Ein Feriencamp für Flüchtlingskinder in Brandenburg 

Ein kurzer Sommer

Im brandenburgischen Luckenwalde versuchen Sozialarbeiter und die sozialdemokratische Jugendorganisation Die Falken, Flüchtlingskindern einen schönen Sommer zu bereiten.

Ein unscheinbares Haus in einer unscheinbaren Straße. Auf dem Hof sitzen einige Kinder. Bis auf einen Sandkasten stehen ihnen keine Spielmöglichkeiten zur Verfügung. Die Flüchtlingsunterkunft wirkt von außen ziemlich heruntergekommen und trist. In der Eingangshalle wird man zwar in mehreren Sprachen willkommen geheißen, doch der Putz bröckelt schon von den Wänden. Eine Familie aus Tschetschenien lädt zu sich ein. Sie leben zu sechst in drei kleinen Zimmern. Für die Gäste werden eine frische Melone, Piroggen und Süßigkeiten bereitgestellt. Die erwachsenen Frauen ziehen sich, nachdem sie den Tisch reichhaltig gedeckt haben, in ein anderes Zimmer zurück.
Wir sind zu Besuch in Luckenwalde, im Asylheim Forststraße. Luckenwalde ist die Kreisstadt des Landkreises Teltow-Fläming und liegt etwa 50 Kilometer südlich von Berlin. Da die Siedlung von großen Waldgebieten umgeben war, nannte man sie auch Luch im Walde. Im späten 17. Jahrhundert siedelten sich die ersten Tuch- und Zeugmacher aus Sachsen an. Ein Jahrhundert später, nach dem großen Stadtbrand in Gera, kamen weitere Tuchmacherfamilien hinzu. Nachdem Luckenwalde Mitte des 19. Jahrhunderts an die Bahnlinie Berlin-Halle angeschlossen worden war, entwickelte sich die Stadt zu einem bedeutenden Industriezentrum in Brandenburg. Zu DDR-Zeiten behielt sie ihre Bedeutung als wichtiger Standort für das produzierende Gewerbe. Doch schon zu dieser Zeit begann die Einwohnerzahl langsam abzunehmen. Nach der Wende wurden viele Betriebe geschlossen, zahlreiche Menschen zogen weg. Derzeit leben noch knapp über 20 000 Menschen hier.
Für die zweitälteste Tochter unserer Gastgeberfamilie ist heute ein wichtiger Tag. Damit sie in drei Tagen mit der sozialdemokratischen Jugendorganisation Die Falken in ein Ferienlager fahren kann, musste sie noch eine Bestätigung besorgen, welche ihr bescheinigt, im Notfall eine medizinische Versorgung zu erhalten. Flüchtlinge in Deutschland besitzen keine Krankenkassenkarte, jeden Besuch beim Arzt müssen sie bei ihrer Heimleitung beantragen. Diese Praxis wird von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert, weil die Flüchtlinge dadurch der Willkür der me­dizinisch nicht ausgebildeten Betreuer im Heim ausgeliefert sind. Für den Fall eines mehrtägigen Ausfluges braucht Milana* eine Bescheinigung für den gesamten Zeitraum ihres Ausfluges.

Im Land Brandenburg gilt die Regelung, dass bei Klassenfahrten die Residenzpflicht aufgehoben werden muss. In dieser Zeit soll dann auch die medizinische Versorgung gewährleistet sein. Sommerferienlager sind in der Verordnung nicht explizit erwähnt. Also kommt es auf die Kulanz der jeweiligen Sachbearbeiter an. Es kann vorkommen, dass zwar eine Ausnahmegenehmigung für die Aufhebung der Residenzpflicht erteilt wird, aber keine Bestätigung für eine mögliche medizinische Versorgung. An die Teilnahme an einer Ferienfahrt ist dann nicht zu denken. Unter diesen Bedingungen wäre das Risiko einfach zu groß.
Milana strahlt über das ganze Gesicht. Die Bestätigung für sie ist rechtzeitig ausgestellt worden. Sie kann an der 14tägigen Fahrt teilnehmen. Auch die zweite Hürde, die Finanzierung eines solchen Ausflugs, ist genommen. Für die Kinderwochenenden können die Falken auf Eigenmittel zurückgreifen, die aber begrenzt sind. Für die längeren Fahrten braucht es andere Finanzierungsmöglichkeiten. Anfang des Jahres beantragte deshalb der Geschäftsführer der brandenburgischen Falken, Robert Sprinzl, beim Landkreis die Übernahme der Kosten für zehn Flüchtlingskinder aus dem Gewinnüberschuss der lokalen Sparkasse.
In Nachhinein stellte sich Sprinzl zufolge jedoch ein viel größerer Bedarf für Freizeitausflüge heraus. Es meldeten sich bei den Falken weit mehr als nur die beantragten zehn Kinder und Jugend­liche für das Sommerlager an. Um ihnen die Teilnahme zu ermöglichen, half der Geschäftsführer den Eltern bei der Beantragung von Mitteln aus dem Fonds des Jobcenters für Bildung und Teilhabe sowie zur Förderung der Teilnahmebeiträge durch das Jugendamt. Das Jobcenter fördert im Jahr mit maximal 120 Euro, womit zum Beispiel auch der Beitrag für einen Sportverein übernommen werden kann. Das Jugendamt legt dann noch den Differenzbetrag drauf. Maximal aber nur 155 Euro.
Überwiesen werden die Gelder nur auf das Konto der Eltern. Flüchtlinge können aber in der Regel kein Konto eröffnen. Das verhindert die Verschärfung des Geldwäschegesetzes aus dem Jahre 2008. Seitdem sind die Banken verpflichtet, die Identität ihrer Kunden zu prüfen. Als Dokument dafür taugt zum Beispiel ein Personalausweis. Doch die meisten Flüchtlinge besitzen keine gültigen Papiere. Letztlich zahlte das Jobcenter die Gelder per Scheck aus. Für Sprinzl ein Glücksfall. Trotz der »hohen Hürden in der Bürokratie« gelang es ihm, weit mehr als zehn Kinder und Jugendliche mitzunehmen, weil »der Landkreis versuchte, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen«.
Teltow-Fläming gehört zu jenen Landkreisen, in denen Flüchtlinge auch in Wohnungen untergebracht werden. Das örtliche Übergangswohnheim des Arbeiter-Samariter-Bundes, ein in die Jahre gekommener Plattenbau mit weiträumigem Gelände, ist nicht nur deshalb erstaunlich leer. Im Zuge einer baldigen Sanierung sollen so viele Flüchtlinge wie möglich in anderen Quartieren untergebracht werden. Vorzugsweise in Wohnungen. Durch Spenden finanziert, verfügt das Heim über ein Zimmer für Kinder sowie einen Computerraum. Letzterer ist nach einem Streit ­etwas demoliert.

Durch den Plattenbau wuselt der Hausmeister, die Mitarbeiter der Security sind nur nachts tätig, eine Gefängnisatmosphäre möchte die Heimleitung tunlichst vermeiden. An den Wänden hängen Schnappschüsse, die an gemeinsame Feste erinnern. Ein Bild überrascht: Zum Internationalen Frauentag brachte die Frauen-Union der CDU Kaffee und Kuchen vorbei. Vor dem Heim stehen unzählige Fahrräder, sie sind in Luckenwalde ein sehr beliebtes Fortbewegungsmittel. Danach gefragt, wo dringender Verbesserungsbedarf besteht, wird auf die sanitären Anlagen verwiesen. Diese sind immer ein Problem in Massenunterkünften. Die baldige Sanierung in diesem Jahr soll endlich Abhilfe schaffen.
Nordöstlich von Luckenwalde liegt Pätz, ein Ortsteil der amtsfreien Gemeinde Bestensee im Landkreis Dahme-Spreewald, keine 50 Kilometer entfernt. Als im Herbst vergangenen Jahres bekannt wurde, dass im Februar 2014 auch dort ein Übergangswohnheim für Flüchtlinge entstehen soll, ließen die Proteste nicht lange auf sich warten. Binnen weniger Tage gewann die sogenannte Bürgerinitiative »Nein zum Heim in Pätz« weit über 1 000 Unterstützer in den sozialen Netzwerken. Die Initiatoren beteuerten zwar anfangs, dass sie keiner Partei angehörten, aber unzählige Beiträge ließen das Gegenteil vermuten. Anlässlich einer Informationsveranstaltung der Kommune mobilisierten die Gegner zu einer »spontanen Kundgebung des Nationalen Widerstands«. Es sprachen die lokalen NPD-Kreistags­abgeordneten Sven Haverlandt und Frank Knuffke sowie der Landesleiter der Jungen National­demokraten, Pierre Dornbrach.
Die Kundgebung sei, so Knuffke, »nicht das Ende eines Kampfes, sondern der Auftakt«. In den sozialen Medien war zu lesen: »Brennt die Scheiße schon vorher ab!« Und: »Wo kein Haus ist, kann auch keiner wohnen!« Dem kam zwar niemand direkt nach, aber immer wieder machten Rassisten mobil. Dem brandenburgischen Informationsportal Inforiot zufolge berichten die Bewohner seit der Eröffnung des Heims über sie fotografierende Personen, Angriffsversuche und andere Einschüchterungen bis hin zu Bombendrohungen und Verfolgungsjagden. Anfang Juli kam es aus einem Auto heraus zu Böllerwürfen auf die Unterkunft.
In Luckenwalde nahm die Polizei Anfang August zwei Männer fest, denen vorgeworfen wird, im März einen Pflasterstein gegen das Fenster der Asylunterkunft in der Forststraße geworfen und ein Thermofenster zerstört zu haben. Die Polizei bestätigte gegenüber der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ) ein »politisches Motiv« für den Angriff. Im Vorjahr hatten Unbekannte einen Brandanschlag auf das Übergangswohnheim des Arbeiter-Samariter-Bundes verübt. Laut Polizei warfen sie kurz nach Mitternacht einen Brandsatz über die Torzufahrt. Dieser sei dann 20 Meter vom nächsten Gebäude entfernt auf einer Betonfläche zerborsten und habe sich entzündet. Menschen seien zu keiner Zeit in Gefahr gewesen. Eine sofort eingeleitete Fahndung blieb erfolglos.

Seit der Eröffnung des Heims vor 20 Jahren habe es noch nie einen solchen Anschlag gegeben, sagte eine Sozialarbeiterin der MAZ. »Wir leben hier friedlich mit der Bevölkerung zusammen. Unsere Bewohner gehen in Sportvereine, manche Luckenwalder bringen Geschenke. Ich hoffe, dass es keinen fremdenfeindlichen Hintergrund gibt«, äußerte sich ihre Kollegin. Auch wenn ein Jahr später die Täter noch nicht gefunden sind, Angst haben die Bewohner nicht. Anfeindungen sind in der Kreisstadt eher eine Seltenheit.
Im örtlichen Jugendclub spielen Jugendliche miteinander, egal woher sie kommen. Der von den Falken betriebene »Klub am Bahnhof« (KLAB) richtet sich nicht speziell an die Flüchtlings­kinder. »Integration durch Mitbestimmung«, so nennt Geschäftsführer Sprinzl den pädagogischen Ansatz. Alle Besucher sollen die Möglichkeiten der Kinder- und Jugendeinrichtung gleichermaßen nutzen können. Dafür müssen die Sozialarbeiter zu allererst das Vertrauen der Eltern gewinnen. Eine schwierige Aufgabe vor allem wegen der Sprachbarrieren. Des Weiteren müssen viele Ängste aus dem Weg geräumt werden, damit die zum Teil traumatisierten Eltern ihre Kinder in die Obhut der Jugendeinrichtung geben. Vertrauensvolle Gespräche der Sozialarbeiter und regelmäßiger Kontakt in die Heime sind dafür die Grundlage. Den Neuankömmlingen werden die Angebote persönlich unterbreitet, gerne auch ein zweites oder drittes Mal. Denn erst der Zugang zu den Eltern ermöglicht es den Kindern und Jugendlichen, die Freizeitangebote des Jugendclubs wahrzunehmen. Was nicht immer einfach ist, da zum Beispiel beim Ausflug ins Schwimmbad nicht nach Geschlechtern getrennt wird.
Ohne das persönliche Engagement weit über das Übliche hinaus, die finanzielle Unterstützung durch altgediente Mitglieder der Falken und die Zusammenarbeit mit dem Kreis wären viele der Angebote im KLAB nicht möglich. Seit Februar ist das Budget für Instandhaltungsmaßnahmen aufgebraucht und die Räumlichkeiten hätten etwas Farbe nötig, die Kinder und Jugendlichen haben dank der vielfältigen Möglichkeiten durch die Sozialarbeiter trotzdem ihren Spaß. »Eine größere finanzielle Unterstützung wünschen wir uns selbstverständlich«, bestätigt Geschäftsführer Sprinzl und betont im Gespräch mit der Jungle World: »Aber genauso wünschenswert wäre mehr Support aus der Zivilgesellschaft.« Nur so könne für die Kinder und Jugendlichen insgesamt ein besseres Freizeitangebot geschaffen werden.
Auf dem Zeltlager der Falken in der Nähe von Berlin tummeln sich seit Anfang August mehr als 200 Kinder und Jugendliche, unter ihnen ist ­Milana. An den ersten Tagen hatte sie noch einige Sprachprobleme im Camp, durch die Einbindung in die basisdemokratische Organisation gelang es, diese schrittweise zu überwinden. In den unterschiedlichen Zeltgruppen sollen in sogenannten Vertrauensworkshops das Selbstbewusstsein und das Selbstvertrauen der Teilnehmer gestärkt werden, um so ein Klima herzustellen, in dem sich alle Beteiligten wohl fühlen. In der benachbarten Havel wird auch gebadet, es werden Kuscheltiere gebastelt, sogar ein ganzes Dorf aus Holz wurde errichtet. Es ist Sommer. Für Milana und ihre Freundinnen ist es die schönste Zeit des Jahres.

* Name von der Redaktion geändert.