Tom Holert im Gespräch über die Hürden der Kunstkritik

»Man traut der Kunst vielleicht zu viel zu«

Die Kunstkritik unterhält eine ambivalente Beziehung zu ihrem Gegenstand. Sie versucht einerseits eine Reflexion, was Distanz gegenüber ihrem Objekt voraussetzt, ist aber zugleich produktionsästhetisch, institutionell und diskursiv mit ihrem Gegenstand verbunden. Ein Gespräch mit dem Berliner Kunsttheoretiker und Künstler Tom Holert.

In Ihrem Essayband »Übergriffe« beschreiben Sie die Kunst der Gegenwart als permanente Neuordnung von Zuständigkeiten. Welche Veränderungen in der zeitgenössischen bildenden Kunst sehen Sie?
Der Gegenstand »Gegenwartskunst« lässt sich auf sehr unterschiedliche Weise begreifen. Interessanterweise ist die Identifikation mit »Gegenwartskunst« in der Regel gebrochen, besonders bei denjenigen, die sich als in sie verwickelt und verstrickt erleben, so auch bei mir. Ein bestimmender Zug der Entwicklung der gegenwärtigen bildenden Kunst – als einem Feld der gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüsse, aber auch als einer Ansammlung von Praktiken und Formen – ist ihre immer stärkere Verflechtung mit Elementen der Finanzindustrie. Der Kunstmarkt, in seiner Ausdehnung, die nicht nur von kommerziellen Galerien zu großen Auktionshäusern reicht, sondern auch die öffentlichen Institutionen als Akteure mit einschließt, ist zu einer neoliberalen Freihandelszone par excellence geworden. Auch wenn auf die Ware Kunst Steuern und Zölle erhoben werden, so dient sie doch in immer größerem Maß mehr oder weniger offensichtlichen Geldwäschezwecken. Das ist zwar in der Tendenz keine ganz neue Entwicklung, aber die zusätzliche Wucht, mit der das Denken in Investitionen, Renditen, Ratings und Rankings auf das Feld der Kunst in den letzten circa sechs, sieben Jahren getroffen ist, die ist bemerkenswert und beängstigend. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, von dieser Dimension überhaupt abzusehen, will man sich sinnvoll zur Gegenwartskunst äußern.
Wie gehen Sie selbst mit der Finanzialisierung des künstlerischen Feldes um?
Ich beharre als Kritiker wie als Künstler schon darauf, dass es auch noch andere als finanzialisierte Informationen und Erfahrungen gibt, die sich der ästhetischen Produktion und Rezeption verdanken. Generell kann man sagen, dass sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten der Bedingungsrahmen, in dem Kunst gemacht und über Kunst nachgedacht wird, entscheidend verändert hat – von der Ausbildung von Künstlerinnen und Künstlern an Hochschulen über den Triumph der Figur der Kuratorin und des Kurators, die Digitalisierung der Kunstkommunikation und -produktion, bis zur Entstehung neuer institutioneller Zusammenhänge wie der globalen Biennalen oder ebenfalls global vernetzten mehr oder weniger unabhängigen, kuratierten Kunsträume. Die internationale Ausdifferenzierung allein der etablierten und Off-Kunstszenen in Berlin, zwischen Schöneberg, Mitte, Kreuzberg und Neukölln, spricht hier Bände. Die sich verändernde Form der Infrastruktur und der Subjektivierungsmodelle, die sich unter den Begriff »Gegenwartskunst« fassen lassen, spiegelt sich dabei in den veränderten Formen der künstlerischen Werke und Praktiken ebenso wie in den Reflexions- und Erfahrungsweisen der Leute.
Sie beschäftigen sich vor allem mit Künstlern und Künstlerinnen, die der Medienkunst zuzuordnen sind. Was ist Ihr Interesse daran?
Mein Interesse an Künstlerinnen und Künstlern, die konzeptuell mit Fotografie und Film arbeiten, hat eher mit einer Neugier darauf zu tun, wie die künstlerische Kritik der technischen Bilder verstärkt seit den sechziger Jahren, seit Pop-Art, Undergroundfilm, früher Videokunst und der beginnenden Dekonstruktion der Fotografie, eine eigene, inzwischen weitverzweigte Geschichte der Interventionen in die allgemeine visuelle Kultur geschrieben hat. Die Neubewertung von Bildern und Visualität für die Theorie von Gesellschaft und Politik setzte früher ein als die akademische bildwissenschaftliche Wende vom Anfang der neunziger Jahre. Pop-Art-Theoretiker wie Lawrence Alloway oder die kunstpädagogische Schule der »visuellen Kommunikation« betrieben ihre Forschungen an populären und anderen Bildern schon einige Jahrzehnte zuvor, parallel zu – und im Austausch mit – den entsprechenden medienreflexiven Entwicklungen in der bildenden Kunst. Dass eine künstlerische Kritik von Ökonomien und Politiken des Bildes, von Infrastrukturen und Institutionen der visuellen Produktion immer auch eine zeitdiagnostische Dimension hat, versteht sich eigentlich von selbst. Trotzdem wird immer wieder der Vorwurf laut, eine Kunst, die sich mit den technischen und historischen Bedingungen etwa der Fotografie beschäftigt, verkenne diese Dimension formalistisch.
Was definiert zeitgenössische Kunst, und welche Rolle kommt der Kunstkritik darin zu? Geht es darum, die Behauptung von »Criticality« anhand einzelner Werke oder Praktiken zu überprüfen?
Der englische Begriff contemporary art, der mal mit »zeitgenössische Kunst«, mal mit »Gegenwartskunst« übersetzt wird, ist in den vergangenen Jahrzehnten mit einer sehr eigenen Semantik ausgestattet worden. Die Diskussion darüber, welche Aufgaben und Pflichten sich für die aktuelle bildende Kunst aus dem Bezug auf eine – welche? – Gegenwart ableiten, ist im vollen Gang. In letzter Zeit haben sich Autorinnen und Autoren wie Terry Smith, Juliane Rebentisch, Peter Osborne, Boris Groys und viele andere zu dieser Frage geäußert, und so kann man davon sprechen, dass sich hier ein Diskurs entwickelt, der mehr oder weniger nah an den Phänomenen auch seinen Gegenstand permanent neu definiert. Für mich ist der Begriff vor allem mit der Entgrenzung der Zuständigkeiten von Werken und Akteuren der Kunst verknüpft. Contemporary art wäre demnach die ästhetische Ver- und Bearbeitung von ökonomischen, geopolitischen, wissenschaftlichen, technologischen, subjektiven und anderen Prozessen der Entgrenzung. Im Zuge dieser Reflexion auf globale Rekonfigurierungen entstehen neue Mandate, neue Kompetenzen, neue Themen, die den Bereich der bildenden Kunst grundlegend verändern. Man traut der Kunst inzwischen sehr viel zu, manchmal vielleicht zu viel. Sie soll forschen, soziale Veränderungen anstoßen, politisch intervenieren, Bildungsaufträge erfüllen, verantwortlich handeln, immer auch verstören und irritieren.
Live-Art und Performance-Kunst sind in den vergangenen Jahren immer populärer geworden. Ist das auch eine Reaktion auf einen Überdruss an diskursiver Kunst?
Die Hinwendung zu Live-Erfahrungen, was einer zunehmenden Durchdringung der bildenden Kunst mit anderen Sparten wie Tanz und Theater gleichkommt, ist wahrscheinlich weniger einer Legitimationskrise selbstreflexiver und institutionskritischer Kunst geschuldet als einem wachsenden Interesse der anderen künstlerischen Communities am Kontext der bildenden Kunst. Die Anreize sind dabei unterschiedlich. Das können lukrativere Förderstrukturen sein, ein attraktives Theorieniveau, die Offenheit der Institutionen für publikumswirksame Angebote.
Viele der Künstlerinnen und Künstler, mit denen ich mich beschäftige, pendeln zwischen den Szenen, Medien und Traditionen – und machen dieses Pendeln zur Methode. Jeff Wall und Mark Lewis operieren in den Schwellenbereichen von Film, Malerei und Fotografie, Candice Breitz und Danica Dakic arbeiten mit Darstellern, Bühnen, Schauspielkonventionen, Sarah Pierce entwickelt ihre Projekte aus pädagogisch-dialogischen Settings heraus, die Bernadette Corporation verbindet Strategien der Modeindustrie mit situationistischen Manövern. Institutionskritische oder -reflexive Verfahren sind hier überall die Regel, gewissermaßen Bestandteil der DNA dieser Praktiken – Folge einer weitreichenden Codierung durch die politisch motivierte Konzeptkunst der siebziger Jahre. Klar, dass die Selbstverständlichkeit, mit der eine institutionskritische Haltung eingenommen wird, die Frage aufwirft, wie weit her es mit solcher »criticality« ist, wenn sich die Institutionen allenfalls erneuern und theoretisch aufrüsten, nicht aber zu tieferen Schnitten und ätzenderen Selbstbefragungen bereit sind. Man könnte sich auch die Frage stellen, ob die ästhetische Reflexivität damit nicht – dialektisch zwangsläufig – zu einer weiteren Quelle ökonomischer und gouvernementaler Optimierungsprozesse wird.
Über das Verhältnis von Kunst und Politik wird wieder neu nachgedacht. Auf der 7. Berlin-Biennale, aber auch in der Veranstaltungsreihe »Phantasma und Politik« im »Hebbel am Ufer« in Berlin, ging es um die Frage, wie Kunst in eine als krisenhaft wahrgenommene Realität eingreifen kann. Hat sich eine progressive Verwischung der Differenz zwischen Kultur und Politik erledigt?
Die Unterstellung eines erhöhten Handlungsbedarfs, zumeist gekoppelt an die Wahrnehmung seiner heillosen Verstrickung in das Projekt der Erhaltung des kapitalistischen Status quo, soll den Kunstzusammenhang unter Zugzwang setzen. Aspekte ethischer Inpflichtnahme kommen ins Spiel. Die Steigerung der Dringlichkeitsgebote gehört seit einiger Zeit zum Repertoire der Hebel, die Kuratorinnen und Kuratoren einsetzen, um der Kunst zu größerer Relevanz zu verhelfen. Bildende Kunst wird als Ort und Praxis einer maximalen Sensibilisierung für politische und soziale Krisen ausgemacht und alle künstlerischen Produktionen werden an ihrer Nähe zu diesen Krisen gemessen. Je größer die Katastrophen, desto mehr ist die Kunst gefordert, auf diese adäquat zu reagieren. Natürlich ist die Beurteilung der Angemessenheit dieser Reaktionen Ermessenssache. Kunstkritik checkt da im schlechteren Fall lediglich das Krisengespür und die sozialen Effekte von Kunst. So sehr solche Bewertungen in ästhetische Erfahrungen und kritische Urteile einfließen können, so wenig sollten sie zum alleinigen Kriterium werden. Dabei sind immer auch psychoanalytisch bedenkenswerte Umstände zu beachten, wie die erwähnte Reihe »Phantasma und Politik« herauszuarbeiten versucht. Das Begriffspaar Kunst und Politik schafft ein Feld der Übertragungen. Die Kunst wird als defizitär betrachtet, wenn ihre Politikanteile zu unauffällig sind, die Politik dagegen als unverbesserlich angesehen, wenn sie sich auf eine kunstferne Dogmatik beschränkt. Dass beide Begriffe gar nicht zwangsläufig aufeinander bezogen und Dualismen dieser Sorte grundsätzlich fragwürdig sind, fällt in den Diskussionen eher unter den Tisch. Trotzdem: In der Schnittmenge »Aktivismus« kommen die wechselseitigen Projektionen hin und wieder zur Ruhe. Von »Artivismus« kann dann die Rede sein, wenn auf ästhetische Differenz nicht gänzlich verzichtet werden soll. Dabei steuert die Gegenwartskunst, vor allem mit ihren Avantgardeabteilungen, schon lange auf ihre abstrakte Negation zu, die manchmal auch etwas konkreter wird, in einer Utopie der Nichtkunst. Die Verabschiedung der Kategorie »Kunst« zugunsten einer produktivistischen oder sonstwie utilitaristischen Praxis, wie sie nicht nur mit der vorletzten Berlin-Biennale angestrebt wurde, ist aber zugleich eine Art Drohung, mit der die bildende Kunst der Gegenwart zu Nachweisen ihrer Legitimität getrieben wird. Mit den Zumutungen und Herausforderungen von Dringlichkeitsbehauptungen überzeugend umzugehen, gehört jetzt eben auch zum Aufgabengebiet von Künstlerinnen und Künstlern.
Ähnlich wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen wird die soziale Kluft zwischen Prekär und Reich in der Kunstproduktion immer größer. Warum stößt diese Entwicklung kaum auf Gegenwehr?
Ich bin auch immer wieder überrascht darüber, wie weit die Systemtoleranz oder Duldungsstarre von Kulturproduzentinnen und -produzenten gehen kann. In der bildenden Kunst gibt es in der Tat kaum Widerstand gegen die oft ausbeuterischen, für den weitaus größten Teil der Betroffenen aber mindestens prekären Arbeitsbedingungen.
Müsste man nicht sowohl die Praktiken als auch die Reflexion über diese Praktiken stärker zum Thema der Kunst machen?
Es gibt immer wieder ein vereinzeltes Anknüpfen an vergangene Kunst-Arbeitskämpfe wie die der New Yorker Art Workers Coalition um 1970. Ich denke an die Initiative »Haben und Brauchen« in Berlin, der es ja sehr konkret um Arbeitsbedingungen von bildenden Künstlerinnen und Künstlern ging; an die »Gulf Labor«-Proteste internationaler Künstlerinnen und Künstler gegen die Zustände auf den Baustellen der großen Museumsprojekte in Abu Dhabi und Dubai; oder an die jüngsten Demonstrationen und das Manifest der intermittents, der temporär Beschäftigten im Kulturbetrieb in Frankreich, die sich gegen neoliberale Modelle der gezielten Prekarisierung richten. Grundsätzlich muss man aber festhalten, dass gerade der Bereich der bildenden Kunst mit seinen geringen Organisationsgraden und beträchtlichen Kollektivitätsphobien, mit der unglaublichen Konkurrenz im Galeriensystem, aber auch schon an den Akademien, mit seinen hohen Lebenshaltungskosten in den wenigen Städten, die sich für rasche Professionalisierung, effektive Netzwerkerei und internationale Karriere anbieten, und mit seiner einmaligen Fixierung auf spekulative Wertschöpfung das Überleben eigentlich nur denjenigen ermöglicht, die schon vermögend sind, wenn sie hier einsteigen. Der hohe Standard an Reflexivität, Geschmack, Durchsetzungsvermögen, Empfindsamkeit, Körperbewusstsein, der sich an den Hotspots und erst recht bei den Großereignissen wie der Art Basel, der Biennale in Venedig oder der Whitney Biennial in New York manifestiert und der den Magnetismus dieser Welt maßgeblich ausmacht, ist immer auch Zeichen eines Klassenkampfs von oben.

Tom Holert: Übergriffe. Zustände und Zuständigkeiten der Gegenwartskunst. Philo Fine Arts, Fundus Band 217, Hamburg 2013, 350 Seiten, 24 Euro