Deutsche Opfer im deutschen Kino – der Film »Wolfs­kinder«

Die Sprache der Wölfe

Unschuld aus dem Walde: Das deutsche Kino hat die Weltkriegswaisen für sich entdeckt.

Vergiss nie, wer du bist!« Immer wieder ruft sich Hans die Mahnung der Mutter in Erinnerung, während er anno ’46 durch die Weiten des Baltikum irrt. Mutters Mantra macht auch dem Zuschauer klar, dass es hier um mehr geht als ums nackte Überleben. Die kollektive Identität steht auf dem Spiel und ein Deutscher vergisst nicht, wer er ist. Mit »Wolfskinder« kommt diese Woche einer dieser Filme in die Kinos, die ein angeblich vernachlässigtes Kapitel deutscher Geschichte behandeln wollen und dabei einmal mehr den Opfermythos bedienen. Diese deutsche Variante des Coming-of-Age-Films liegt momentan im Trend.
»Wolfskinder« ist keineswegs der einzige aktuelle Film, der junge Waisen auf einer Odyssee während des Zweiten Weltkriegs zeigt. Bereits 2012 lief der Film »Lore« der australischen Regisseurin Cate Shortland. Erzählt wurde dort die Geschichte eines 15jährigen Mädchens, das sich mit vier Geschwistern im Frühsommer 1945 vom Schwarzwald bis auf eine Nordseeinsel durchschlägt. Die Erwachsenen haben ihr den Traum vom Endsieg ausgemalt und sie hält längst noch an ihm fest, als ihre Umwelt ihn längst aufgegeben hat. Zwischen Herrenmenschenwahn und leise aufkommenden Zweifeln hin- und hergerissen, strauchelt Lore als innerlich Getriebene durch den deutschen Wald. Die junge Frau wird allerdings nicht als Opfer deutscher Ideologie, sondern als Vertreterin derselben gezeigt. Der Film fokussiert auf ihr Innenleben und ihre Persönlichkeitsentwicklung in der Extremsituation. Wenn sie in der Schlusssequenz gegen den ihr anerzogenen autoritären Charakter rebelliert, mag das ein bisschen zu optimistisch sein, das fesselnde Filmerlebnis schmälert das aber nicht.
Im April dieses Jahres kam der Film »Lauf Junge lauf« von Pepe Danquart ins Kino, der insgesamt weniger überzeugte, aber auch noch nicht die Penetranz von »Wolfskinder« hat. Zudem betreibt der Film keine Geschichtsklitterung. Seine Handlung beruht auf dem Schicksal von Yoram Fridman und wird vor dem Hintergrund schöner Landschaften und einer grausamen Erwachsenenwelt geschildert. Als Achtjähriger 1942 aus dem Warschauer Ghetto entkommen, überlebt er auf sich gestellt im besetzten Polen. Die Wildnis wird zu seinem Schutzraum, zeitweilig nehmen ihn Bauern und Partisanen auf, andere denunzieren ihn, um das auf »Judenkinder« ausgesetzte Kopfgeld zu kassieren. Der Spielfilm wird von dokumentarischen Aufnahmen gerahmt: Im Kreis seiner Familie sitzt der greise Fridman am Strand von Tel Aviv und bekräftigt: »So ist es gewesen.«
Die Idee, die Geschichte aus der Rückschau zu erzählen und durch den Erzähler beglaubigen zu lassen, ist ein kluger Schachzug. Dessen bedarf der Film allerdings auch. Denn Fridmans abenteuerliche Biographie wird derart verdichtet, dass man glaubt, einen überdrehten Actionfilm anzuschauen. Da wird ein streunender Hund binnen Sekunden gesund gepflegt, da rast der Winter im frostigen Wald schon auf den Sommer zu, Fridman verliert einen Arm, ist so gut wie tot und dann schon wieder unterwegs zum nächsten Versteck, um von dort irgendwohin zu flüchten. Immer wieder muss man sich vergegenwärtigen, dass sich das Geschehen tatsächlich so ähnlich ereignet und Fridman dieses er- und überlebt hat. Hochemotional fällt die Inszenierung aus, nicht weniger dramatisch trumpft die Filmmusik auf. Der Bildfundus entstammt dem Kostümfilm: Wie aus dem Ei gepellt erscheinen die uniformierten Nazis, vor denen sich die zerlumpten Kinder mit schmutzigen Gesichtern umso Mitleid heischender abheben. Hinzu kommen hölzernes, ungelenkes Spiel und platte Dialoge, die »Lauf Junge lauf« eine absurde Pausbäckigkeit verleihen, gerade auch, weil die kindlichen Darsteller mit all ihrem Unvermögen im Zentrum stehen. Das reicht gerade mal an »Krieg der Knöpfe« oder »Michel aus Lönneberga« heran und suggeriert ein bisschen Abenteuer inklusive Nasenbluten, aber nicht den Überlebenskampf eines verfolgten Juden. So geht das erschütternde Schicksal eines mutigen Jungen unter Pauken und Trompeten verkitschter Schönwetterfotografie und gestelztem Spiel verloren.
Dramatischer noch scheitert nun der Film »Wolfs­kinder«, nicht nur, weil er Notgemeinschaft mit Volksgemeinschaft verwechselt. Der Film von Rick Ostermann will explizit keine historische Analyse sein, sondern durch emotionale Erschütterung auf die Schicksale deutscher Waisen am Weltkriegsende, die sogenannten Wolfskinder, hinweisen. Der 14jährige Hans, der sich 1946 auf der Flucht vor der Roten Armee von Ostpreußen nach Litauen durchschlägt, um dort mit seinem Bruder Fritzchen vielleicht bei ihnen gewogenen Bauern Unterschlupf zu finden, soll exemplarisch für viele Kinder stehen. Dieses Ansinnen macht die gedrechselte Handlung völlig zunichte, wenn in alle Himmelsrichtungen verstreute Protagonisten in der Weite von Wald und Flur immer wieder aufeinandertreffen. Immerhin gelingt der emotionale Moment anfangs noch, selbst wenn ein paar schlechte Kinderdarsteller und gespreiztes Auftreten auch in diesem Film nicht fehlen. Wenn die Brüder eingangs ein gestohlenes Pferd erschießen, um ein paar Fleischbrocken für die sterbende Mutter aus diesem herauszuschneiden, wird die Abgestumpftheit und die Kälte der Traumatisierten überzeugend dargestellt. Nach Minuten des Schweigens wird zum ersten Mal gesprochen, wenn die Kinder bei der Mutter ankommen. Sprachlosigkeit ist – neben verschwenderischer Naturfotografie in der Totalen – das vorherrschende stilistische Mittel: Der Fokus liegt auf den leeren wie leidenden Kindergesichtern.
Doch das stilistische Mittel wird ideologisch überfrachtet. Die selten gesprochene deutsche Sprache wird verklärt und zum einigenden Band der Kindergruppe stilisiert. Draußen lärmen die Wildnis und das slawische Kauderwelsch, aber deutsche Sprache und Herkunft schweißen die Volksgemeinschaft der Kleinen zusammen. Gewiss, hier geht es ums Durchkommen, und da klaut und jagt es sich in der Gruppe besser. Wird aber ein Russisch sprechender Junge einfach so erstickt, damit die Gruppe nicht entdeckt wird, während ein blonder, lahmer Knabe bedingungslos Hunderte Kilometer durchs Land geschleppt wird, muss das als ideologische Aufladung zum Kampf ums Dasein und den Dienst an der Volksgemeinschaft interpretiert werden. Wenn Hans dann zusätzlich immer wieder Charles Darwins »Über die Entstehung der Arten« zum Schmökern rausholt, wird alle Symbolik vollends dumpf.
»Nicht vergessen, wer wir sind« – mit der Berufung auf die guten Deutschen und der Warnung vor dem Verlust der Identität steht der Film in einer Reihe mit Produktionen wie »Unsere Mütter, unsere Väter«. Arme Deutsche, die nichts für ihr Schicksal können, werden hier präsentiert. Kein Nazi nirgends, nur deutsche Unschuldslämmer. Halt dich an deiner Herkunft fest.

»Wolfskinder« (D 2014). Regie: Rick Ostermann. Start: 28. August