Josef Bäuml im Gespräch über Wohnungslosigkeit und psychische Erkrankungen

»Wir dürfen uns nicht abschrecken lassen«

Etwa 300 000 Menschen in Deutschland haben keine eigene Wohnung, 25 000 von ihnen leben auf der Straße. Eine neue Untersuchung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Münchener Klinikums rechts der Isar, die sogenannte Seewolf-Studie, zeigt, dass mehr als zwei Drittel der wohnungslosen Menschen unter psychischen Erkrankungen leiden. Die Jungle World sprach mit Professor Josef Bäuml, dem wissenschaftlichen Leiter.

Was wollten Sie mit Ihrer Studie herausfinden?
Der Name »Seewolf« ist eine Abkürzung für »Seelische Erkrankungsrate in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in München und Umgebung«. Es geht darum, zu untersuchen, wie gesund oder wie krank die Menschen sind, die in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe landen. Dazu gab es bereits 1990 eine Voruntersuchung von Professor Fichter, bei der festgestellt wurde, dass ein Großteil dieser Menschen seelisch krank ist. Das hat damals großes Aufsehen erregt, denn eigentlich hatte man erwartet, dass wohnungslose Menschen eher Lebenskünstler sind, nicht so angepasst, auf Leistungsstress pfeifen und ihr Leben individuell gestalten. Das hat sich sehr gewandelt und heute sind das weniger Menschen, die das freiwillig machen, sondern Menschen, die die Not dorthin treibt. Die Not, die Überforderung und die Hilflosigkeit.
Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Wir haben die Ergebnisse von Professor Fichter weitgehend bestätigen können. Fichter stellte damals fest, dass zwölf Prozent dieser Menschen im Laufe ihres Lebens schizophrene Erkrankungen entwickeln, in der Durchschnittsbevölkerung ist das nur ein Prozent. Etwa 40 Prozent hatten Depressionen im Gegensatz zu 10-12 Prozent der Durchschnittsbevölkerung. Der Anteil von Alkoholerkrankten lag bei über 80 Prozent, in der Durchschnittsbevölkerung liegt der Anteil bei drei bis fünf Prozent. In unserer Untersuchung waren es 14 Prozent Schizophrenie-Erkrankte, 45 Prozent mit Depressionen und 73 Prozent mit Suchterkrankungen.
Was war zuerst da, die Obdachlosigkeit oder die psychische Erkrankung?
Das ist die große Frage und genau das konnte Professor Fichter nicht beantworten, da er damals nur eine Querschnittsuntersuchung machte. Deshalb haben wir großen Wert darauf gelegt, auch eine Längsschnittuntersuchung zu machen. Dadurch erhielten wir eine ziemlich lückenlose Rekonstruktion der Lebensgeschichte. Und es kam heraus, dass bei 80 Prozent der Untersuchten die seelische Erkrankung vor oder gleichzeitig mit der Obdachlosigkeit eingetreten war. Und diejenigen, bei denen die seelische Erkrankung vorher eingetreten ist, erkrankten im Schnitt schon sechseinhalb Jahre vor Beginn der Wohnungslosigkeit.
Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Obdachlosigkeit und psychischer Erkrankung? Was ist Ursache, was ist Wirkung?
Wir haben eine ausführliche Persönlichkeitsdiagnostik gemacht, in der wir herausgefunden haben, dass der Anteil an autistisch-schizoiden Menschen – die also Schwierigkeiten haben, die üblichen Regeln der Fairness einzuhalten – bei den untersuchten Wohnungslosen deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt. Zudem haben wir den Intelligenzquotienten getestet. Dieser liegt im Durchschnitt bei 100, bei den Untersuchten lag der Durchschnittswert bei 84. Bei über 20 Prozent war der Intelligenzquotient sogar unter 70, das entspricht bereits einer geistigen Behinderung. Dieser Anteil beträgt in der Durchschnittsbevölkerung zwei Prozent. Die Kombination aus einer Veranlagung zur psychischen Erkrankung, einer Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit und einer komplizierten Grundpersönlichkeit führt meiner Ansicht nach dazu, dass diese Menschen vom therapeutischen Netz nicht erreicht werden.
Existieren signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Das haben wir nicht definitiv ausgerechnet, aber vom Trend her ist es so, dass die Frauen eher kränker sind. Die Geschlechterverteilung liegt bei 20 Prozent Frauen und 80 Prozent Männer, in der Wohnungslosigkeit sind also überwiegend Männer. Frauen sind da wohl sozial geschickter oder können sich besser im Leben halten. Aber Frauen, die das nicht mehr schaffen, sind dann besonders krank.
Was hat sich im Vergleich zur vorhergehenden Studie verändert?
Der Grad der psychischen Erkrankung hat sich kaum geändert, im Vergleich zur Studie vor 20 Jahren hat er leicht zugenommen. Die körperliche Verfassung ist jedoch besser geworden. Erstaunlich sind die Veränderungen beim Thema Übergewicht. Bei der Untersuchung von Fichter waren rund neun Prozent der Menschen übergewichtig, bei uns waren es 23,1 Prozent. In der Durchschnittsbevölkerung liegt der Anteil bei 23,6 Prozent, bezüglich dieser Wohlstandsproblematik haben die Wohnungslosen also aufgeholt.
Welche Ziele haben Sie mit der Studie verfolgt?
Das Ziel war herauszufinden, wer überhaupt in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe landet. Mein Schwerpunkt ist die Schizophrenieforschung und vor allem die Langzeitbehandlung schizophren Erkrankter. Einige Patienten entziehen sich jedoch der Behandlung und ich wollte wissen, ob sie das tun, weil es ihnen ohne uns auch ganz gut geht oder ob das vielmehr diejenigen sind, die dann ganz unten landen. Wir sind noch dabei, diese Ergebnisse komplett auszuwerten, aber einiges spricht dafür, dass uns vor allem die Schwer- und Schwerstkranken entgleiten und dann in der Wohnungslosenhilfe landen.
Konnten Sie diese Ziele durch die Studie ­erreichen?
Wir sind noch am Anfang unserer Auswertung. Wir wollen jetzt die Öffentlichkeit sensibilisieren und Basisinformationen liefern. Nicht jeder, der keine Therapie will, braucht sie auch nicht. Was mich besonders beunruhigt, ist die Tatsache, dass es meist diejenigen betrifft, die auch kognitiv eingeschränkt sind und die eine eher schwierige Grundpersönlichkeit haben. Das ist meine Kritik am sozialen System: Wenn sie in eine spezialisierte psychosomatische Klinik wollen, müssen sie vier Monate Wartezeit in Kauf nehmen und viele Aufnahmekriterien erfüllen. Wenn sie dann immer noch sagen, dass sie unbedingt in Behandlung wollen, werden sie aufgenommen. Aber die Menschen, die sagen »Nee, ich brauche keine Behandlung«, das sind häufig die eigentlich Kranken, um die sich niemand mehr kümmert.
Welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Ansicht nach aus den Ergebnissen der Studie?
Dass wir uns intensiver um die Therapievermeider kümmern müssen. Dass wir das nicht automatisch als Zeichen von Gesundheit und Autonomie auffassen dürfen und uns nicht sofort abschrecken lassen dürfen, wenn sie sagen: »Haut ab, wir brauchen euch nicht.«
Wie sieht es mit den Betreuungs- und Therapieangeboten aus, sind diese überhaupt für Obdachlose zugänglich?
Diese Menschen gibt es offiziell gar nicht. Vor ­allem jene, die alle psychiatrischen Betten am liebsten komplett abschaffen würden, wollen nichts davon hören, weil das nicht in ihr Weltbild passt. Da wird prinzipiell von einem autonomen Menschen ausgegangen, der immer weiß, was er will. Nur ist es so, dass die Krankheit die Einsicht in die Behandlungsnotwendigkeit vorübergehend verhindern kann. Meine Konsequenz wäre, dass wir in den Kliniken auf die Patienten, die besonders abwehrend und besonders krank sind, und gleichzeitig keine große Therapiemotivation haben, besonders aufpassen müssen. Die neuen Kassenkonzepte sind auf möglichst kurze Behandlungen ausgerichtet, dadurch kann man Schwerkranke und vor allem Suchtkranke nicht ausreichend gut behandeln. Mit diesem Kurz­liegerkonzept werden wir in Zukunft noch mehr Menschen bekommen, die nicht austherapiert wurden und dann abgleiten.
Wen sehen Sie da in der Verantwortung?
Die ganze Gesellschaft. Wir müssen uns in der Behandlung mehr anstrengen und mehr ambulante Krisenhilfen aufbauen. Wir müssen die Angehörigen stärken, damit die sich nicht zu schnell abgrenzen und diese Patienten fallen lassen. Denn das sind oft die letzten, die noch Zugang zu ihnen haben. Wenn auch die Angehörigen sich abwenden, dann vereinsamen diese ­Erkrankten. Wir müssen diejenigen Therapeuten, die sich um diese auf den ersten Blick oft unmotivierten Patienten besonders kümmern, besser unterstützen und entlohnen! Und wir brauchen auch intelligente und konsensfähige Konzepte, um auch jenen schwerkranken und oft nicht einsichtsfähigen Menschen helfen zu können, bei denen wir aufgrund der Rechtslage so lange warten müssen, bis »endlich« etwas passiert. Ob das wirklich eine ethisch zu rechtfertigende Haltung ist, muss gesamtgesellschaftlich diskutiert werden.