oft maoistischer Provenienz, gingen körperlichen Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg, wenn es gegen die verhassten »Sozialimperialisten« ging. Ein Großteil der Arbeiter stand zwischen den verfeindeten Fronten und sah sich das Schauspiel kommentarlos an, erinnern sich die beiden Gewerkschafter. Solche Episoden scheinen heute ebenso aus einer anderen Epoche zu stammen wie das Renault-Tor. Dupuy und Kosmann müssen darüber lachen, wenn sie verwundert feststellen, wie überzeugt doch alle Beteiligten waren, die Gesellschaft auf ihrer Seite zu haben.

Heute ist die rote Arbeiterfestung Renault geschleift. Die Betriebsgebäude sind längst abgerissen. Neben dem Tor sind als steinerne Zeugnisse noch einige Verwaltungsgebäude sowie Büsten der Firmengründer in Billancourt zu finden. Das Renault-Museum, das Zeugnisse der Firma von der Gründung 1898 bis zur Gegenwart dokumentiert, hat sein Domizil in einem modernen gläsernen Gebäude, das perfekt zum neuen Billancourt als Standort der Medien- und Kommunikationsbranche passt. Die Tafeln geben einen ausführlichen Einblick in die technische, aber auch die soziale und gesellschaftliche Entwicklung dieses Automobilkonzerns. Natürlich wird die Firmengeschichte zur Eloge auf den Firmengründer und seiner Familie.
Der Weihnachtsabend 1898 war für Louis Renault ein unerwarteter Erfolg. Gleich zwölf seiner »Autochen« sollte er den betuchten Kunden liefern. »Natürlich fängt Louis umgehend mit der Produktion an, und selbstverständlich steht es außer Frage, dass die Brüder nun ein eigenes Unternehmen gründen werden«, heißt es da. Hatte er nicht mindestens einen Monteur dabei?, möchte man da im Sinne von Bertolt Brechts »lesendem Arbeiter« fragen.
Dass schließlich auch die gewerkschaftlichen und sozialen Kämpfe in der Ausstellung ihren Platz finden, kann sich die Geschichtskommission der ehemaligen Renault-Beschäftigten zugute halten. Dupuy und Kosmann sind dort seit Jahren tätig. Erst dort haben sie sich kennengelernt. Sie arbeiteten nicht nur in verschiedenen Abteilungen, sie waren auch in unterschiedlichen Gruppen der radikalen Linken organisiert, Dupuy in einer trotzkistischen Gruppe und Kosmann in der Gauche Proletarienne. Doch diese Unterschiede spielen heute für die beiden keine Rolle mehr. In der Geschichtskommission arbeiten auch Kolleginnen und Kollegen mit, die der CGT und anderen Gewerkschaften angehörten. Sie wollen verhindern, dass die Geschichte von Renault in dem Museum als eine Erzählung wagemutiger Unternehmerpersönlichkeiten und bahnbrechender technischer Erfindungen präsentiert wird. Ein Gang durch die umfangreiche Ausstellung zeigt, dass ihnen das an vielen Stellen gelungen ist. Auf mehreren Tafeln wird ausführlich die große Streikbewegung von 1936 gezeigt, als die Arbeiter während der Volksfrontregierung durch spontane Massenstreiks große soziale Errungenschaften wie bezahlten Urlaub erkämpften. Auch die Auseinandersetzung bei Renault nach dem Aufbruch von 1968 wird in Bild und Text ausführlich dokumentiert.

Doch für Dupuy und Kosmann ist klar, damit die Kämpfe bei Renault und in anderen Fabriken nicht nur im Geschichtsmuseum landen, braucht es Organisationen und politische Zusammenschlüsse, die sich auch mit der Frage befassen, was davon heute noch aktuell ist. Daher war Kosmann viele Jahre Koordinator der Solidaires Industrie. Noch heute ist er oft in dem kleinen Gewerkschaftsbüro. In den Räumen sitzen Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die die heutigen Klassenkämpfe in Frankreich koordinieren. Pakete mit Plakaten und Flugblättern sind in dem engen Gang gestapelt. Auch in den Büros liegt Propagandamaterial in großen Mengen. Gerade holt ein junger Mann einen Stapel Plakate ab, auf denen für eine Demonstration gegen die Privatisierung der französischen Bahn mobilisiert wird. Sie beginnt mit großem Lärm an der Bastille, dem traditionellen Versammlungsort von Linken und Gewerkschaftern. Man staunt über die vielen Böller, die dort von Gewerkschaftern gezündet werden. Die Basisgewerkschaft Sud Rail ist mit einem großen Transparent vertreten, auf dem zum unbefristeten Generalstreik aufgerufen wird. Der Slogan »grève reconductible« wird auf dem Weg durch die Pariser Innenstadt ständig skandiert. Manche Passanten stimmen mit ein und heben die Faust zum Gruß. Aber es gibt auch viele, die kaum einen Blick auf die Arbeiterdemonstranten werfen und schnell in den Einkaufszentren verschwinden. Übersehen und überhört werden kann die Demonstration nicht. Immer wieder werden Böller geworfen und die Leuchtfackeln vieler Demonstrationsteilnehmer erzeugen viel roten Nebel.
Neben den sozialen Protesten gehört für viele Gewerkschafter antifaschistische Arbeit nicht erst seit dem Erfolg des Front National bei der Europawahl auf die politische Tagesordnung. Sebastian von Sud Rail breitet ein aktuelles Flugblatt aus, das er mit seinen Kollegen an den Arbeitsplätzen, aber auch in den Briefkästen der Stadtteile verteilt, in denen viele Arbeiter und Menschen mit geringem Einkommen wohnen. Gerade in diesen Bezirken haben die Rechtspopulisten bei den Wahlen viele Stimmen gewonnen. Im Flugblatt wird unter den Stichworten Ungleichheit, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie, hysterischer Sicherheitsdiskurs, Nationalismus und Rassismus die Gefahr der Rechten aufgezeigt und für einen offensiven gewerkschaftlichen Antifaschismus geworben. Der Aufstieg der Ultrarechten, ebenso wie die staatlichen Angriffe auf erkämpfte Errungenschaften, etwa die 35-Stunden-Woche, machen aber auch deutlich, dass die Zeiten für eine offensive Gewerkschaftspolitik auch in Frankreich schwieriger geworden sind. Die Parole »Sprechen wir mit den Bossen Französisch« wird heute auch kämpferischen Gewerkschaftern in Deutschland nicht mehr so leicht über die Lippen gehen wie vor 20 Jahren. Aber die Tour de France machte auch deutlich, dass die Tradition des kämpferischen, aufständischen Frankreichs heute nicht nur im Renault-Museum ausgestellt ist.