Auch im Jemen machen sich Islamisten breit

Jihadisten gegen Jihadisten

Der Jemen zerfällt, schiitische und sunnitische Islamisten erweitern ihren Machtbereich.

Als im Frühsommer eine Woge mit selbstgedrehten Videos zu Pharell Williams’ Hit »Happy« um den Globus schwappte, war darunter auch eine »Happy Yemen«-Fassung und dann kam sogar »Happy Aden« aus der südjemenitischen Hafenstadt. »Happy Yemen« vermittelt ein Bild des Landes, wie es sich die jungen Protestierenden der politischen Unruhen von 2011 wohl erträumt haben. Da kann man sogar vollverschleiert oder mit dem gezogenen traditionellen Dolch der Männer zu »Happy« ganz leger die Hüften kreisen lassen. Die Realität im Jemen sieht dagegen extrem bitter aus – und gerade droht wieder einmal ein neuerlicher Schritt zum Staatszerfall, während sich al-Qaida mit Messermassakern im Stil des »Islamischen Staats« in Erinnerung bringt. Das nächste »Kalifat«, diesmal auf dem Boden der arabischen Halbinsel, ist wohl nurmehr eine Frage der Zeit.
Die sozioökonomischen Grunddaten des Jemen sind katastrophal. Das nach Saudi Arabien mit Abstand bevölkerungsreichste Land der arabischen Halbinsel gehört zu den wirtschaftlich schwächsten Ländern der Erde – ein Umstand, der durch den prallen Reichtum der Golfstaaten und die zumindest gediegene Wohlhabenheit des benachbarten Oman nur noch zusätzlich unterstrichen wird. Nach einer neuen Schätzung der britischen Hilfsorganisation Oxfam gibt es derzeit über 28 Millionen Menschen im Nahen Osten, die humanitärer Hilfe bedürfen. Trotz des Gaza-Konflikts und der Kriege in Syrien und im Irak steht der Jemen mit etwas über 14 Millionen Betroffenen und damit der Hälfte der Gesamtzahl einsam an der Spitze. Das staatliche Budget für die geschätzten 25 Millionen Jemeniten beträgt dieses Jahr gerade einmal 14 Milliarden Dollar. Ein Drittel des Budgets wurde bisher alleine von den Benzinsubventionen verbraucht, deren Aufhebung im Juli den Anlass für die derzeitige neueste Staatskrise bot.
Mit der populären Forderung nach der Wiedereinführung der Subventionen und dem Rücktritt der Regierung strömten Tausende von bewaffneten Anhängern der schiitischen Houthi-Bewegung aus dem Nordjemen in die Hauptstadt Sanaa, errichteten Checkpoints und sammelten sich in befestigten Camps. Die offiziellen Ziele der Houthis sollen mit der Forderung nach einer neuen Expertenregierung und der Berufung auf die »Revolution« von 2011 wohl möglichst nicht sektiererisch klingen. Dazu gehörte auch der – zumindest vorläufige – Verzicht auf Gewalt.

Der Protest der Houthis schien bereits vor dem Eintreffen der Bewaffneten in Sanaa erste Früchte zu tragen: Die Regierung entsandte ein Verhandlungskomitee und bot ihren Rücktritt in wenigen Wochen an. Bisher scheint man sich in der Frage der Subventionen – deren Einschränkung notwendig ist, um internationale Kredite zu erhalten – nicht einigen zu können. Nun hat der Chef der schiitisch-zaiditischen Bewegung, Abdelmalik al-Houthi, sein Ultimatun an die Regierung um zwei Wochen verlängert. Das spricht für vehemente Bemühungen des derzeitigen Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi, mit den Houthis zu einer Einigung zu gelangen – man hat schließlich auch gemeinsame Gegner, etwa den ehemaligen Präsidenten. Die Anwesenheit von Tausenden bewaffneter Houthis in Sanaa verleiht dem Ultimatum Nachdruck, könnte aber zu weiteren Auseinandersetzungen mit der Armee, Salafisten oder politischen Gegenern führen. Ob der Ausbruch eines offenen Bürgerkrieges in Sanaa aufgehoben oder nur aufgeschoben ist, wird man also bald sehen. Die Konflikte im Jemen sind, um es noch gelinde zu formulieren, unübersichtlich.
Der ersten eindrucksvollen Machtdemonstration Tausender von Houthis in Sanaa folgten umgehend zwei weitere. Parallel zu einem erneuten Marsch von Houthis zog eine ebenso starke Gegendemonstration durch die Hauptstadt. Das war die Demonstration sunnitischer Stammeskräfte und der mit ihnen verbundenen Islah-Partei, einem Ableger der Muslimbruderschaft. Im Kampf gegen die Schiiten aus dem Norden sind nun aber auch die Salafisten mit von der Partie. Der Aufstieg der Houthis in den vergangenen Jahren ging vor allem auf Kosten dieser Fraktion.
Die Houthis konnten salafistische Bevölkerungsgruppen aus ihrem Machtbereich vertreiben, mit ihren Rivalen verbündete Stämme zum Seitenwechsel bewegen und im Juli ihren Stammesgegnern mit der Einnahme eines nur 70 Kilometer von Sanaa entfernten Provinzzentrums eine spektakuläre Niederlage beibringen. Dazu gehörte auch der Sieg über eine Armeeeinheit, die mit den Gegnern der Houthis verbündet war. Die Dynamik der Houthi-Bewegung und ihre militärische Schlagkraft kommen nicht von ungefähr. Wie intensiv der Iran hier involviert ist, bleibt umstritten, dass er aber eine Rolle spielt, ist angesichts der nach dem Vorbild der libanesischen Hizbollah aufgebauten Houthi-Organisation Ansar Allah kaum anzuzweifeln. Selbst die Slogans »Tod Israel« und »Tod Amerika« haben die Houthis brav übernommen.

Eigentlich sollte der Jemen längst auf dem Weg der Besserung sein, dafür versprachen nicht zuletzt die Botschafter der G10 Sorge zu tragen, einer aus Vertretern des UN-Sicherheitsapparates, des von den Saudis geführten Golfkooperationsrats und der EU bestehenden Gruppe. Ihre Aufgabe ist es, die Umsetzung des Übergangsabkommens von 2011 zu begleiten, das eine Neuordnung des jemenitischen Staats ermöglichen sollte. Es hat sich aber nicht viel getan. Zwar ist der zuletzt als arabischer Autokrat am längsten regierende Präsident Abdullah Saleh tatsächlich zurückgetreten, er spielt aber weiterhin eine höchst aktive und destruktive Rolle und bildet mit seinen Verbündeten neben den Houthis und der Islah-Partei einen weiteren Machtblock. Der über nahezu ein Jahr geführte »Nationale Dialog« im Jemen endete mit einer Empfehlung einer föderalen Neueinteilung des Landes. Zu einem Einvernehmen darüber oder gar zu praktischen Schritten konnten sich die diversen Konfliktparteien bisher aber nicht verständigen. Währendessen erodieren die staatlichen Institutionen immer weiter.
Sind es im Norden die schiitischen Houthis, diverse Stammeskonföderationen, Salafisten und konkurierrende Armeeeinheiten, die sich in wechselnden Konstellationen gegenüberstehen, so gibt es im Süden die auseinanderstrebenden Kräfte einer Unabhängigkeitsbewegung und von Aqap (al-Qaida auf der arabischen Halbinsel), deren militärischer Arm sich nun gerne Ansar al-Sharia nennt – also »Helfer« der Sharia, nicht zu verwechseln mit ihren Todfeinden, der Houthi-Organisation Ansar Allah, den Helfern Gottes.
Während es um die gespaltene Unabhängigkeitsbewegung nach ihrer Ablehnung des Ergebnisses des »Nationalen Dialogs« ruhiger geworden ist, macht al-Qaida alias Ansar al-Sharia von sich reden. Nachdem der entfesselte Drohnenkrieg gegen al-Qaida seit der Amtsübernahme des US-Präsidenten Barack Obama die Lage nur noch schlimmer gemacht hatte, schien im vorigen Jahr endlich ein Erfolg erzielt worden zu sein. US-Drohnenangriffe und jemenitische Spezialeinheiten konnten die Kämpfer von Aqap und andere Islamisten aus ihren bisherigen Hochburgen im Süden des Landes vertreiben – Orte, an denen sich seit 2011 bereits selbstproklamierte islamistische Terrorstaatswesen konstituiert hatten.

Doch dem offensichtlich nur taktischen Rückzug der Jihadisten folgt nun die Auferstehung an anderem Ort. Im Osten des Landes, im Hadramaut, einem langgestreckten trockenen Flusstal mit einer Reihe größerer Städte und einer sehr konservativen religiösen Bevölkerung, hat die Regierung die Kontrolle über einige Gebiete verloren. Zu einem Aufstand lokaler Gruppen seit Anfang des Jahres hat sich Ansar al-Sharia gesellt und sogleich demonstriert, dass man sich mit dem »Islamischen Staat« eng verbunden fühlt. Anfang August wurden aus einem Bus 14 nach Hause fahrende Soldaten selektiert und auf dem Marktplatz von Shibam, einem pittoresken Ort mit Lehmhochhäusern und vor Jahren noch ein fotogenes Touristenziel, mit Messern massakriert.
Die entsprechenden Videoaufnahmen stießen allerdings zum Unverständnis der Jihadisten auf breite Ablehnung im Jemen, denn diese Form des Tötens bricht die dort bisher eingehaltenen Grenzen. So floriert traditionell das Entführungsgeschäft, in der Regel wird aber dabei nicht getötet und schon gar nicht in dieser Form. Al-Qaida legte schnell ein Video nach, das fröhlich und unschuldig feiernde Jihadisten zum Abschluss der Fastenzeit präsentierte. In der Führung von Aqap bahnt sich vermutlich ein Richtungsstreit darüber an, ob und wie man sich vom »Islamischen Staat« und seinen selbst für al-Qaida-Verhältnisse extremen Methoden distanzieren sollte. Die Ansar al-Sharia im Hadramaut scheint sich jedenfalls entschieden zu haben. Man warnte per Website die Kameraden im Irak und Syrien mit Tipps schon einmal vor der Gefahr der Drohnen und angeblich kündigten Handzettel im Hadramaut bereits die baldige Errichtung eines Kalifats an. Die Zeiten sind dort nicht günstig für ein weiteres »Happy Yemen«-Video.