Der Abhörskandal des BND

Auch für Freunde ein offenes Ohr

Was die CIA kann, schafft der BND schon lange: Einiges weist darauf hin, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst das »Ausspähen unter Freunden« seit Jahrzehnten betreibt.

Na also, es geht doch. »Inzwischen ist herausgekommen, dass auch unsere eigenen Geheimdienste über ein gesundes Maß an Neugier verfügen.« Stolz und Gelassenheit entströmten dem Kommentar auf der Titelseite der Sonntagsausgabe des Tagesspiegel. Das Blatt verlieh so der deutschen Alltagsstimmung hinreichend Ausdruck, die angesichts der US-amerikanischen Spionage auf deutschem Boden und in deutschen Kommunikationsnetzen eine Revanche eingefordert hatte. »Wozu haben wir eigentlich einen Bundesnachrichtendienst?« wurde während der vergangenen Wochen und Monate in Leserbriefspalten und Internetforen gegrummelt und gebloggt.

Ja, auch »unsere eigenen Geheimdienste« können nun einiges vorweisen, sogar Hochkarätiges, etwa abgehörte Telefonate des derzeitigen US-Außenministers John Kerry und seiner Vorgängerin Hillary Clinton. Vergessen scheint die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) konsensual gestammelte moralische Empörung: »Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht!« Doch, das geht schon, schallt es nun mehrheitlich aus der deutschen Medienlandschaft. Und der Tonfall wird überraschend ehrlich. Immer wieder sei »die Kommunikation von befreundeten Politikern beim BND« gelandet, der »im weltweiten Abhörgeschäft eine Größe ist«, schrieb die Süddeutsche Zeitung – obwohl der Auslandsgeheimdienst national gekränkten Journalisten bis vor kurzem noch eher als Niete galt. Ehrlichkeit ist nun nicht nur hinsichtlich der Mittel, sondern auch hinsichtlich der Zwecke deutscher Spionage angesagt. »Ein friedliches Land wie Deutschland braucht so ein Vorgehen nicht?« fragte die Welt rhetorisch, um dann fortzufahren: »Es ist genau andersherum. Den Frieden gibt es nicht umsonst, und auch ein friedliches Land wie Deutschland muss mit seinen Geheimdiensten zu Mitteln greifen, die nicht immer privaten Moralvorstellungen entsprechen.«
Wer in der Lage ist, die Telekommunikation des Außenministeriums der führenden Weltmacht abzufischen, der kann sich augenzwinkernd in Bescheidenheit ergehen und abwinkend von einem »Beifang« reden, wo man doch einige ganz dicke Brocken im Netz hatte. Als »Beifang« bezeichnet man in der Fischerei all die interessanten Meerestiere, die neben dem eigentlichen Fangziel noch ins Netz geraten. Wird als ganz besonderer »Beifang« die legendäre Flaschenpost mit dem Lageplan einer Schatzinsel ins Boot gezogen, wird dies ein Fischer nicht an die große Glocke hängen, sondern eher bagatellisieren. »Clinton war mal wieder in ihrem Flugzeug unterwegs, in dem sie nach eigener Zählung in ihrer vierjährigen Amtszeit mehr als 2 000 Stunden verbrachte, und überflog eine Krisenregion, in der der BND die Kommunikation überwacht. So habe zur elektronischen Beute auch ein Telefonat gehört, dass Clinton aus der Maschine heraus geführt hatte«, berichtete die Süddeutsche Zeitung unaufgeregt. Demzufolge war der »Beifang« der BND-Fischer nicht mehr als die verlorene Handtasche einer zerstreuten älteren Lady mit Reise­spleen.
Während über das elektronische »Abfischen« der Kommunikation John Kerrys nur berichtet wird, dass es im vergangenen Jahr im Nahen Osten stattfand, wird Clintons Telefonat von 2012 in eine Erzählung der Rechtschaffenheit eingefügt. Der Präsident des BND, Gerhard Schindler, habe nach Lektüre der Transkription des Gesprächs, das Clinton mit dem ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan geführt haben soll, umgehend die Vernichtung der gesamten Aufnahme angeordnet. Ende 2013 habe der damalige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) die Anweisung gegeben, jede »zufällig« aufgezeichnete Kommunikation von Repräsentanten verbündeter Staaten umgehend zu vernichten.

Warum aber die ganze Aufregung, wenn schon vor Jahresfrist auf ministerielle Anordnung hin alles in Ordnung gebracht wurde? Weil ausgerechnet der aufgeflogene »CIA-Maulwurf« im BND mit der Vernichtung der Dokumente zum »Beifang« Clinton beauftragt gewesen sei und dies seinen transatlantischen Auftraggebern gemeldet habe, lautet die Antwort von Politik und Medien. Eigentlich kein Grund zur Aufregung, denn mit den US-Kollegen hätten sich die deutschen Spione gewiss über eine gegenseitige Geheimhaltung verständigen können. Und selbst wenn die Sache in einem deutschen Gerichtsverfahren gegen den »Maulwurf« zur Sprache käme, böte die deutsche Strafprozessordnung Möglichkeiten, allzu Brisantes vor der Neugier der Öffentlichkeit zu schützen. Auch das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags ist auf Geheimhaltung im Wortsinne eingeschworen und seine Mitglieder haben diese Verpflichtung bislang streng eingehalten – wenn es um deutsche Geheimdienste ging.
Die Aufregung wird verständlich, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass sich unter den 218 Geheimdokumenten, die der »Maulwurf« weiterreichte, nach Angaben der Welt auch ein »geheimes Auftragsprofil der Bundesregierung« für den BND befand. Das offizielle »Auftragsprofil« wird auf der Website des BND mit dürren Worten skizziert: »Momentan sind beispielsweise Proliferation, Internationaler Terrorismus, Staatszerfall oder Auseinandersetzungen um Ressourcen prioritäre thematische Aufklärungsziele. Bedeutende regionale Aufklärungsziele sind zurzeit unter anderem der Nahe und Mittlere Osten, Nordafrika sowie West- und Zentralasien.« Das war’s dann. Bekannt ist noch die inoffizielle Erweiterung durch die größer werdende Liste der Staaten, in denen deutsches Militär operiert. Zudem sollen im Vierjahresturnus »die Schwerpunktziele des Auslandsgeheimdienstes« neu bestimmt werden, wie der Spiegel berichtete. Daran sind der FAZ zufolge neben dem BND »unter Federführung des Kanzleramts das Außenamt, die Ministerien für Inneres, Verteidigung und Wirtschaft« beteiligt.
Den vollständigen Umfang des geheimen Auftragsprofils des BND kennen derzeit neben den deutschen Verantwortlichen – dank des fleißigen »Maulwurfs« – ihre amerikanischen Kollegen und möglicherweise niemand sonst. Es ist daher schwer zu sagen, ob die Veröffentlichung der »Aufklärungsziele« des BND in den vergangenen zwei Wochen einer amerikanischen Indiskretion oder einer deutschen Flucht nach vorn geschuldet sind. Zunächst kam heraus, dass die Türkei seit Jahren ein »prioritäres regionales Aufklärungsziel« darstellt. Zuerst wurde behauptet, Überwachungsmaßnahmen auf dem Territorium des Nato-Partners und EU-Beitrittskandidaten fänden seit 2009 statt, dann wurde ihr Beginn auf die Zeit der rot-grünen Koalition ab 1998 gelegt. Dafür sprach ihre engagierte Verteidigung durch den Bundestagsabgeordneten Jürgen Trittin (Grüne). Dieser war seinerzeit Regierungsmitglied und seine jüngste Rechtfertigung der Überwachung der Türkei – Terrorismus, Islamismus, Drogen- wie Menschenhandel und mehr – war nahezu identisch mit der von Vertretern anderer Parteien.

Doch noch bevor die mediale Reise auf den Spuren deutscher Aufklärer zunächst in Albanien endete – auch dieser Nato-Partner steht ganz oben auf der Liste des BND –, berichtete Focus, freilich zunächst ohne Quellenangabe, über einen Beschluss der Regierung der Bundesrepublik von 1976. Seinerzeit habe eine »geheime Expertenrunde« der SPD-FDP-Regierung aus Vertretern des Kanzleramtes, des Verteidigungsministeriums, des Außen- und des Wirtschaftsministeriums die bis heute andauernde Überwachung des türkischen Partnerstaats durch den BND beschlossen.
Töricht erscheint da der Glaube, der BND sei eine Ansammlung von aus dem Ruder gelaufenen skrupellosen Karrieristen, wie die CIA in patrio­tischen Hollywood-Werken mit gleichwohl kritischem Anspruch dargestellt wird. Über einen »Spionagesumpf«, der »immer tiefer« werde, phantasiert die Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping. »Der BND ist ein Staat im Staate«, sagte sie empört dem Tagesspiegel. Wie aufklärerisch – ausnahmsweise einmal nicht im Sinn des BND, sondern im philosophischen – erscheint da die Feststellung von Brigitte Fehrle, einer Redakteurin der Berliner Zeitung, in einem Kommentar für den Deutschlandfunk: »Geheimdienste sind ein Fremdkörper in der Demokratie. Und doch sind Demokratien – weit mehr als Diktaturen – auf Geheimdienste angewiesen. Mit diesem Dilemma müssen wir leben.« Wer gedacht hatte, Demokratien seien nicht nur effektiver, sondern auch moralisch höherwertig als Diktaturen, muss nun mit einem weiteren Dilemma leben.